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Inhaltsverzeichnis Nick, die mit ihrem eigentlichen Namen Monika hieß, war das Nesthäkchen des Pfarrhauses, ein hageres, zartes Geschöpf, doch von lachender Frische, mit dunkeln Augen und krausen Locken, noch eckig und zehnjährig kinderhaft in ihren Bewegungen, aber in allem, was sie tat, voll heimlichen Feuers. Fragte man sie, was sie im Leben werden wolle, erwiderte sie mit nachdrücklichem Ernst: »Eine Mutter!«
An dieser Antwort war nun nichts Besonderes. Wie viele kleine Mädchen mögen so denken und reden! Das Besondere war das warme Zugreifen, mit dem Nick den mütterlichen Trieb betätigte. Wenn die Frauen des Städtchens in den sonnenheißen Reben arbeiteten, sammelte sie die kleinen Kinder im Pfarrhof und von der Höhe des Studierzimmers hatte Tappoli Gelegenheit, ihr Pflegerinnentalent zu beobachten und darüber zu lachen. Namentlich aber hatte es ihm ein Streich der Jüngsten angetan.
Jenseits der Rheinbrücke hauste eine Korberfamilie im Blachenwagen. Die Frau kam nieder und zwar mit Zwillingen. In einer Kiste, die der Mann eilig bei einem Krämer geholt hatte, ruhten die beiden Kindlein auf Stroh. Sie sehen, heimlaufen und den Leuten für die Kleinen heimlich das Kopfkissen vom eigenen Bett bringen, war bei Nick eins. Darauf aber kam das schlechte Gewissen. Nick war nun jeden Morgen die erste, die aufstand, machte ihr Bett selbst und ließ sich von der Mutter die feurigen Kohlen unverdienter Lobsprüche auf das Haupt legen. Als aber die Wäsche gewechselt wurde, kam das Verschwinden des Kissens an den Tag. Noch schwieg die Schelmin, bis die Mutter ein armes Weib, das beim Vater vorgesprochen hatte, des Diebstahls verdächtigte. Da beichtete das Kind.
Die Mutter mochte schelten, Tappoli liebte den Schlingel. Gewiß auch die andern Kinder, den Gymnasiasten Dietrich, der dann und wann über Sonntag mit Freunden aus Zürich herüberkam, und Julie, die Erstgeborene, die in der Haushaltung schon eine große Stütze der etwas kränkelnden Mutter bildete; aber er spürte, wie Nick ein seelisch tieferes Leben führte als die beiden.
Sein besonderes Wohlgefallen an der Jüngsten stammte aber noch aus einer anderen Quelle. Ihr Anblick erinnerte ihn stets an seine Vorfahren, um des Glaubens willen vor dreihundert Jahren aus ihrer Heimat vertriebene Locarnesen, die sich durch den Hochwinter der Alpen schlugen und in Zürich eine zweite Heimat fanden. Allmählich hatten sich die Tappoli verdeutscht, sich mit der Stadt aufs innigste verwachsen, ihr manchen Magistraten und Kriegsmann von Ruf, namentlich aber viele Pfarrer gestellt. Er selber liebte Zürich mit warmem Bürgerstolz, doch gefiel ihm, daß irgendein Zug im Wesen Nicks, vor allem der in alemannischen Landen ungewöhnlich feine Gesichtsschnitt, das südliche Blut der Voreltern wieder zur Erscheinung brachte. Das Krausköpfchen zu belauschen, die späte, seltene Blume aus der Stammheimat jenseits der Berge, bildete die besondere Würze seines pfarrherrlichen Stillebens.
Als Nick nun Tag um Tag zu dem seit seinem Unfall immer noch leidenden Ulrich Junghans lief, fragte er sie einmal: »Und hast du über ihm deinen Freund Gerold von Jaberg ganz vergessen?« Sie sperrte die dunkeln Augen groß auf. »Nein, ich gehe und lade ihn ein, daß er am Sonntag wieder einmal zum Tanz kommt!«
Am Sonntagabend durfte sich die Jugend im Pfarrhaus tollen. Der Pfarrer, der einen artigen Verkehr zwischen Knaben und Mädchen für ein Stück Erziehung ansah, setzte sich auf den Tisch, stellte die Beine auf das Brett eines Stuhls, blies auf der Flöte Tanzmelodien, schlug mit dem rechten Fuß den Takt dazu, und die Kinder tanzten nach Herzenslust durch die Stube. Kam Dietrich mit seinen Freunden zu Besuch und fehlte es an ein paar Mädchen, dann rief man aus dem Städtchen Unterstützung herbei, darunter Marie Junghans, die drei Jahre älter, doch nicht viel größer als Nick war. Und nun fand sich auch Gerold von Jaberg, sonst ein schüchterner und zurückhaltender Junge, der sich an seinen Vater zu klammern liebte, seit einiger Zeit in dem harmlosen Kreise heimisch.
Sein Vater, Doktor Bruno von Jaberg, mit dem er sonst auf einem Schlößchen bei Konstanz wohnte, ein reicher und feingebildeter Mann, übte im Gebiet des Oberrheins den Beruf des Altertumsforschers aus. Dabei war ihm Eglisau ein angenehmer Standort mitten in einer Gegend, in der es mancherlei Geschichtliches zu entdecken und nachzuweisen gab: keltische Grabhügel und Lager, die Spuren einer römischen Brücke über den Rhein, auch von Wachttürmen an den Ufern, altalemannische Siedlungen und Schutzwerke und mittelalterliche Reste. Deswegen nahm er, von Gerold begleitet, jeden Sommer ein paar Wochen Quartier im Städtchen. Das Volk, das für seine Forschungen nur mäßiges Verständnis zeigte, betrachtete den Gast, der in der Hand die Doppelhacke und über der Schulter die Sammlerbüchse trug, als einen vornehmen Kauz, um so mehr, weil er und seine Frau getrennt lebten, er am nahen Bodensee, sie irgendwo fern am Meer. Wer aber mit dem leichtergrauten Fünfziger, in dessen Zügen ein leises Leiden stand, näher in Berührung kam, lobte seinen menschenfreundlichen Sinn, sein Verständnis für die bäuerliche Welt, und manche behaupteten, es sei mit dem adeligen Herrn leichter als mit manchem Gemeindepräsidenten oder Säckelmeister zu verkehren. Pfarrer Tappoli hörte ihn gern von seinen Ausgrabungen erzählen, und sie verplauderten beim Wein oft eine Abendstunde miteinander.
So kam es, daß sich auch die Kinder Gerold und Nick gut kannten. Beim Tanz im Pfarrhaus wurde durch sie seine Neugier nach dem Knaben lebendig, der hatte fliegen wollen. Er wünschte ihn zu sehen, und der Vater gab seiner Bitte nach; er kaufte zur Ausrede bei Meister Junghans ein schönes Messer und fragte dann höflich nach Ulrich. Dem Schmied schwoll die Zornader auf der Stirn, am liebsten hätte er ihm geantwortet: »Was geht Sie der dumme Streich Ulis an? Er ist mein Junge!« Es lag aber etwas Zwingendes in der schlichten Vornehmheit des Käufers, und mit verdüstertem Gesicht führte der Schmied ihn und Gerold an das Lager des Leidenden. Ulrich aber sah nur den eigenen Vater, und sein Herz wallte über vor Freude, daß sich der Gekränkte endlich einmal bei ihm blicken ließ.
Jaberg, Vater und Sohn, unterhielten sich eine Weile mit ihm und erbaten sich sogar die Erlaubnis, wieder vorsprechen zu dürfen. Der stille Gerold, der an dem jugendlichen Abenteurer einen besonderen Gefallen fand, kam nun fast so häufig zu Ulrich wie die Nick, und manchmal saß das Dreiblatt stundenlang über prächtigen Knabenbüchern, die er mit sich brachte, beisammen.
Schon konnte Ulrich mit aufgebundenem Arm an einem Stock wieder um das Haus hinken. Da kam der Vater Gerolds wieder zu Meister Junghans. »Aus den Kenntnissen Ihres Sohnes«, begann er, »habe ich gemerkt, daß das Städtchen eine sehr gute Volksschule besitzt. Und da sich die beiden Knaben in ihrer Eigenart so schön ergänzen, will ich Gerold zulieb über Herbst und Winter in Eglisau bleiben, damit er hier mit Ulrich die Schule besuche. Ich selber kann ja hier gerade so gut über meiner Gelehrtenarbeit liegen wie daheim in Kreuzlingen. Was tut ein alleinstehender Alter nicht für seinen einzigen Sohn?«
Meister Junghans merkte wohl, wie viel Anerkennung für seinen Sorgenbuben in der Rede Jabergs lag, doch mißfiel sie ihm völlig. Was sollte Uli, dem er für alle Zukunft eine strenge Zucht zugedacht hatte, gleichsam als Belohnung für die Lächerlichkeit, die er über das Haus gebracht hatte, der Kamerad eines Adeligen werden? Das hieß doch nur, ihm noch mehr Mücken in den Kopf setzen und ihn verderben. Auch regte sich der republikanische Stolz des Schmieds. Wenn man wissen wollte, was von den Edelleuten zu halten ist, brauchte man nur die Schweizer Geschichte zu lesen. Wie hatten sie von jeher das Landvolk gequält! Indessen war im Wesen Jabergs etwas so Untadeliges, daß er seine Bedenken verschwieg. Er konnte es ja doch nicht verhindern, daß der Gelehrte im Städtchen blieb und der Junge die Schule besuchte! Und es handelte sich auch nur um das letzte halbe Volksschuljahr: dann gingen die Wege der Knaben von selber wieder auseinander, mußte der seine den Jungschmiedeschurz anziehen.
Zwischen Ulrich und Gerold waltete nun eine gute Knabenfreundschaft, doch nicht ohne heimliche Schmerzen für jenen.
Er merkte, daß Nick, die während der Krankheit sein Entzücken gewesen war, mehr zu Gerold als zu ihm neigte. Wenn es zwischen Knaben und Mädchen zu einer Schlacht mit Schneeballen kam, lief sie sicher in die Wurfbahn Jabergs, und wenn sie der rücksichtsvolle Junge versehentlich einmal scharf ins Gesicht traf, so heulte sie nicht, sondern lachte ihn bloß mit blitzenden Augen und weißen Zähnen an, eilte kühn auf ihn los, und er war höflich genug, sich von ihren geschwinden Mädchenhänden niederringen und von Kopf zu Fuß mit Schnee einreiben zu lassen.
Das offenbare Einverständnis zwischen den beiden nahm aber Ulrich weniger seinem Freund als Nick übel. Wie flatterhaft sind die Mädchen! Das überlegte er sich oft mit einem Seufzer, mußte sich aber selber zugestehn, daß ihn Gerold in allem übertraf, was einem Knaben in den Augen der Mädchen Wert geben konnte. Der etwas aufgeschossene Junge war einen Zoll größer als er, hatte ein feines Gesicht mit zartroten Wangen, braune, sinnige Augen und war nicht nur durch die guten Kleider, die er trug, sondern auch durch Sitte und Wohlanstand allen Knaben des Städtchens voran. Das stach Nick natürlich in die Augen.
Ulrichs eigene Vorzüge lagen an anderer Stelle: im raschen Begreifen, im eindringlichen Erfassen dessen, was ihnen der Lehrer bot. Da kam ihm der immerhin ansehnlich begabte Gerold nicht gleich, nahm vielmehr oft mit bescheidenem Lächeln seine Hilfe in Anspruch,...