Freitag, der 6. August
Sklatina (Rumänien )
Etwa 40 Kilometer westlich von Bukarest wurden gegen zweiundzwanzig Uhr die letzten Lichter gelöscht. Die Menschen in Sklatina, einem der größeren Dörfer in der Walachei, lebten neben der Arbeit in Fabriken vom Ertrag ihrer kleinen Gehöfte und standen meist vor Tagesanbruch auf.
Im Inneren einer staubigen Lagerhalle am Dorfrand hob ein kräftiger Mann eine Kiste auf die Ladefläche eines Lastwagens, schob sie nach hinten und hob die nächste hoch. Vorsichtig setzte er auch diese auf der Ladebühne ab. Sie war mit roten Sicherheitsaufklebern versehen, die ein unbefugtes Öffnen der Fracht anzeigen würden. Leichtfüßig kletterte er der Kiste hinterher, um sie auf dem schmutzigen Boden tiefer in das Innere des Fahrzeugs zu befördern. Später würde er mit einem Lappen den Fußboden säubern, denn die Geschäftspartner in Westeuropa waren anspruchsvoll.
Als das hintere Drittel des Lkw mit den Kisten gefüllt war, öffnete sich an der Seite der Lagerhalle eine Tür und er bekam Gesellschaft.
»Mach schon, Petru, wir haben keine Zeit!« Ein hagerer Mann um die sechzig betrachtete unzufrieden den Anteil der Fracht, der sich noch auf dem Boden der Lagerhalle befand. »Die Ladung wird schon in drei Tagen in Deutschland erwartet, hat Dragan gesagt. Das wird knapp!«
»Dann hilf mir gefälligst«, murrte der Angesprochene, ohne aufzublicken, denn die Arbeit in der heißen und stickigen Lagerhalle war alles andere als angenehm. Seine Militärjacke hatte er längst ausgezogen und über eine der Kisten geworfen. Dennoch schwitzte er heftig und selbst in der spärlichen Beleuchtung der Glühbirnen, die von der Decke baumelten, zeichnete sich der Achselschweiß auf seinem Hemd ab. Grund dafür war der ungewöhnlich heiße Juli, dessen Tageshitze auch am späteren Abend kaum abkühlte.
»Immer muss ich mit anpacken. Nichts können die jungen Männer alleine«, brummte der Mann unwillig, während er um den Lkw herumschlurfte. Nachdem auch er seine dünne Baumwolljacke ausgezogen und auf die Jacke des Anderen geworfen hatte, machte er sich verdrießlich an die Arbeit.
Eine der Transportkisten war an der Seite aufgerissen und gab den Blick auf die Flüssigkeit frei, die in kleinen Glasfläschchen durchsichtig schimmerte. Auf den weißen Styroporkisten war der Schriftzug Farmacie, sowie der Hinweis fragile zu lesen. In der Hosentasche des älteren Mannes klingelte ein Handy mit der Tonfolge von Material Girl.
Mainz, Boppstraße
Seit genau einer Woche schloss die Haustür nicht mehr. Der Hausbesitzer wusste davon, denn zwei Mieter hatten sich bereits beschwert und geklagt, dass sie sich in ihren Wohnungen nicht mehr sicher fühlten.
Die beiden Männer, die am späten Nachmittag den Hausflur betraten, störten sich nicht an dem defekten Schloss. Sie stiegen zum zweiten Stock des Mehrfamilienhauses in der Mainzer Neustadt hinauf, schauten auf das Namensschild neben der Tür, klingelten und warteten. Als sie Schritte hörten, zog der ältere von beiden einen Ausweis aus seiner Jacke. Er wusste, dass der Mann auf der anderen Seite der Tür sie zunächst durch den Spion betrachten würde, den jede Wohnungstür dieses Mietshauses besaß.
Der Mann hinter der Tür war klein, um die sechzig und hatte nur wenige Haare auf dem Kopf. Trotz der Sommerhitze trug er ein langärmeliges Hemd, denn er schwitzte selten. Auch nicht, als er den beiden Männern die Tür öffnete. Vielleicht hatte er seinen Wagen falsch abgestellt, seinen Parkausweis vergessen hinter die Windschutzscheibe zu legen oder es handelte sich um eine Personenidentifizierung auf einem Blitzerfoto.
»Ja bitte?«
Mit knappem Nicken traten die Männer nacheinander ein. Im Flur war es dunkel, doch sie machten keine Anstalten weiterzugehen. Der kleine Mann schloss die Wohnungstür und drehte sich zu den Besuchern um. Da nahm er den leicht süßlichen Geruch war.
Mainz, Frankenhöhe
Clara Markgraf ging in ihrem großzügig geschnittenen Bungalow von einem Zimmer zum anderen. Prüfend sah sie sich in ihrem Wohnzimmer um. Der Raum wirkte ordentlich, beinahe steril. Selbst die champagnerfarbenen Polstermöbel wiesen nicht den kleinsten Flecken auf, und selbstverständlich waren die Vorhänge frisch gewaschen. Konzentriert überprüfte Clara Raum für Raum des großzügig geschnittenen Hauses, hob einige Fussel auf, legte Zeitschriften zu den anderen oder rückte eine Vase an den richtigen Platz.
In der Küche öffnete sie den Backofen. Heißer Dampf kam ihr entgegen, und sie zuckte zurück. Mit der Gabel prüfte sie, wie lange der Auflauf, der den Geruch frischer Kräuter verströmte, noch zum Garen benötigte. Dann schloss sie die Backofentür, nahm drei Teller aus dem Küchenschrank und trug sie zum Esstisch in der Wohnzimmernische. Von hier sah man in den weitläufigen Garten, der den Bungalow umgab. Er war sorgfältig geplant. Nicht nur die Rasenflächen wurden von unzähligen Rosenstöcken gesäumt. Die üppig blühenden Pflanzen fanden sich überall verteilt auf dem Grundstück. Das war kein Zufall, denn Rosen waren zu Claras Leidenschaft geworden. Schon zu Beginn ihrer Ausbildung zur Landschaftsarchitektin war sie von diesen wundervollen Pflanzen fasziniert gewesen. Und sie hatte alles über Rosen gelesen, was ihr in die Hände gefallen war. So hatte sie erfahren, dass Paläobotaniker ihre Fossile an der Ostsee gefunden und diese auf eine Zeit vor 70 Millionen Jahren datiert hatten. Oder, dass die Rosa alba oder die Rosa gallica schon zu Zeiten der Kreuzritter als Handelsobjekte auf arabischen Märkten getauscht wurden - gegen Safran, Weihrauch, Seidenstoffe oder kostbare Edelsteine. Aber besonders beeindruckte Clara die Fähigkeit des Rosenstocks, sämtlichen klimatischen Widrigkeiten zu trotzen, um selbst nach Jahren extremer Dürre neue Triebe auszubilden und zu blühen, als sei nichts geschehen.
Versonnen betrachtete sie eine La France, die Jean-Baptiste Guillot 1867 gezüchtet hatte. Bereits im Juni blühte sie mit rosafarbener Blütenpracht und verströmte einen Duft, der einen schwindelig werden ließ. Was hatte sie nicht alles vorgehabt, mit Rosen, Gärten oder Parkanlagen? Nun war daraus lediglich die Gestaltung des eigenen Gartens geworden. Ihr Blick folgte dem Kiesweg, der um die Rasenfläche herum zu einer kleinen Laube führte. Neben den Weg hatte sie lachsfarbene Rosen zwischen üppige Stauden von blauem Fingerhut gesetzt. Weiter hinten verschwand die Gartenlaube unter der weißen Pracht der Neige d´ Avril, sodass man den Eindruck haben musste, dass der Winter sich verlaufen hatte.
Ein Geräusch auf der Straße ließ Clara zusammenzucken. Rasch stellte sie die Teller auf dem Tisch ab, nachdem sie diese auf Sprünge oder abgestoßene Ecken überprüft hatte. Als Clara in die Küche lief, um das Besteck zu holen, hörte sie ein anderes Geräusch; ein dumpf grollendes Motorengeräusch. Augenblicklich begannen Claras Finger zu zucken. Nach wenigen Sekunden folgte ein grobes Zittern, das bald in eine ausladende Bewegung der ganzen Hand überging. Sie wusste, ihr blieb nicht viel Zeit, um das braune Glasfläschchen aus dem Küchenschrank zu nehmen, das versteckt hinter Gewürzen stand. Eilig drehte Clara den Verschluss auf, sorgsam darauf bedacht, das Fläschchen nicht durch die zittrigen Finger gleiten zu lassen. Sie ließ drei Tropfen der bitteren Flüssigkeit auf ihre Zunge tropfen und stellte das Fläschchen zurück an seinen Platz. Aus dem Glas Orangensaft trank sie einen großen Schluck, dann eilte sie zur Tür.
»Norbert! Du bist heute früh.«
»Wann kommt Sven nach Hause?«, fragte Norbert Markgraf und ging nach einem flüchtigen Begrüßungskuss an seiner Frau vorbei ins Wohnzimmer.
»Er ist noch beim Fußballtraining«, beeilte sich Clara mit der Antwort, dann lief sie in die Küche.
Warum sie nur immer in Eile war? Kopfschüttelnd schaute Norbert Markgraf seiner Frau hinterher. Dann zog er sein Jackett aus, öffnete den Einbauschrank mit der Bar und nahm ein Glas heraus. Zufrieden betrachtete er das Etikett des Royal Lochnagar Malt Whisky, der nicht nur 12 Jahre in Eichenfässern gereift war, sondern sogar aus einer Destillerie in der Nähe des Schloss Balmoral kam. Der erste Schluck war der Beginn seines wohlverdienten Feierabends, und Norbert Markgraf behielt ihn im Mund, bis er spürte, wie das rauchige Aroma seinen Gaumen benetzte und eine angenehme Wärme hinterließ. Er hielt das Glas ins Licht: Goldbraun schimmerte der Whisky durch den Facettenschliff des Bechers, wie ein Rauchtopas. Sehr schön! Norbert Markgraf entschied, dass er zufrieden sein konnte. Beruflich konnte es nicht besser laufen; nach dem BWL-Studium und dem Aufbaustudium Gesundheits-Ökonomie hatte er sich mit widerstandsfähiger Zielstrebigkeit eine Führungsposition erarbeitet und war damit weitaus höher emporgestiegen, als er es zu hoffen gewagt hatte. Doch während er den Rest der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in seinem Glas hin und her schwenkte, drängten andere Erinnerungen in sein Bewusstsein, hässliche Erinnerungen. Seine Hand schloss sich fester um das Glas. Mit einem Zug trank er den Rest des Whiskys und goss sich nach. Nein, dachte er, die alten Zeiten waren endgültig vorbei. Sein Anzug war maßgeschneidert und die Uhr an seinem Handgelenk war für die meisten Menschen unerschwinglich.
Nachdem er von dem zweiten Glas getrunken hatte, stellte er die Whiskyflasche an ihren Platz zurück und schloss die Schranktür. Ich habe alles richtig gemacht, überlegte er und sah sich im Wohnzimmer um. An und für sich entsprach...