Schweitzer Fachinformationen
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FRANCES RUFT an einem Tag Ende April an und fragt, ob sie nächste Woche vorbeikommen dürfe. Sie sagt das so - vorbeikommen -, als ginge es darum, an einem Nachmittag auf einen Kaffee vorbeizuschauen, obwohl sie sich auf verschiedenen Seiten des Atlantiks befinden. Sie spricht, als sei sie außer Atem, und er kann sie beinahe vor sich sehen: rote Wangen, die Haare vom Wind zerzaust, vermutlich in einer viel zu dünnen Jeansjacke. Sie hat ein billiges Flugticket nach New York ergattert und betont, dass es ein Direktflug ist, als müsste er ihr zu diesem Schnäppchen gratulieren. Er hat sie lange nicht mehr gesehen und sagt, sie sei natürlich herzlich willkommen. Er erkundigt sich, ob sie bei ihm schlafen wolle, aber sie antwortet, dass sie vorhabe, bei Freunden zu übernachten. Es wird still. Er begreift, dass sie nicht nur angerufen hat, um auf einen Kaffee vorbeizukommen.
»Es gibt etwas, worüber ich mit dir reden will«, erklärt sie.
»Aha«, sagt er. »Und worüber?«
»Mutter.«
»Frances«, sagt er, spricht aber nicht weiter, er rechnet damit, dass sie wahrnimmt, mit welchem Nachdruck er ihren Namen betont.
»Ich weiß, ich weiß«, erwidert sie. »Deshalb will ich es ja auch nicht am Telefon besprechen.«
Er hört ihrem Tonfall an, dass sie ihre Hand ein Stück vom Körper entfernt hochhält, als griffe sie nach etwas Unsichtbarem in der Luft. Er hat sich immer gefragt, ob es eine Geste ist, die sie sich als Kind in den französischen Privatschulen angewöhnt hat, sie wirkt zu ausladend, um dem kühlen Stockholmer Temperament entsprungen zu sein.
»Liegt sie im Sterben?«, fragt er sarkastisch.
»Nein.«
»Ist sie krank?«
»Nein .«
»Na also«, sagt er. »Du darfst gerne vorbeikommen, wenn du hier bist, aber ich möchte nicht über Thora sprechen.«
»Ich mache mir Sorgen um sie.«
»Sie will bestimmt nicht, dass du mit mir über sie redest.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
Obwohl Frances es nicht sehen kann, schüttelt er den Kopf. Auf dem Schreibtisch steht das aufgeklappte Notebook, aber der Bildschirm ist erloschen. Er berührt das Touchpad mit einem Finger, ein leeres Dokument taucht auf, und er betrachtet es einige Sekunden, ehe er den Bildschirm zuklappt.
»Du kennst sie doch«, sagt Frances.
»Ich kannte sie.«
Er hört ihre Atemzüge und den Verkehrslärm im Hintergrund. Er versucht, sie sich irgendwo in der Stockholmer Innenstadt vorzustellen, ist sich aber nicht mehr sicher, ob die Orte existieren oder ob sie eine Verschmelzung von Erinnerungen an eine Stadt in einem eigentümlich blauen Licht sind, wie alte Postkarten.
»Du kommst hoffentlich nicht deshalb hierher?«, fragt er.
»Nein«, antwortet sie.
»Bist du jetzt sauer auf mich?«
»Ich fliege nicht über den Atlantik, um mit dir über meine Mutter zu sprechen.«
»Okay. Gut.«
»Willst du mich immer noch sehen?«
»Ja, natürlich.«
»Man weiß nie.«
Es gefällt ihm nicht, dass sie das sagt, aber er protestiert nicht.
»Melde dich, wenn du hier bist«, sagt er, ehe sie auflegen.
*
Einige Jahre sind vergangen, seit Frances das erste Mal an seiner Tür klopfte. Er öffnete, und Frances sagte:
»Hallo.«
Und dann:
»Ich glaube, Sie kannten meinen Vater.«
Er hatte sie nicht gefragt, wer ihr Vater war. Es war nicht nötig. Er ließ sie herein.
Frances war in dem Jahr Gaststudentin. Anfangs wohnte sie bei einer von Thoras Cousinen, später zog sie in ein Wohnheim an der Upper West Side. Sie erzählte ihm, außer Thoras Cousine kenne sie niemanden in New York. Sie war einsam.
Er gewöhnte sich daran, dass Frances ein Teil seines Lebens wurde. Nachmittags nahm sie die U-Bahn zu ihm und saß in seinem Wohnzimmer oder in der Küche und lernte bis zum Abend. Sie meinte, sie könne sich bei ihm besser konzentrieren als im Wohnheim. Er gab ihr einen Schlüssel für seine Wohnung. Es gefiel ihm, von der Arbeit heimzukommen und sie auf der Couch oder am Küchentisch vorzufinden, umgeben von Lehrbüchern, Notizblöcken und Textmarkern. Abends spendierte er ihr meistens das Taxi nach Hause. Sonntags lud er sie zum Essen in ein Restaurant ein, und sie aß, als hätte sie die ganze Woche keine richtige Mahlzeit zu sich genommen. Sie stellte ihm Fragen zu August, die er zu beantworten versuchte, so gut er konnte, aber er hatte viele Jahre nicht mehr über August gesprochen und hatte das Gefühl, dass seine Antworten nicht ganz so erschöpfend waren, wie Frances gehofft hatte. Er traute sich nicht, sie nach Thora zu fragen. Aus dem, was Frances beiläufig erwähnte, erschloss er, dass Thora mit einem Franzosen verheiratet war, mit dem sie zwei Söhne hatte. Sie lebte nach wie vor in Stockholm.
Er stellte Frances seinen Freunden vor und lud sie ein, wenn er ein Essen gab. Wenn seine Freunde ihn nach Frances fragten, antwortet er ihnen ehrlich, sie sei ein Kind alter Freunde aus der Studienzeit, aber er nannte keine Details, und sie gaben sich mit seiner knappen Antwort zufrieden. Seine Freunde waren Zugezogene, mehrere von ihnen stammten aus anderen Ländern, und es war nicht üblich, einander nach dem früheren Leben zu fragen. Damals wohnte er in einer kleinen Wohnung, in der die Tischplatte des Esstischs auf wackeligen Beinen ruhte und jede Mahlzeit zu einem Balanceakt machte, aber der Freundeskreis versammelte sich gerne bei ihm, weil die Lage einen Knotenpunkt der unterschiedlichen U-Bahn-Linien aller Anwesenden bildete. Gegen Ende des Abends kletterten sie immer aus dem Fenster auf die Feuertreppe hinaus und rauchten einen Joint, während sie sich beiläufig darüber unterhielten, irgendwohin zu ziehen, wo einem die Wohnungen weniger wie Papphäuser erschienen, die auf dem besten Weg waren, auseinanderzufallen. Er verbot seinen Freunden, Frances Gras und Zigaretten anzubieten. Frances saß gern am Kopfende des Tischs und lauschte dem Klatsch seiner Freunde über ihre Kollegen und Chefs. Wenn er sie über den Tisch hinweg ansah, spürte er manchmal einen Sog in sich, es kam ihm vor, als drehte man an einem Kaleidoskop mit Bildern aus der Erinnerung, bis die Muster miteinander verschmolzen und er sich in der Fortsetzung von etwas befand, das er vor Jahren hinter sich gelassen zu haben glaubte.
Als Frances' Studienjahr endete, half er ihr beim Auszug aus dem Studierendenwohnheim. Den Kofferraum voller Reisetaschen brachte er sie zum Flughafen, und sie flog heim nach Europa. Danach glaubte er, dass alles zur Normalität zurückkehren würde, was in gewisser Weise zutraf, auch wenn sie eine neue Art von Stille in seiner Wohnung hinterließ.
Mittlerweile arbeitete sie als Journalistin. Obwohl er sie nur selten trifft, ruft sie ihn regelmäßig wegen Artikeln an, die sie schreiben wird, Artikeln, die sie schreiben will, und Artikeln, für die sie keine Abnehmer findet. Wenn sie auf Schwedisch schreibt, liest sie ihm manchmal einzelne Abschnitte vor und fragt anschließend: Ist das gutes Schwedisch? Kann man das so auf Schwedisch sagen?, was ihn über dieses dreisprachige Kind schmunzeln lässt, das mit rasender Geschwindigkeit die Sprachen wechselt, ungefähr so, als würde sie ihre Kleider von sich werfen und den neuen Pullover auf links überstreifen und es erst merken, nachdem sie schon zur Tür hinaus ist. Er antwortet ihr regelmäßig, dass er nicht der Richtige sei, um das zu beantworten, dass sie eine der wenigen sei, mit denen er noch Schwedisch spreche. Wenn sie trotzdem darauf besteht, testet er die Sätze still für sich, um Abweichungen zu entdecken, obwohl er die Unebenheiten durch falsche Präpositionen oder Bezüge nicht mehr instinktiv erfassen kann. Frances' Fragen zu beantworten ist wie der Versuch, die Beweglichkeit in einer eingeschlafenen Hand zurückzugewinnen. Er lässt sich niemals anmerken, wie schlecht er sich dabei fühlt.
Auf dem Weg zur Arbeit hatte er einmal Thora gesehen. Besser gesagt glaubte er, dass sie es war, die auf dem gegenüberliegenden U-Bahn-Steig stand: roter Mantel, offenes Haar, in ihr Handy versunken, eine Hand auf die Schultertasche gelegt. Aus den Augenwinkeln nahm er fette graue Ratten wahr, die über die Gleise rannten, während er versuchte, sie zwischen den Balken besser zu erkennen, die die beiden Bahnsteige voneinander trennten. War sie es? Ihm brach der kalte Schweiß aus, sein Herz raste in der Brust, aber der Rest seines Körpers erstarrte. Er hatte vergessen, wie es sich anfühlen konnte oder vielmehr - wie intensiv sich etwas anfühlen konnte.
Sie war es nicht.
Sie war es.
Er wartete darauf, dass sie aufschaute, er musste nur flüchtig ihr Gesicht sehen, um sich sicher zu sein. Dann donnerte der Zug in die Station, und als er weiterfuhr, war die Frau in dem roten Mantel verschwunden. In den nächsten Tagen suchte er im Menschengewimmel des Berufsverkehrs nach ihr, ließ den Blick über alle Köpfe hinweg schweifen und versuchte einen Zipfel von etwas Rotem zu entdecken, von etwas, das sein Herz ins Wanken bringen würde. Aber er sah sie nie wieder.
Auf der Straße kommt er manchmal an Menschen vorbei und schnappt Fragmente von Gesprächen auf, die auf Schwedisch geführt werden, und für einige Sekunden fragt er sich, welche Sprache das ist, ehe er erkennt, dass es seine Sprache ist. Gelegentlich sitzt er in Bars und Restaurants neben Menschen, die sich auf Schwedisch unterhalten, und lauscht ihnen still und mit ungerührter Miene. Niemand hält ihn für etwas anderes als einen...
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