KAPITEL 2
CLASSIC MEMORY - HÖHER, SCHNELLER, WEITER
Als ich sieben Jahre alt war, erwachte der Adrenalinjunkie in mir. Ich hatte angefangen, Reitstunden im Reitverein von Borås zu nehmen, und anfangs ritt ich meist auf einem Pony namens Rocka. Sie war braun, hatte eine dicke, strubbelige Mähne und wurde immer mit einem Hilfszügel geritten, der sich Thiedemannzügel nannte. Rocka war aufgeweckt und lieb, doch sie ging immer mit hoch erhobenem Kopf wie ein Strauß. Der Thiedemannzügel sorgte dafür, dass sie die Hilfen des Reiters besser annahm. Auf ihr gewöhnte man sich schnell an, Volten in den Ecken zu reiten, denn sie trabte so flink, dass man sonst leicht auf das Pony vor einem aufritt. Wir drehten eine Volte nach der anderen. Gingen die anderen Ponys fünf Kilometer in einer Reitstunde, ging sie mindestens zehn.
Rocka war ausgesprochen lebhaft, und nachdem ich meist auf ihr ritt, glaubte ich, dass sich Reiten immer so anfühlte. Man geriet auf ihr nie ins Schwitzen, und wenn sie schneller gehen sollte, genügte es, daran zu denken. Unter Umständen bekam man mal Muskelkater in den Schultern, weil sie manchmal so fest am Gebiss zerrte. Und sie war so eifrig, dass sie häufig die Lektionen bereits ausgeführt hatte, bevor die Reitlehrerin sie überhaupt zu Ende erklärt hatte. Das war ein Pferd nach meinem Geschmack!
Wenn ich mal andere Ponys ritt, die weniger Hummeln im Hintern hatten, wollte ich sie am liebsten gleich wieder gegen Rocka und ihren Eifer eintauschen. Pferde, die nur so vor Energie sprühen, sind sehr eifrig, gute Dinge zu lernen, doch genauso schnell eignen sie sich Verhaltensweisen an, die von ihren Reitern weniger geschätzt werden. Deswegen gelten solche Pferde auch oft als ungehorsam oder schwer zu reiten. Aber mir gefiel genau das - vielleicht auch, weil sie mich an mich selbst erinnerte.
Ein weiteres ungehorsames Pony, das zunächst gar nicht so lebhaft wirkte, war Classic Memory. Er war klein, schwarz und hatte eine zottelige Mähne, die zu beiden Seiten des Halses herunterhing. Er hatte eine ausgesprochen gerade Oberlinie vom Genick bis zum Hinterteil, einen kleinen Kugelbauch und kleine, zusammengekniffene Augen. Er schubberte sich immer die Schweifwurzel, sodass der obere Teil seines Schweifs einem Igel glich. Und obwohl Classic Memory den Ruf hatte, faul und allzu lebhaft zugleich zu sein, wurde er schnell zu meinem neuem Lieblingspony. Unter Anfängern war er kaum dazu zu bewegen, auch nur einen Schritt zu gehen, und erfahrenere Reiter durften von ihm erst mal eine Reihe Bocksprünge erwarten, bevor er das Gebiss aufnahm und in die falsche Richtung davonlief. Dieses Pony hatte wirklich so gar keine Lust, das zu tun, was von ihm verlangt wurde - eine Eigenschaft, die ihn eigentlich als Schulpferd disqualifizierte. Doch in meinen Augen war er das weltbeste Pferd. Ich war nicht der Geschickteste in meiner Reitschulklasse, doch auf Classic Memory fühlte ich mich ein bisschen besser als sonst. Vielleicht deshalb, weil ich ganz gut mit ihm klarkam, was hauptsächlich daran lag, dass ich keine Angst vor ihm hatte. Ich fand seine Unberechenbarkeit eher spannend. Anfangs konnte er noch ein wenig träge wirken, nur um im nächsten Augenblick auf der Stelle kehrt zu machen und in die entgegengesetzte Richtung davonzustürmen. Saß man dann immer noch auf seinem Rücken, riss er einem die Zügel aus der Hand und legte eine Vollbremsung hin, was die meisten Reiter aus dem Sattel warf. So erging es mir ebenfalls. Mehr als einmal.
Classic Memory war außerdem ein kleiner Heuchler. Solange die Reitlehrerin ihn aufmerksam beobachtete, ging er wie der Klassenbeste, doch sobald sie ihm den Rücken zuwandte, blieb er stehen und bot akrobatische Verrenkungen dar, wie man sie selten zuvor gesehen hatte. Doch nach einiger Zeit waren meine Reitkünste so weit fortgeschritten, dass ich über eine ziemlich gute Körperbeherrschung und ein gutes Timing verfügte und ihm dadurch hinreichend deutliche Hilfen geben konnte, die er verstand. Ich hatte ein Gespür dafür, wann ich in seinem Rhythmus mitgehen und mich ihm anpassen musste und in welchen Situationen ich mehr Körperspannung aufbauen musste, um deutlich zu machen, was ich wollte. Sobald er auf meine Hilfen reagierte, entspannte ich mich, um es ihm angenehm zu machen und ihn so wenig wie möglich zu beeinträchtigen. Offenbar sah er einen Sinn darin, mir Aufmerksamkeit zu schenken. Und genau darum geht es zu einem gewissen Grad bei der Kommunikation mit dem Pferd, zu wissen, wann man gegenhalten und wann man nachgeben muss.
Schließlich war meine Reitschulklasse so weit, mit Springstunden zu beginnen. Das war, wovon ich immer schon geträumt hatte. Zunächst durften wir jedoch bloß über Stangen hinwegreiten, die vielleicht zehn Zentimeter hoch waren, erst im Trab, dann im Galopp. Erst wenn man das draufhatte, durfte man über Stangen reiten, die erhöht auf sogenannten Cavalettiblöcken lagen, rechteckigen Plastikblöcken mit Vertiefungen, um die Stangen aufzulegen. Cavalettiblöcke werden häufig genutzt, wenn man noch nicht so hoch springen kann, weil sie leichter aufzubauen sind als klassische Hindernisständer.
Einmal hat Mama mich für einen Wochenendspringkurs in der Reitschule angemeldet, bei dem wir Samstag und Sonntag Unterricht hatten. Inzwischen waren wir schon bei etwas anspruchsvolleren Springaufgaben angekommen und ich durfte Classic Memory reiten, vermutlich, weil ihn sonst niemand wollte. Statt alle in einer Reihe hintereinander über die Hindernisse zu springen, sollte jeder für sich reiten, was mehr Kontrolle über das eigene Pony erforderte. Mit Classic Memory funktionierte das einwandfrei, wir schafften jeden Sprung.
Als die Springstunde am Sonntag schon fast zu Ende war und wir im Schritt durch die Reithalle ritten, ging die Reitlehrerin zu einem der Hindernisse und stellte die beiden Cavalettiblöcke hochkant auf. So wurde das Hindernis, das bisher wenig beeindruckende 40 Zentimeter hoch gewesen war, auf einmal 60 Zentimeter hoch (gefühlt einen Meter sechzig hoch). Wir alle in der Abteilung beobachteten sie dabei und warfen einander dann nervöse Blicke zu. Wer sollte wohl dieses Hindernis springen? Wir hatten alle schon einen Durchgang über den Parcours hinter uns und die Reitlehrerin meinte, die, die der Aufgabe bereits gewachsen waren, sollten sich jetzt an ein höheres Hindernis wagen. Dann leierte sie die Namen derjenigen herunter, die es ihrer Meinung nach versuchen sollten. Als Letztes sagte sie: "Ich glaube, du solltest es mit Classic Memory auch probieren, Carl."
Mir lief ein Schauder über den Rücken. Ich fühlte mich selbstsicher und verunsichert zugleich. Auf der einen Seite war das, was ich bereits alles konnte, auf der anderen Seite die Zukunft, die Weiterentwicklung und das Unendliche. Als ich schließlich an der Reihe war, ritt ich das Hindernis mit falschem Selbstvertrauen an. Genau wie am ersten Tag an der Schule blickte ich stur geradeaus. Ich sah das Hindernis immer näherkommen, die verschlissen rot-grünen Stangen, die sowohl die Höhe als auch die Herausforderung markierten - unverrückbar wie eine Mauer standen sie vor uns. Classic Memory stellte die Ohren auf und schätzte das Hindernis ab, bevor er sprang. Zwei kurze Galoppsprünge, dann Absprung. Einen winzigen Moment waren das Pony und ich ganz und gar in der Luft. Zum ersten Mal erlebte ich, wie sich Schwerelosigkeit anfühlt, während das Pferd unter mir über das Hindernis flog und die Hufe keinen Kontakt zum Boden hatten. Es war genau, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Schon während der Landung dachte ich: Das müssen wir nochmal machen.
Ich hoffte sehr, dass wir das noch ein paarmal wiederholen dürften, doch dem war nicht so. Meine Reitlehrerin fand, wir sollten den Kurs auf dem Höhepunkt beenden, und das war gerade der Höhepunkt gewesen. Was sie jedoch nicht wusste, war, dass sie ein Monster in mir erweckt hatte. Ich wollte es wieder und wieder tun. Und das bloß, um das überwältigende Gefühl noch einmal erleben zu können, etwas Neues gemeistert zu haben. Das Gefühl, sich weiterzuentwickeln. Ein klein wenig mehr zu können als im Augenblick zuvor. Und es auf Classic Memory geschafft zu haben, der nicht jedes Hindernis so selbstverständlich sprang wie Rocka, das beste Springpony des Reitvereins, machte mich besonders stolz. Selbst von den älteren Kindern aus dem Kurs bekam ich nach der Stunde anerkennende Kommentare zu hören. Schließlich hatte Classic Memory erst vor wenigen Tagen unter einem der erfahrensten Reitschüler ein viel niedrigeres Hindernis verweigert. Und jetzt war er mit einem Anfänger wie mir auf dem Rücken das Cavaletti auf der höchsten Stufe gesprungen. Das fühlte sich großartig und sehr besonders an.
Fortan wollte ich immer nur noch über die höchsten Cavalettis springen und liebte es, mich und meine Pferde selbst herauszufordern. Und ich versuche immer, mutig zu handeln, selbst wenn ich mich mal nicht danach fühle. Genau, wie Astrid Lindgren es in den Brüdern Löwenherz schreibt: "Aber es gibt Dinge, die man tun muss, sonst ist man kein Mensch, sondern nur ein Häuflein Dreck."
Wenn wir in den Sommerferien in unser Ferienhaus außerhalb von Falkenberg zogen, kam das Pferd meiner Schwester natürlich mit. Mariella war ein fuchsfarbenes New Forest Pony mit einem enormen Fetthals und kurzen Vorderbeinen und als meine Schwester zu groß für sie wurde, durfte ich sie reiten.
Auf Mariella lernten neben meinen beiden Schwestern und mir auch meine beiden jüngeren Cousinen Reiten. Geduldig ging sie Runde um Runde auf der eckigen Koppel vor unserem Sommerhaus, während wir unseren Sitz und unsere Haltung übten. Mariellas Lieblingsübung war jedoch, glaube ich, wenn wir nach der Lektion mit einer Rolle rückwärts...