Schweitzer Fachinformationen
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Wer sich mit dem Reichswirtschaftsrat beschäftigt, steht vor einem Paradox: Über kaum eine Institution der Weimarer Republik scheint so viel Klarheit zu herrschen, obwohl man von kaum einer Institution doch konkret so wenig weiß.1 Dieser Konnex soll aufgebrochen werden - nicht als Selbstzweck, um eine vermeintlich randständige, »totgeborene«2 Erfindung aus Revolutionszeiten zum archimedischen Punkt der Weimarer Politik und Wirtschaft zu stilisieren. Wohl aber soll die black-box »Reichswirtschaftsrat« geöffnet werden, um auf diesem Wege neue Einblicke in seine Bedeutung als Akteur, seine Rolle im politischen System und das spannungsreiche Verhältnis von Ökonomie und Politik in der Weimarer Republik zu erhalten. Angesichts des weitgehenden Forschungskonsenses,3 über den zwischen 1920 und 1933/34 nur »vorläufig« existierenden Reichswirtschaftsrat hinreichend informiert zu sein, bedarf die im Folgenden unternommene Untersuchung eines erhöhten Begründungsaufwandes. Ziel ist, das gängige Bild eines »im Meer der Interessen«4 dümpelnden Tankers, einer strukturell überforderten Institution mit einer dementsprechend unbedeutenden Performanz zu differenzieren. Zum Vorschein kommt so ein in mehrerlei Hinsicht hybrides5 Gebilde im Spannungsfeld von öffentlichen Erwartungen, verfassungsrechtlichen Grundsatzdiskussionen, wirtschaftlichen Interessen, politischen Konflikten und nicht zuletzt einer Vielzahl ganz handfester Probleme. All dies förderte einen bisher kaum gewürdigten institutionellen Wandlungsprozess des Reichswirtschaftsrats,6 der einerseits durch Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen Persistenz ermöglichte, andererseits aber auch einen dauerhaft prekären Status mit sich brachte. Eigentlich erklärungsbedürftig ist damit, wie der Reichswirtschaftsrat angesichts der gewaltigen ökonomischen Herausforderungen und steter politischer und sozialer Spannungen überhaupt bis zum Ende der Weimarer Republik bestehen bleiben konnte.7 Denn auch wenn er den ambitionierten, teils inkongruenten und konkurrierenden Erwartungen, die Politik und Öffentlichkeit mit dem »Räteartikel«8 der Weimarer Reichsverfassung verbanden und in der Folge mit politischem und juristischem Elan hineinlasen, nicht zu entsprechen vermochte, so scheint er doch im politischen System wie der Wirtschaftsordnung eine spezifische Funktion erfüllt und ein spezifisches Bedürfnis der Akteure bedient zu haben. Den Blick auf den bloßen output zu richten oder die empirisch ja nicht zu bestreitende Abweichung von der Verfassungsnorm als »Enttäuschung« zu werten, greift zu kurz: Denn je näher man kommt, desto farbiger wird das Bild, desto komplexer die Schattierungen und desto vielfältiger die Verbindungen, die gezogen werden können. Dieser Doppelprozess aus Annäherung im Detail - der Reichswirtschaftsrat als Akteur - und Deutung im Gesamtzusammenhang - der Reichswirtschaftsrat in Wirtschaftsordnung und politischem System der Weimarer Republik - definiert die Problemstellung, der im Folgenden systematisch nachgegangen werden soll.
Die Relevanz einer Neubetrachtung speist sich aus unterschiedlichen Quellen: Zunächst ist ganz grundsätzlich zu konstatieren, dass die etablierte (und vielfach nur graduell variierte) Annahme einer ebenso schillernden wie überforderten und rasch bedeutungslosen Institution den Blick für die Spezifik des Reichswirtschaftsrats verstellt. Damit soll nicht gegen Quellenevidenz behauptet werden, es sei alles ganz anders gewesen; vielmehr geht es darum, einige wichtige Probleme zu diskutieren, die auf Basis des gegenwärtigen Forschungsstandes nur unbefriedigend beantwortet werden können. Die im Folgenden kurz skizzierten Aspekte sollen einen Eindruck von den offenen Fragen und den hier vorgeschlagenen Wegen zu ihrer Beantwortung vermitteln:
Je näher man dem historischen Phänomen »Reichswirtschaftsrat« kommt, desto mehr drängt sich der Eindruck auf, es je nach Perspektive mit sehr unterschiedlichen Institutionen zu tun zu haben. Da ist erstens der »Reichswirtschaftsrat« der Verfassung (Art. 165 WRV), der als institutionelle Spitze einer sich über das gesamte Reichsgebiet erstreckenden Kaskade von regionalen Wirtschaftsräten fungieren und gemeinsam mit einer spiegelbildlichen Kaskade von Arbeiterräten das politisch-ökonomische Herzstück einer neuen Wirtschaftsordnung bilden sollte. Zweitens der »Vorläufige Reichswirtschaftsrat«, der 1920 im Verordnungswege ins Werk gesetzt worden war und weder auf dem in der Verfassung entworfenen »Unterbau« fußte noch, und das ist wichtiger, das ursprünglich vorgesehene Gesetzesinitiativrecht besaß.9 Sodann drittens der projektierte (und zwischen 1920 und 1926 im Verfassungsausschuss des Reichswirtschaftsrats akribisch diskutierte)10 »endgültige Reichswirtschaftsrat«, der nur auf dem Papier11 existierte und dessen Implementierung schließlich 1930 an der erforderlichen verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit im Reichstag scheiterte. Viertens ein auch danach ja noch immer »vorläufiger« Reichswirtschaftsrat, der sich in gravierend veränderten ökonomischen und politischen Umständen neu positionieren musste. Und schließlich fünftens ein Reichswirtschaftsrat, der jenseits all dieser Brüche praktisch wirkte, und den seine führenden Mitglieder selbst und durchaus ostentativ als autonomen, relevanten und notwendigen Akteur an der Schnittstelle zwischen Ökonomie und Politik, Wirtschaft und Staat, Verbänden und Parteien, Fachkreisen und Öffentlichkeit positionierten. Diese unterschiedlichen Dimensionen stehen in der Forschung, sofern sie als solche überhaupt isoliert werden, weitgehend unverbunden nebeneinander oder greifen ineinander über; was fehlt, ist ein kohärentes und mit den empirischen Beobachtungen in Einklang zu bringendes Narrativ, das den Reichswirtschaftsrat als Institution zu verstehen und seine Bedeutung für die Wirtschaftsordnung und das politische System der Weimarer Republik zu erklären vermag. Die Arbeit geht dabei von zwei Prämissen aus, die einen Perspektivwechsel begründen und eine Neuvermessung seiner Rolle initiieren können: Zum einen ist es notwendig, den Blick von der Norm auf die Praxis zu verlegen, zumal die Akteure selbst bereits in den frühen 1920er Jahren von einer Umsetzung der hypertrophen Verfassungsvorgaben Abstand genommen hatten - und dies weniger aus theoretischen Erwägungen denn als Konzession an praktische Notwendigkeiten.12 Zum anderen kann mit dem herrschenden Narrativ der Bedeutungslosigkeit oder des sukzessiven Niedergangs die wenn auch prekäre, so doch beständige Präsenz des Reichswirtschaftsrats in der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik der Weimarer Republik nicht erklärt werden. Hier ist von einem institutionellen Wandel »beyond big legislative changes«13 auszugehen, der jenseits aller theoretischer und legislativer Debatten um die gegenwärtige oder zukünftige Gestalt des Reichswirtschaftsrats sein praktisches Handeln formte, prägte und stabilisierte. Dieser Dimension ist in der Forschung bisher kaum Beachtung geschenkt worden; für ein angemessenes Verständnis seiner Rolle in der Weimarer Republik ist sie jedoch von ganz entscheidender Bedeutung.
Dass viele Fragen an die konkrete Rolle des Reichswirtschaftsrats auf Grundlage des bisherigen Forschungsstandes offengeblieben sind, kann freilich auch erklärt werden, und steht in engem Zusammenhang mit den Konjunkturen der Weimar-Forschung. Doch auch die Empirie trug dazu bei: Denn in der Tat sah sich der Reichswirtschaftsrat von Beginn an mit einem Übermaß an Erwartungen konfrontiert, die nicht nur auf ein äußerst komplexes, krisengeschütteltes Umfeld trafen, sondern zu allem Überfluss auch noch erhebliche Zielkonflikte in sich bargen. Die Bedingung der Möglichkeit des Reichswirtschaftsrats - seine Anschlussfähigkeit an die unterschiedlichsten Konzepte einer Reorganisation des Verhältnisses von Wirtschaft, Staat und Politik nach den Erfahrungen des...
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