Schweitzer Fachinformationen
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Kapitel 1Die unterschätzte Gefahr
Täglich begegnen mir Menschen, die sich Chemikalien aussetzen. Ich sehe sie beim Einkaufen, beim Spazierengehen oder im Baumarkt. Da sind die Paare, die sich für den Spaziergang noch schnell einen Coffee to go holen. Die Grüppchen im Park, die sich ihr Abendessen bequem in Pizzakartons oder Aluschalen dorthin liefern lassen. Die Menschen mit riesigen Einkaufstüten voller Fast Fashion. Meine Nachbarn, die ihre komplette Wohnung mit grauen Holzoptikvinylbelägen auslegen. Die jungen Frauen, die ihre Gesichter mit Contouring buchstäblich bemalt haben. Der Mann im Supermarkt, der nur Mikrowellenfertiggerichte und Wasser in Plastikflaschen aufs Band legt. Kinder, die an »Quetschies« nuckeln. Und so weiter.
Den allerwenigsten dürfte bewusst sein, dass Coffee-to-go-Becher oder Pizzakartons mit einer dünnen Plastikschicht überzogen sind, aus der sich besonders bei Hitze Schadstoffe lösen können. Oder dass aus vielen neuen Kleidungsstücken die Überreste der giftigen Färbemittel austreten, dass Bodenbeläge aus Kunststoffen noch Jahre später giftige Substanzen ausdünsten können, dass Kosmetika und auch in Kunststoffen abgepackte Lebensmittel problematische Chemikalien enthalten können.
Wir leben in einer Zeit, in der alle Alltagsprodukte möglichst das Leben erleichtern, Zeit sparen und pflegeleicht zu handhaben sein sollen. Das hat dazu geführt, dass Lieferdienstunternehmen so hohe Börsenkurse verbuchen wie noch nie, die Mülleimer in den Stadtparks stets von den vielen Coffee-to-go-Bechern und Pizzakartons überquellen und die Fast-Fashion-Industrie immer kürzeren Produktzyklen hinterherrennt - mit immer minderwertigeren Kleidungsstücken.
Zu unserer Zeit gehört, dass wir mit diesem Konsumverhalten nicht nur der Umwelt, sondern auch uns selbst enorm schaden. Viele Chemikalien wirken im Körper ähnlich wie Hormone und können unser endokrines System (Hormonsystem) durcheinanderbringen. Die Umwelthormone, fachsprachlich sogenannte endokrine Disruptoren, werden unter anderem für Fettleibigkeit, Diabetes, Krebs, Unfruchtbarkeit oder ADHS mitverantwortlich gemacht, die heutigen Volkskrankheiten. Bekannt ist das schon lange. »Chemie mit kastrierender Wirkung«, schrieb die Süddeutsche Zeitung bereits 1996; »Diese Sünden hat uns die Natur bis heute nicht verziehen«, titelte das SZ-Magazin im selben Jahr; »Der Fluch der Hormone«, hieß es im Stern 1997; »Sabotage an der Zukunft, Unfruchtbar durch Umweltgifte«, schrieb die Natur und Umwelt ebenfalls 1997. Passiert ist seither erschreckend wenig.
Die WHO nennt endokrine Disruptoren ein »globales Gesundheitsrisiko«. Die US-Epidemiologin und Professorin für Umweltmedizin Shanna Swan macht sie in ihrem Buch Countdown dafür verantwortlich, dass »die Lebewesen unseres Planeten in großer Gefahr« sind.
Die Kosten, die durch Krankheiten und ko¨rperliche Fehlfunktionen in Verbindung mit hormonwirksamen Stoffen entstehen, werden allein in Europa von einem ForscherInnenteam rund um den US-Forscher Leonardo Trasande auf mindestens 163 Milliarden Euro pro Jahr gescha¨tzt. Ist man den Schadstoffen ausgesetzt, kann das zu zahlreichen Erkrankungen und Funktionsstörungen beitragen - vom Beginn des Lebens im Mutterleib bis ins Alter. Die AutorInnen der Studie halten es zum Beispiel für sehr wahrscheinlich, dass Umwelthormone unter anderem für eine Minderung des IQs und für damit verbundene geistige Behinderungen verantwortlich sind, außerdem für Autismus oder Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störungen, kurz ADHS. Genauso wie für Endometriose, eine chronische Erkrankung mit Wucherungen der Gebärmutterschleimhaut außerhalb der Gebärmutterhöhle, die zu starken Schmerzen bis hin zu Unfruchtbarkeit führen kann. Die WissenschaftlerInnen machen Umwelthormone aber auch für starkes Übergewicht von Kindern und Erwachsenen sowie Diabetes verantwortlich. Auch für Entwicklungsstörungen wie Hodenhochstand bei Jungen und für Unfruchtbarkeit vermuten sie die Ursache in der zunehmenden Zahl an hormonähnlichen Chemikalien in unserer Umwelt und unserem Alltag.
Es scheint, als würde mit jeder Studie, die veröffentlicht wird, klarer: Die Umwelt und auch unsere Körper verzeihen uns die Chemiesünden nicht. Diesen Zusammenhang in jedem Einzelfall zu beweisen ist unmöglich. Doch beim Blick in die Studien der EpidemiologInnen sehen wir längst, dass Umwelthormone signifikante Auswirkungen auf unsere Gesundheit haben - was viele von uns längst am eigenen Leib spüren.
Wie verbreitet die gefährlichen Stoffe sind, zeigen bereits einige ausgewählte Studien: Bis in die letzten Winkel der Erde haben es Umwelthormone schon geschafft. Darunter leiden zum Beispiel Eisbären, die am oberen Ende der Nahrungskette stehen. In ihren Körpern konnten sich die Umweltchemikalien aus Fischen, Robben und anderen Meeresbewohnern anreichern. US-WissenschaftlerInnen wiesen in ihrem Blut Hunderte Chemikalien nach, darunter zahlreiche hormonwirksame Stoffe, die der Reproduktion und der Entwicklung schaden können.
Auch im menschlichen Körper sieht es nicht besser aus: Eine Studie der Schweizer Universität Lausanne zeigt, dass jedes zweite Schweizer Kleinkind zwischen sechs Monaten und drei Jahren Rückstände von problematischen Stoffen wie Phthalaten und Bisphenolen im Körper hat. Auch hierzulande sind diese Chemikalien weit verbreitet, und sie finden sich auch in der vulnerabelsten Gruppe: Kindern und Jugendlichen. WissenschaftlerInnen fanden im Blut und Urin von Kindern und Jugendlichen zwischen drei und 17 Jahren zahlreiche endokrine Disruptoren, zum Teil in bedenklich hohen Konzentrationen. Sie fanden unter anderem Weichmacher, als Konservierungsstoffe eingesetzte Parabene oder langlebige Polychlorierte Biphenyle (PCB). Wie sehr unsere Konsumentscheidungen beeinflussen, was man in unseren Körpern findet, zeigt Folgendes: In den Proben fast aller Teilnehmenden fand man Perfluoroctansulfonsäure (PFOS), und in 86 Prozent der Proben fand man auch Perfluoroctansäure (PFOA). Chemikalien wie PFOS und PFOA werden zum Beispiel zum Beschichten von Einweg-Kaffeebechern oder Bratpfannen, für Regenkleidung oder Zeltausrüstung genutzt. Produkte also, die sich in fast jedem Haushalt finden. Dabei lagen die Werte in rund einem Fünftel der Proben so hoch, dass eine gesundheitliche Beeinträchtigung selbst bei der isolierten Betrachtung der einzelnen Substanz nicht auszuschließen ist. Tatsächlich aber befinden sich in unseren Körpern viele verschiedene Schadstoffe, die auch miteinander interagieren können.
Wie gelangen Umwelthormone in unsere Körper?
Dass man bei Untersuchungen so viele verschiedene Schadstoffe in uns Lebewesen findet, ist wenig verwunderlich. Denn Umwelthormone können über die Luft, über die Nahrung und über die Haut aufgenommen werden. Wir verbauen sie seit vielen Jahrzehnten in unseren Wohnungen und Häusern, atmen sie ein, cremen uns mit ihnen ein, essen und trinken sie. Die hormonähnlichen Stoffe lösen sich zum Beispiel aus Plastikverpackungen und -flaschen und gehen in unsere Nahrungsmittel über. Sie finden sich überall, vom Käse bis hin zum Wasser. Sie sind Kosmetika zugesetzt, um sie haltbarer zu machen oder um sie billiger produzieren zu können, sie entweichen aus Kaltschaummatratzen oder PVC-Fußbodenbelägen, sie sind in Feinstaub und Pestiziden enthalten, auch in Lacken und Farben, und sogar in Kinderspielzeug stecken sie.
Ich frage mich: Würden die Menschen weiterhin so viel Plastik einkaufen, PVC verlegen, Chemiekeulenputzmittel nutzen und Fast Fashion kaufen, wenn sie wüssten, dass sie sich und ihren Familien damit schaden können? Für all diejenigen, die an der Aufklärung interessiert sind und die bereit sind, ihr Konsumverhalten zu verändern, habe ich dieses Buch geschrieben. Denn WissenschaftlerInnen und VerbraucherschützerInnen rufen schon seit vielen Jahren dazu auf, diese problematischen Stoffe zu vermeiden. Das dänische Umweltministerium etwa warnt Frauen, die schwanger werden wollen oder schwanger sind, explizit vor all diesen Alltagschemikalien. In einer Broschüre des Ministeriums heißt es, dass Chemikalien uns zwar das Leben leichter machen würden, viele durch ihre endokrine Wirkung oder als Allergene aber besonders gefährlich für Babys seien. Um die Stoffe zu vermeiden, so heißt es, sollten Frauen beispielsweise darauf verzichten, sich während der Schwangerschaft die Haare zu tönen. Zudem sollten sie so wenig wie möglich Parfum nutzen und Produkte aus PVC vermeiden.
Das ist ein guter Anfang, nach meiner rund 24-monatigen Recherche weiß ich aber: Um die Stoffe konsequent zu vermeiden, reicht das längst nicht aus. Dabei ist der erste Schritt der schwierigste, denn man muss die Umwelthormone erst mal im eigenen Leben und Haushalt ausfindig machen. Auf Kosmetikprodukten verbergen sie sich allenfalls hinter kryptischen chemischen Bezeichnungen. Auf Lebensmittelverpackungen, Baumaterialien oder Küchenutensilien aus Plastik müssen sie nicht mal gekennzeichnet werden.
Ich möchte Sie dabei unterstützen, potenziell schädliche Produkte auszumisten und Ihren Einkauf künftig so zusammenzustellen, dass die Chemikalienlast in Ihrem Zuhause möglichst niedrig ausfällt. Wir VerbraucherInnen sind den Stoffen nicht ohnmächtig ausgeliefert. Doch so viel kann ich gleich verraten: Mal eine Seife am Stück zu kaufen und eine Edelstahltrinkflasche zu benutzen, das wird nicht reichen, um die Umwelthormone aus Ihrem Leben zu verbannen.
Wir müssen unseren Konsum verändern - für unseren Planeten, für uns selbst und für die Generationen, die...
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