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Italien rüstete sich seit Jahren mit unzähligen Lagern aus. Seit den späten zwanziger und die ganzen dreißiger Jahre hindurch war nach und nach jede Insel des Landes, jedes einsam gelegene Dorf, jeder abgeschiedene, durch jahrzehntelange Auswanderung entvölkerte Landstrich in einen Internierungsort verwandelt worden. Der Krieg war ausgebrochen und hatte, während die Zeiten immer finsterer wurden, seine Kategorien abgesondert, eine nach der anderen: Politische Gefangene waren die Ersten gewesen, mit denen man in dieser Hinsicht Versuche unternommen hatte, später kamen dann Juden und Zigeuner hinzu. Eine bürokratische Maschinerie hatte diese abgelegenen Zonen langsam wiedergekäut und dann verdaut, um dort ihre Stützpunkte der Verbannung einzurichten.
Die Abruzzen gehörten auch dazu. Die Region war zwar so gut wie ausgeblutet und hatte den Großteil ihrer Arbeitskräfte eingebüßt, aber dafür war sie von den heftigsten Kampfhandlungen des Krieges verschont geblieben. Die Machthaber hatten verfügt, dass dort dutzende Lager einzurichten waren, die jedoch ganz verschiedene Formen annahmen. Das reichte von einzelnen Oppositionellen, die in entlegenen Dörfern gefangen gehalten wurden, bis zu unterschiedlich großen Gruppen, die unter mehr oder weniger harten Bedingungen interniert waren. In dieser Region hatten die Machthaber weniger eigens Lager errichtet als vielmehr Gebäude beschlagnahmt, deren Eigentümer dafür zum Teil Miete erhielten. So fügte sich die geruhsame Barbarei des Einsperrens in die Ordnung der Dinge ein, Mietverträge zum Beweis, und machte hier einen Hoteleigentümer reich, dort den Besitzer einer nicht ausgelasteten Fabrik. So war nach 1940 sehr schnell ein bunter Strauß von privaten, ordnungsgemäß ausgehandelten Verträgen geschlossen worden, um in den Abruzzen ein Netz von Lagern einzurichten.
Diese Erde gehörte einem Volk von Bauern, das der vorangegangene Krieg zugrunde gerichtet hatte, das aber später eines der ersten sein sollte, das sich erhob, sobald Mussolini ins Wanken geriete. Wenn später der gewaltsame Krieg wieder einsetzen würde, würde dieses Volk Blut auf seine Erde fließen sehen, dieses Volk, dessen Schweigen die Machthaber in Rom mit Fügsamkeit verwechselten, hatte direkt vor Ort einen heftigen Schlag versetzt bekommen, indem sein Lebensraum mit Lagern übersät wurde, die wie Stichwunden waren. Während das Land wieder und wieder aufgeritzt wurde, hatten Worte von Dorf zu Dorf die Runde gemacht, und jedes neue Lager ließ die bereits existierenden ein wenig alltäglicher erscheinen. Es war in anderer Form die Fortsetzung einer um sich greifenden Entwicklung, in deren Zuge auch schon andere Schandflecken entstanden waren, nämlich die lokalen faschistischen Zellen. Aber dieser Landstrich bot für so etwas keinen guten Nährboden. Die Leute hatten erlebt, wie Menschen massenweise auswanderten, wie die Industrialisierung chaotisch voranschritt. Die landwirtschaftlich geprägte Gegend erfuhr, wie es ist, wenn es nicht mehr genug Hände für die Arbeit auf den Feldern gibt. In den Mauern dieser Dörfer lebten Frauen, die sich seit über zwanzig Jahren fragten, wie sich der Schmerz angefühlt hatte, als ihr Mann oder ihr Sohn nahe Triest von einer Granate zerfetzt worden war, in konfusen Schlachten, die in der offiziellen Geschichtsschreibung unter den Teppich gekehrt worden waren, aber die aufdringlichen Tiraden der Faschisten konnten sie nicht vollständig überdecken. Es brauchte mehr, um das Volk der Abruzzen zu beeindrucken, ein Volk, das sich in sein Schweigen zurückzog gleichsam als Hommage an seine Verstorbenen, die Abwesenden, und das sich nun auf einmal mit der Anwesenheit all jener konfrontiert sah, denen Rom misstraute, also gewissermaßen mit neuen Schatten.
Man näherte sich ihnen selten, es war nicht einfach, aber jeder wusste um ihre Anwesenheit. Von Lager zu Lager waren die Bedingungen der Gefangenschaft mal streng, mal weniger streng, und es wurde unterschiedlich sorgfältig auf die Abschottung der dort Internierten von der Außenwelt geachtet. Nur wenige Kontaktpersonen hatten die Erlaubnis, diese Lager zu betreten, Ärzte, Händler und Beamte aus der näheren Umgebung, und diese berichteten draußen von diesen Leben im Verborgenen. Anschließend wanderten die Details von Mund zu Mund, veränderten sich und trafen in jedem Einzelnen auf die Gesichter der für immer Abwesenden.
Politische Gefangene, Juden und Zigeuner also. Doch eines Tages keimte die simple und möglicherweise berauschende Idee auf, alle Chinesen Italiens, mehrere Dutzend Personen, an einem Ort zu versammeln. Sie bedrohten niemanden, aber sie waren Staatsangehörige einer feindlichen Macht, einer von so vielen. Das war ihr einziges Verbrechen, und sie wurden zu Zielscheiben. Man begann, Jagd auf sie zu machen, aber ohne besondere Überzeugung, es war nur so, dass man von einem Tag auf den anderen beschlossen hatte, dass man sie nicht unbehelligt lassen konnte. Sie waren zerstreute Punkte auf Italiens Landkarte, die bald zu einem Punkt zusammengeführt werden sollten, als würde sich eine Faust um sie schließen. Manche lebten in Genua oder in Bologna, als eigenartige, verwirrende Individuen, aber sie waren frei, frei, zu sein, zu kommen und zu gehen, unbedeutende Textilhändler, die auf der Straße Lederwaren, Krawatten oder Gürtel verkauften. Sie waren noch im Besitz ihrer Menschenwürde, jeder von ihnen trug eine Geschichte und Pläne für die Zukunft in sich, auch wenn diese in der Schockstarre ihres neuen Lebens, in der Unwirklichkeit des kalten Turiner Regens, des Ockers von Siena, verloren gegangen waren. Sie waren also bereits von ihrem Weg abgekommen, aber sie waren am Leben, und sie hatten eine Zukunft vor sich. Im Italien der Zwischenkriegszeit waren sie eine Seltenheit, schwache Repräsentanten ihrer fernen Heimat, als unwahrscheinliche Abenteurer würden sie die Erinnerungen der Kinder bevölkern, die dann später als Erwachsene von diesen seltsamen Chinesen mit ihrem lustigen Akzent erzählen würden, die laut rufend durch die Straßen liefen, um ihre »Kla-watten« zu verkaufen, mit dieser ganz besonderen Betonung, die ihnen eigen war, ein Klischee, ein verallgemeinertes Erkennungszeichen, das ihnen verpasst wurde und sie gleichmachte, und das schon damals unterschlug, was jeder von ihnen Eigenes an sich hatte. Die unterirdischen Bewegungen hatten begonnen.
Bald würden sie also aus einem Lastwagen steigen, am Dorfausgang von Isola, gegenüber der Kirche des Heiligtums Santuario di San Gabriele, einem Kloster des Passionisten-Ordens. Das Dorf Isola del Gran Sasso trug seinen Namen zu Recht: Es war wirklich eine Insel in den Abruzzen. Das Heiligtum von San Gabriele, das Lager, war der Vorposten, es kündigte das Dorf an. Direkt daneben stand eine Herberge, die denselben Namen trug. San Gabriele gehörte fast zum Dorf, aber der Fußweg zur eigentlichen Siedlung war lang genug, dass auf dem Weg dahin beim Rhythmus der eigenen Schritte Traurigkeit in einem aufsteigen konnte, also zwischen einem und zwei Kilometern, zuerst geht es nur leicht bergab, die Entfernung zu den Gebäuden des Klosters und der Herberge wächst, bald hat man sie im Rücken, dann auf Höhe des Kopfes hinter sich, man geht weiter abwärts und kommt an vereinzelten Häusern vorbei, und manchmal sieht man an einem Fenster einen alten Menschen, man hat genügend Zeit, um mit sich allein zu sein, und dann, in dem Augenblick, wenn man es wirklich ist, kommt eine Biegung und der Weg steigt leicht an, und gleich darauf stößt man auf das Dorf. Man überquert die Brücke, man hört den Fluss rauschen, und schon ist man da. Isola ist ein kleines Labyrinth aus Straßen, man spielt, man würde sich darin verlaufen, wenn man zum ersten Mal dahin kommt. Nachdem man durch die Felder gegangen ist und sich mit Landschaft und wolkenlosen Horizonten aufgeladen hat, ist der Kontrast, wenn man das Dorf betritt, überdeutlich: Man hat sofort einen Eindruck von Enge. Gleich nachdem man die Brücke überquert hat, kann man zum Beispiel durch die Porta del Torrione gehen und gelangt direkt auf die Piazza Codacchio, dort bleibt man einige Augenblicke lang stehen, man staunt und lässt sich von der Höhe der Mauern beeindrucken, das hätte man von außen nicht vermutet, dann verlässt man den Platz wieder, geht durch eine Gasse, dann durch noch eine, und schon steht man auf der Piazza San Giuseppe, und wieder sind da Straßen, und sie erinnern einen an die ersten, es hört gar nicht wieder auf, einmal kann man noch abbiegen und gelangt so auf einen dritten Platz, aber man spürt bereits, dass die Enge wieder nachlässt, dass der Wald nicht mehr weit weg ist, also macht man kehrt, geht ein paar Schritte nach links, eine neue Straße, und wieder die Illusion eines Labyrinths, aber wenn man am Ende rechts abbiegt und an der Kirche San Massimo vorbeigeht, stellt man fest, dass man diese Straße schon gesehen hat, und wirklich, schon steht man wieder vor der Porta del Torrione. In dem Augenblick streckt das Dorf, das sich alle Mühe gegeben hat, das nicht nachgegeben hat, das ein paar Minuten lang riesig gewesen ist, die Waffen und wird endgültig klein.
Im Vergleich dazu versuchte das Kloster von San Gabriele groß und mächtig zu wirken. Es thronte regelrecht über dem Tal, und wenn die Menschen, welche das Leben und die Predigten von der Kanzel herab gelehrt hatten, dass sie klein und unbedeutend waren, von weitem darauf blickten, forderte es ihnen Respekt ab. Wenn diese Menschen dann aber den Blick über die Umgebung schweifen ließen, sahen sie daneben auch den Sasso in seiner erdrückenden Massigkeit und mit seinem gezackten Gipfel. Unter diesem riesigen Gebiss büßte San Gabriele seine Überlegenheit ein. Es gab in der Gegend niemanden, der nicht um diese erlittene Niederlage im Wettstreit um Größe wusste, und...
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