Schweitzer Fachinformationen
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Die Säugetiere wurden evakuiert. Als Erste waren die Füchse in ihrem Schaukasten dran, in dem der Staub so hoch lag, dass er wie Fell wirkte. Dann kamen der Jaguar mit seinen gefletschten Zähnen, die Sammlung von Hermelinen, die der um Originalität bemühte Tierpräparator liebevoll in Pose gesetzt hatte, das Gehäuse mit dem Schnabeltier, das seines eigenartigen Äußeren wegen anfangs als Scherzattrappe durchgegangen war, der Schädel des Amerikanischen Mastodons, das man aufgrund seiner großen Nasenhöhle früher für einen Zyklopen gehalten hatte, gefolgt von dem tintenschwarzen Panther, der eigentlich ein schwarz pigmentierter Leopard aus Java und mein Liebling war, seit ich das Museum als Kind besucht hatte. Mit großer Sorgfalt hatte ich ihn in Sackleinen gehüllt und gründlich verschnürt, damit er die Reise nach Norden heil überstand, und ihm dann sanft über die breite Nase gestrichen, als wollte ich uns beiden Mut zusprechen.
Die Tiere und die Fossilien, die Präparate dieses großartigen Museums, würden über das ganze Land verteilt, jede Abteilung an einen anderen Ort, um sie vor der Gefahr deutscher Bomben auf London zu schützen. Die Säugetiere wurden nach Lockwood Manor ausgelagert, und ich sollte sie als stellvertretende Abteilungsleiterin begleiten, eine Position, die ich einer Reihe rasch aufeinanderfolgenden Beförderungen zu verdanken hatte, nachdem zwei höherrangige Mitarbeiter sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatten. Dort würde ich dann die Verantwortung tragen, als De-facto-Direktorin meines eigenen kleinen Museums.
Noch vor einem Jahr hätte ich es nicht für möglich gehalten, jemals einen solchen Posten zu bekleiden, denn mir war eines dieser Missgeschicke passiert, die auf einen Schlag alles zunichtemachen können, was man sich mühselig aufgebaut hat. Eines Spätnachmittags hatte ich mich in einer der Werkstätten unterhalb der Ausstellungsräume aufgehalten, um einige verblasste Etiketten für eine Nagetier-Kollektion zu erneuern, die ein herausragender Evolutionstheoretiker auf seinen Reisen zusammengetragen hatte und die daher von ebenso historischer wie wissenschaftlicher Bedeutung war. Daneben hatte ich mir das letzte existierende Fossil einer ausgestorbenen Pferderasse zurechtgelegt, das ich reinigen wollte, wenn ich mit den Etiketten fertig war. An jenem Tag hatte ich das Mittagessen ausgelassen, was allerdings nichts Außergewöhnliches war - oft genug war ich so in meine Arbeit vertieft, dass ich vergaß, meine mitgebrachten Sandwiches zu essen -, und ich trug alte, ausgeleierte Schuhe, weil mein normales Paar beim Besohlen war.
Ich hatte frische Tinte geholt und war ausgerutscht. Mein Bein knickte ein, mein Schuh glitt auf dem über viele Jahre hinweg von unzähligen Füßen blank polierten Holzboden aus, und im nächsten Moment riss ich das Fossil mitsamt den Nagetierkästen zu Boden und knallte mit der Stirn an die Tischkante. Ob und welche Art von Verletzung ich mir zugezogen hatte, kümmerte mich nicht im Geringsten. Ich starrte mit blankem Entsetzen auf das Durcheinander aus Präparaten und Etiketten - Letztere hatte ich aus den Kästen geholt, um sie aus der Nähe studieren zu können, und nun waren sie von ihrem jeweiligen Objekt getrennt, sodass die Sammlung praktisch wertlos geworden war. Daneben, in tausend Stücke zersprungen, lag das Fossil. Außer mir war noch ein Säugetier-Kollege namens John Vaughan im Raum, der Letzte, den ich mir in einer derart peinlichen Situation als Zeuge gewünscht hätte, weil er nichts mehr liebte, als ständig in abfälligem Ton zweideutige Kommentare über die Tatsache von sich zu geben, dass ich eine Frau war, und der nun die Szene mit höhnischem Grinsen verfolgt hatte.
Das Schlimmste an meinem Unfall, wie mir Dr. Farthing, der Direktor der Abteilung, in unserer Unterredung am nächsten Tag ins Gedächtnis rief - und in der Art, wie er das Wort Unfall sagte, seine Zweifel daran verdeutlichte -, war jedoch, dass sich für den darauffolgenden Tag ein Besucher aus Amerika angekündigt hatte, der ebenjenes Fossil untersuchen wollte, das ich zerbrochen hatte. Ein Wissenschaftler, der nicht weniger vermögend war als all die hochwohlgeborenen Wissenschaftler des Viktorianischen Zeitalters und den das Museum als Gönner hatte gewinnen wollen.
An jenem Tag war ich mit einem Rüffel davongekommen - man hätte mich auch schwerlich hinauswerfen können, da das Museum Teil der öffentlichen Verwaltung war -, doch auch wenn meine Arbeit bis auf die katastrophalen Ereignisse an jenem Nachmittag stets beispielhaft gewesen war, wusste ich, dass damit jede noch so kleine Chance auf eine Beförderung dahin war. Es lag nur am Ausbruch des Krieges, daran, dass Dr. Farthing sich als Freiwilliger meldete, und der voraussichtlichen Einberufung der Mehrheit der männlichen Museumsmitarbeiter, dass ich mich als stellvertretende Abteilungsleiterin der evakuierten Sammlung wiederfand (und dazu kam die Tatsache, dass mein Gehalt niedriger war, weil ich eine Frau war, und die öffentliche Hand erpichter denn je darauf war, Mittel einzusparen). Doch wie Mr Vaughan mich persönlich ins Bild setzte, ehe er uns verließ, um wie schon seine Vorfahren im letzten Krieg in der Marine zu dienen, würden sich die Dinge nach dem Krieg wieder ändern: Im Handumdrehen finden Sie sich dann bei den Freiwilligen wieder, warten Sie nur ab, waren seine genauen Worte, womit er meinte, bei den anderen Frauen. Unter den festangestellten Mitarbeitern gab es nur eine Handvoll weibliches Personal, und ich und Helen Winters waren die einzigen, die höhere Positionen innehatten. Die übrigen Frauen, die für das Museum arbeiteten - die das Präparieren von Exponaten vorbereiteten und uns beim Aufstellen unterstützten, die katalogisierten, kopierten und forschten, die reisten und sammelten und für unzählige kleine Neuentdeckungen sorgten -, waren entweder >inoffizielle Mitarbeiterinnen< und wurden mit einem Stundenlohn von einem Schilling abgespeist oder unbezahlte Freiwillige.
Meine Stelle als Direktorin der Sammlung, die auf Lockwood Manor vorübergehend Obdach finden sollte, war also nicht nur eine einmalige Chance für eine Vertreterin meines Geschlechts, sondern auch eine wichtige Gelegenheit, mich für die Zeit nach dem Krieg zu beweisen, wenn die Männer wieder auf ihre früheren Positionen zurückströmten.
Die Pläne für die Evakuierung der Säugetiersammlung lagen fertig in der Schublade, seit es erste Kriegs-Gerüchte gegeben hatte, sogar schon, als ich meine Stelle vor Jahren angetreten hatte, und wir hatten Wochen damit verbracht, alles in Kisten zu verpacken, die die Arbeiter dann auf die Lastwagen luden. Aber das Museum war zu groß, um alles zu evakuieren, und so mussten wir festlegen, welche Tiere, getrockneten Pflanzen, Steine, Vögel und Insekten auf die Reise gehen sollten und welche ihrem Schicksal überlassen blieben. Im Museum spielten wir andauernd Gott: Wir versahen die Dinge mit Namen und Klassifizierungen und gaben der Natur eine von uns erdachte Ordnung - Familie, Art, Gattung -, und nun war es an uns zu entscheiden, welche unserer Objekte es wert waren, gerettet zu werden.
Obwohl die für Lockwood Manor bestimmte Auswahl sich eigentlich auf Säugetiere beschränken sollte, mogelten sich nach und nach auch andere Kreaturen in die Auslagerungspläne und auf die Lastwagen. Das Telefon stand nicht still vor Anrufen von Geologen und Ornithologen, die bereits evakuiert worden waren: Ob wir noch die Vitrine aus Raum 204 unterbringen könnten, ob noch Platz sei für die Kiste mit den nord- und südamerikanischen Nestern und die Straußeneier-Sammlung, für den Meteoritenklumpen, der beim Umzug vergessen worden war, oder den ausgestopften Papagei der ebenso verehrten wie spendenfreudigen Lady Soundso? In der letzten Woche wurden immer noch Objekte auf irgendwelchen Fluren und in lange nicht mehr betretenen Räumen entdeckt, die eilig mit der Hand den fein säuberlich getippten Listen hinzugefügt wurden, die wir zuvor erstellt hatten. Und im allerletzten Augenblick stellten wir fest, dass wir noch einen Laster übrig hatten, sodass die Arbeiter in aller Eile noch Ausstellungsstücke aus der Eingangshalle herbeischleppten, die alles andere als seltene Exemplare waren - die Füchse, die Wiesel, zwei Tiger, ein Eisbär, ein Wolf, ein Löwe und sogar eine ganz gewöhnliche Wanderratte.
Wie schnell sich die Räume leerten. Ich hatte erwartet, dass mir beim Anblick, wie dem Museum seine Bewohner entrissen wurden, angst und bange würde vor dem, was uns bevorstand, dass die nackten Räume aussehen würden, als hätten Grabräuber die Gelegenheit genutzt, um über das Gebäude herzufallen, aber ehrlich gesagt war ich so dankbar dafür, die Tiere...
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