Schweitzer Fachinformationen
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Mir ist schwindelig vor Hoffnung. Endlich packt er, um mich zu begleiten. Perfekt zu Quadraten gefaltete T-Shirts. Zusammengerollte Socken in einer Plastiktüte. Borderline Zwangsstörung heißt es in zwei psychiatrischen Gutachten. Carl packt noch eine Jogginghose und zwei Pyjamahosen dazu.
Die Schubladen in seinem kleinen blau gestrichenen Zimmer sind leer. Im Schrank hängen Kleiderbügel wie Skelette. Er nimmt jedes einzelne Kleidungsstück mit, das er bei sich hatte, als man ihn in diese letzte Station der Hölle abgeschoben hat. Die Sachen füllen nicht einmal einen Koffer.
Wo ist sein Hab und Gut? Als er gleich nach dem Prozess, in dem er freigesprochen wurde, sein Haus verkaufte und jahrelang verschwand, gingen Gerüchte um, er habe ein Geheimversteck, die sprichwörtliche Hütte im Wald. Ein Hochglanzmagazin deutete das zwischen den Zeilen in einem Artikel über Carl an, der den Titel »Die Dunkelkammer« trug. Ich fand, dass diese Überschrift bei einem als Serienmörder verdächtigten Dokumentarfotografen den Nagel auf den Kopf traf.
Mrs T steht mit verschränkten Armen in der Tür und beobachtet mich wie eine missbilligende Gefängniswärterin in einer ausgeblichenen Schürze. Eine Woche habe ich gebraucht, um sie zu überreden. Sie hat mich von vierzehn Tagen auf zehn heruntergehandelt.
»Und Sie sind sich wirklich sicher?«, reißt Mrs T mich aus meinen Gedanken. Sie möchte so angesprochen werden, weil sie es satthat, dass die Leute ihren mit Konsonanten gespickten polnischen Familiennamen verunstalten.
Mehr als einmal hat sie mir vorgehalten, wie tapfer sie sei, weil sie Ausgestoßenen und Straftätern eine Zuflucht bietet, »wie Jesus Christus es verlangt«. Lange Zeit konnte ich sie nicht ausstehen - bis ich eines Tages an einem Zimmer vorbeikam und sah, wie sie die Frau mit dem Schleier umarmte. Mrs T beruhigte sie. Ihr Verlobter wird rechtzeitig zur Hochzeit aus dem Krieg zurückkehren.
»Das klappt schon«, sage ich zu Mrs T.
»Zehn Tage sind länger, als Sie glauben. Das kann ich nicht oft genug wiederholen. Sie müssen dafür sorgen, dass er seine Medikamente nimmt. Manchmal kriegt er diese Zitteranfälle, aber meistens ist er in Ordnung.« Sie weist auf die Schachteln und Dosen in dem wiederverschließbaren Plastikbeutel in meiner Hand. »Er wird Sie anlügen, wissen Sie? Oder es vergessen. Es ist nicht gut, wenn er es vergisst. Sie haben es letzte Woche ja selbst erlebt. Wie alt sind Sie noch mal? Sie sind nicht im richtigen Alter, um seine Tochter zu sein. Ein bisschen zu jung. Sind Sie neunzehn? Oder zwanzig? Wenn ich nachrechne, passt es nicht.«
Also, sage ich zu mir, halt mich doch auf. Wahrscheinlich sollte das jemand tun.
» . aber ich vertraue Ihnen, weil ich denke, dass Sie das Herz am richtigen Fleck haben. Vergessen Sie nur unsere Abmachung nicht. Ich habe Ihnen einige Formalitäten erspart. Ich möchte während der Tage, an denen er bei Ihnen ist, keine Abzüge kriegen, wenn er durch Abwesenheit glänzt und diese Erbsenzählerin von der Behörde ihre kleine monatliche Bettenkontrolle durchführt. Ich verdiene ohnehin viel zu wenig. Offenbar hält der Staat ein Wohnheim für ein Sparprojekt.« Auf diesen Satz ist sie besonders stolz. Immer, wenn sie ihn aussspricht, breitet sich ein hämisches Lächeln auf ihrem Gesicht aus.
». die kapieren einfach nicht, dass es die doppelte Arbeit ist, sich um sechs Halbverrückte zu kümmern. Die eine Hälfte ihres Verstandes funktioniert noch teuflisch gut und brütet Pläne aus, wie man sich am besten davonschleicht, um sich Donuts und Tequila zu besorgen. Und die andere unternimmt Zeitreisen weiß Gott wohin. Es kann hier ziemlich hoch hergehen. Richtig, Mr Feldman?«
Ich schweige während ihres Vortrags, weil ich ihn schon oft genug gehört habe. Carl rollt seine Weihnachtskrawatte zusammen und verstaut sie in einer Ecke neben der Unterwäsche. Zum Glück hat er sie nicht um den Hals. Besser, wenn nichts Aufmerksamkeit erregt.
Vor einer Stunde, als er dachte, dass ich mit seiner Vermieterin beschäftigt sei, habe ich ihn durchs Küchenfenster beobachtet und gesehen, wie er seine Fünf-Kilo-Hanteln im hinteren Teil des ungepflegten Gartens vergrub. Keine Ahnung, was aus seinen übrigen Schätzen geworden ist. Mit denen befasse ich mich später.
Das Messer, das Haut durchtrennen kann wie Papier, bis der Erdbeersirup austritt. Das lange rote Gummiband, geeignet zum Erdrosseln. Das Feuerzeug mit dem N, das noch funktioniert. Ich habe in seine Flamme gestarrt, bevor ich es zurückgelegt habe.
Das Foto von dem Mädchen in der Wüste, bei dessen Anblick mir der Mund trocken wird.
»Ich begreife nicht, was Sie sich von diesem kleinen Familien-Wiedervereinigungsausflug versprechen«, sagt Mrs T. »Bitte erwarten Sie keine fantastische Vater-Tochter-Erfahrung. Sie alle beide nicht.«
»Hatte er hier einen Gewaltausbruch?« Er steht nur zwei Meter entfernt. Ich will, dass er mich hört. Gewalt stand in keinem von Mrs Ts täglichen Berichten, zumindest nicht in denen, die sie mir zeigt.
Sie zieht mich hinaus in den Flur. »Sie sagten doch, dass Sie seine gesamte Vergangenheit kennen.« Kurz arbeitet es in ihrem Gesicht. »Der Deal lautet folgendermaßen: Mein Neffe bezahlt mich dafür, dass ich sein Zimmer für den Rest des Monats vermiete.«
Das beseitigt meine kleine Sorge, der Bulle könnte Carl einen Besuch abstatten, während wir weg sind. Falls es diesen Bullen überhaupt gibt, hat Mrs T nun ihre Gründe, ihn abzuwimmeln.
Sie sichert sich in alle Richtungen ab und befürchtet, ich könnte einen Rückzieher machen. Wohin fließt all das Geld? Sicher nicht in die abgenützten Möbel aus dem Gebrauchtwarenladen, die Speisekammer voller Schweinefleisch, Bohnen und Billig-Erdnussbutter, die beiden Badezimmer mit ihren rostigen Haltegriffen und die Artikel aus Reader's Digest als Wandschmuck.
Nur die Schlösser an Türen und Medikamentenschränken glänzen und sind stabil. Der Fernseher ist das Allerneueste hier, allerdings eine unbekannte Marke. Da er vierzehn Stunden am Tag läuft, kündigt sein gnadenloses Brummen sein baldiges Ableben an. Am liebsten würde ich sie melden, doch dieser Schuss könnte nach hinten losgehen. Mein Plan ist, kurz in ihrem Leben aufzutauchen und dann wieder zu verschwinden.
Und was würde dann aus der Frau mit dem Schleier werden? Wer würde sie umarmen?
»Er kommt auf jeden Fall mit«, versichere ich ihr. »Ich wollte nur wissen, ob er jemanden angegriffen hat, seit er hier ist.«
»Hängt davon ab, was Sie meinen. Bei diesen Leuten schraube ich meine Ansprüche runter. Nicht alles wird angezeigt. Und unser Carl hat nicht oft Ärger. Meine Bewohner sind vernünftig genug, sich nicht mit ihm anzulegen. Sie mögen seine seltsamen Freunde nicht.« Sie kichert.
Wieder blicke ich nicht mehr durch. Mrs T und Carl haben keine Besuche von Freunden erwähnt. Wird ihn noch jemand vermissen? Darüber darf ich jetzt nicht nachdenken.
Carl holt einen glänzenden Gegenstand aus Metall unter seinem Kissen hervor, der in den Koffer wandert.
Er klappt den Deckel zu. »Ich bin fertig.« Er trägt Levi's, ein in den Bund gestecktes blaues Arbeitshemd, einen abgewetzten Ledergürtel und die fingerzermalmenden Stiefel. Seine besten Sachen, was ich weiß, weil ich jeden Winkel seines Zimmers durchsucht habe. Dass er sich heute für diesen öffentlichen Auftritt solche Mühe gibt, ängstigt und rührt mich zugleich.
Er macht keinen Hehl daraus, dass er sich darauf freut.
Ich habe mich so gut vorbereitet wie möglich.
»Am Monatsletzten zum Zapfenstreich«, wiederholt Mrs T. »Dann muss er in seinem Bettchen liegen.« Sie wendet sich direkt an Carl. »Mr Feldman, träumen Sie bloß nicht von der Freiheit. Das hier ist Ihr erster und letzter Urlaub von Mrs Ts Pension.«
Sie begleitet uns zur Tür. Ein Abschiedskomitee von ehemaligen Straftätern erwartet uns. Zwei Männer und drei Frauen. Ein Brautschleier, eine Baseballkappe mit dem Logo der Cubs, zwei rosafarbene Plüschpantoffeln, eine nackte Brust und ein Hawaiihemd mit Palmen darauf. Zwei Mörderinnen, ein Brandstifter, eine Kinderschänderin, ein Vergewaltiger. Alle mit der Diagnose Demenz und einer Neigung dazu auszurasten. Ich habe über ihre Prozesse im Internet gelesen, mit Sozialarbeitern telefoniert und spätnachts mit einer beschwipsten Mrs T geplaudert.
Die Frau mit den rosa Hauspantoffeln ist mir am sympathischsten. Sie hat ihren Schwiegersohn erschossen, fünf Tage nachdem der ihre Tochter brutal vergewaltigt hatte. Als sie mit vierundsiebzig aus dem Gefängnis entlassen wurde, war ihre Tochter tot. Niemand war da gewesen, um den nächsten Schläger auszuschalten, den sie geheiratet hat.
Als Mrs T sich vorbeugt, streift ihr Atem mein Ohr. »Er wird eine Kamera wollen. Ich muss Ihnen wohl nicht eigens sagen, dass das eine verdammt schlechte Idee ist. Bei Notfällen vergessen sie das Döschen mit der roten Markierung auf dem Deckel nicht. Grüßen Sie Florida von mir.« Fest schließt sie die Tür hinter uns. Erledigt.
Ein endloses blaues Meer. Salzgeschmack im Mund. Keine Uhren.
Nur, dass wir nicht dorthin fahren, und Carl weiß das.
Er ist bereits fünfzehn Meter voraus und stößt beim Anblick des schwarzen Buick am Straßenrand einen anerkennenden Pfiff aus. Ich verrate ihm weder, dass es ein Mietwagen ist, noch, dass wir ihn entsorgen werden. Er darf nichts über mich erfahren, was ihm ermöglichen würde, mich aufzuspüren. Wenn alles vorbei ist, werde ich eine der Millionen von Flusen in seinem Kopf...
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