Schweitzer Fachinformationen
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Tessa, heute
Was auch dabei herauskommen mag, ich gehe den gewundenen Pfad in Richtung meiner Kindheit entlang.
Das Haus steht krumm und schief auf der Kuppe eines Hügels, als hätte ein Kind es aus Klötzchen und Klopapierrollen gebaut. Der Kamin neigt sich in einem seltsamen Winkel, und an den Seiten ragen Türmchen heraus wie startklare Raketen. Früher habe ich in Sommernächten oft in einem von ihnen geschlafen und mir vorgestellt, ich würde in den Weltraum hinausfliegen.
Öfter, als es meinem kleinen Bruder gefiel, kletterte ich aus einem der Fenster aufs Ziegeldach, kroch auf mageren Knien zum Giebel und hielt mich dabei an den scharfkantigen Ohren von Wasserspeiern und an Fensterbrettern fest. Oben angekommen lehnte ich mich ans verschnörkelte Geländer und betrachtete die ebene, endlose Landschaft von Texas und die Sterne meines Königreichs. Auf meiner Pikkoloflöte spielte ich den Nachtvögeln vor. Die Luft brachte mein dünnes weißes Baumwollnachthemd zum Rascheln, als sei ich eine seltsame Taube, die hoch auf dem First eines Schlosses thront. Es klingt wie ein Märchen, und das war es auch.
Mein Großvater hatte sich in diesem verrückten Märchenbuchhaus auf dem Land eingerichtet, doch eigentlich hatte er es für meinen Bruder Bobby und mich gebaut. Obwohl es nicht groß war, habe ich bis heute keine Ahnung, wie er es sich hatte leisten können. Jedem von uns schenkte er ein Türmchen, damit wir uns vor der Welt verstecken konnten, wenn wir uns zurückziehen wollten. Diese Disney World, nur für uns allein, war seine große Geste, als Trost, weil unsere Mutter gestorben war.
Kurz nach Opas Tod versuchte Oma, das Haus zu verkaufen. Doch es fand sich kein Interessent, selbst Jahre später nicht, als sie zwischen ihm und ihrer Tochter im Grab lag. Niemand wollte es. Die Leute bezeichneten es als gruselig. Mit einem Fluch belastet. Und durch ihre gehässigen Sprüche wurde es genau das.
Nachdem ich gefunden worden war, brachten sämtliche Zeitungen und Fernsehsender Bilder von dem Haus. Die Lokalzeitung nannte es »Grims Schloss«. Ich habe keine Ahnung, ob das ein Tippfehler war. In Texas schreiben die Leute eben ein bisschen anders.
Es wurde gemunkelt, mein Großvater müsse etwas mit meinem Verschwinden zu tun gehabt haben ebenso wie mit der Ermordung aller Schwarzäugigen Susannen, und zwar wegen seines verrückten Hauses. Wie bei Michael Jackson und seiner Neverland Ranch, raunten sie, obwohl das Gericht ein gutes Jahr später einen Mann wegen der Verbrechen zum Tode verurteilte. Es waren dieselben Leute, die zu jedem Weihnachtsfest bei uns vorgefahren waren, damit ihre Kinder das Lebkuchenhäuschen bestaunen und sich eine Zuckerstange aus dem Korb auf der Veranda nehmen konnten.
Ich drücke auf die Klingel. Sie spielt nicht mehr den Ritt der Walküren. Da ich nicht weiß, was mich erwartet, bin ich ein wenig erstaunt, dass das ältere Ehepaar, das die Tür öffnet, genau zu diesem Haus zu passen scheint. Die pummelige, abgearbeitete Hausfrau mit Kopftuch und Staublappen in der Hand erinnert mich an The old woman who lived in a shoe aus dem bekannten Kinderreim.
Stammelnd trage ich mein Anliegen vor. Sofort glimmt Erkennen in den Augen der Frau auf, und der Zug um ihren Mund wird weicher. Sie bemerkt die halbmondförmige Narbe unter meinem Auge. Armes kleines Mädchen, sagt ihr Blick, obwohl es schon achtzehn Jahre her ist und ich inzwischen selbst eine Tochter habe.
»Ich bin Bessie Wermuth«, verkündet sie. »Und das ist mein Mann Herb. Kommen Sie doch herein, meine Liebe.« Herb lehnt sich mit finsterer Miene auf seinen Stock. Ich sehe ihm seinen Argwohn an und kann ihn ihm nicht zum Vorwurf machen. Immerhin bin ich eine Fremde, obwohl er ganz genau weiß, wer ich bin. Das wissen alle in einem Umkreis von siebenhundert Kilometern. Ich bin das Cartwright-Mädchen, vor langer Zeit weggeworfen, zusammen mit einer erwürgten Collegestudentin und einem Haufen menschlicher Knochen auf einem Stück Brachland am Highway 10, ganz in der Nähe des Grundstücks der Jenkins.
Ich bin der Star der plärrenden Schlagzeilen in den Revolverblättern und den Gespenstergeschichten, die man am Lagerfeuer erzählt.
Ich bin eine der vier Schwarzäugigen Susannen. Die einzige, die Glück gehabt hat.
Es dauert nur ein paar Minuten, verspreche ich. Mr Wermuths Miene verdüstert sich weiter. Aber natürlich, erwidert Mrs Wermuth. Es ist offensichtlich, dass sie all die wichtigen Entscheidungen trifft, zum Beispiel, wie hoch der Rasen wachsen darf und was man mit einem rothaarigen, vom Kuss des Bösen berührten jungen Ding anfängt, das plötzlich auf der Schwelle steht und ins Haus will.
»Wir können nicht mit Ihnen da runtergehen«, brummelt der Mann, während er die Tür noch ein Stück öffnet.
»Wir waren beide nicht oft unten, seit wir hier eingezogen sind«, fügt Mrs Wermuth rasch hinzu. »Vielleicht ein Mal im Jahr. Es ist feucht dort. Und eine Stufe ist kaputt. Eine gebrochene Hüfte könnte für uns beide das Ende sein. Wer sich in unserem Alter nur eine Kleinigkeit bricht, klopft spätestens einen Monat danach bei Petrus am Himmelstor an. Wenn man am Leben bleiben will, sollte man nach seinem fünfundsechzigsten Geburtstag keinen Fuß mehr in ein Krankenhaus setzen.«
Während ihrer Ansprache stehe ich wie erstarrt und von Erinnerungen überflutet im Wohnzimmer und halte Ausschau nach Dingen, die inzwischen nicht mehr da sind. Dem Totempfahl, den Bobby und ich eines Sommers gesägt und geschnitzt haben, völlig unbeaufsichtigt und mit nur einem einzigen Abstecher in die Notaufnahme. Opas Gemälde von einer winzigen Maus, die in einem Boot mit einem Taschentuch als Segel ein gefährlich aufgewühltes Meer befährt.
Nun hängt an dieser Stelle ein Bild von Thomas Kinkade. Das Zimmer beherbergt zwei geblümte Sofas und ein schwindelerregendes Sammelsurium an Nippes, das sich auf den Regalen drängt oder in Glasvitrinen verstaut ist. Deutsche Bierseidel, Kerzenhalter, eine Sammlung kitschiger Porzellanpüppchen in Biedermeierkleidchen, Schmetterlinge aus Kristall, Frösche, mindestens fünzig zart gemusterte englische Teetassen, ein Porzellanclown, dem eine einzige schwarze Träne übers Gesicht rinnt. Wahrscheinlich fragen sie sich alle, wie sie wohl in dieser Zwangsgemeinschaft gelandet sind.
Das Ticken ist beruhigend. Zehn antike Uhren bedecken eine Wand, zwei davon mit Pendeln, die in perfektem Gleichtakt hin- und herschwingen.
Ich kann verstehen, warum Mrs Wermuth sich für unser Haus entschieden hat. In gewisser Weise ist sie eine von uns.
»Also los«, sagt sie. Ich folge ihr gehorsam einen gewundenen Flur entlang, der vom Wohnzimmer abgeht. Früher konnte ich die Kurven auch bei völliger Dunkelheit auf Rollschuhen überwinden. Im Gehen betätigt sie Lichtschalter, und plötzlich fühle ich mich wie unterwegs zu meiner eigenen Hinrichtung.
»Im Fernsehen hieß es, die Hinrichtung fände in ein paar Wochen statt.« Ich schrecke zusammen. Genau daran hatte ich gerade gedacht. Die raue Männerstimme hinter mir gehört Mr Wermuth und klingt nach Zigarettenrauch.
Ich halte inne und schlucke den Kloß in meiner Kehle hinunter, während ich auf die Frage warte, ob ich in der ersten Reihe sitzen und zusehen werde, wie der Mann, der mich angegriffen hat, seinen letzten Atemzug tut. Stattdessen klopft der Alte mir verlegen auf die Schulter. »Ich würde nicht hingehen. Schenken Sie ihm keine gottverdammte weitere Sekunde.«
Ich habe mich in Herb geirrt. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich falschliege, und es wird auch nicht das letzte sein.
Ich stoße mir den Kopf an einer plötzlichen Biegung der Wand, weil ich mich noch immer zu Herb umdrehe. »Alles in Ordnung«, versichere ich Mrs Wermuth rasch. Sie hebt die Hand, zögert jedoch, meine brennende Wange zu berühren, denn die Stelle befindet sich zu dicht an der Narbe, eine dauerhafte Hinterlassenschaft eines Granatrings, der an einem skelettierten Finger hing. Ein Geschenk einer Susanne, die nicht wollte, dass ich sie jemals vergesse. Sanft schiebe ich Mrs Wermuths Hand weg. »Ich hab ganz vergessen, dass diese Kurve jetzt schon kommt.«
»Verrücktes Misthaus«, murmelt Herb. »Was zum Teufel wäre denn so schlimm daran, in St. Pete zu wohnen?« Offenbar erwartet er keine Antwort. Die Schramme an meiner Wange beginnt, sich zu beschweren, und die Narbe antwortet mit einem leisen Ping, Ping, Ping.
Inzwischen verläuft der Flur wieder gerade. Am Ende ist eine ganz gewöhnliche Tür. Mrs Wermuth zieht einen Generalschlüssel aus der Schürzentasche und steckt ihn mühelos ins Schloss. Früher hatten wir fünfundzwanzig solcher Schlüssel, alle genau gleich, mit denen man jede Tür im Haus öffnen konnte. Eine ungewöhnlich praktische Anwandlung meines Großvaters.
Eiskalte Luft weht uns entgegen. Ich rieche tote und wachsende Dinge. Seit ich vor einer Stunde von zu Hause losgefahren bin, überkommen mich zum ersten Mal ernsthafte Zweifel. Doch Mrs Wermuth streckt die Hand aus und zieht an einem Stück Drachenschnur, die über ihrem Kopf baumelt. Die kahle staubige Glühbirne erwacht flackernd zum Leben.
»Nehmen Sie die hier.« Mr Wermuth holt eine kleine Maglite aus der Hosentasche. »Die benutze ich immer zum Lesen. Wissen Sie, wo der Hauptlichtschalter ist?«
»Ja«, erwidere ich ohne nachzudenken. »Gleich unten.«
»Achten Sie auf die sechzehnte Stufe«, warnt Mrs Wermuth. »Irgendein Mistvieh hat ein Loch hineingenagt. Ich zähle beim Runtergehen immer mit. Lassen Sie sich so viel...
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