Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Ich gehöre nicht zu den Frauen, die lange Groll hegen, sich über Meinungsverschiedenheiten groß den Kopf zermartern oder ständig die Motive anderer Leute hinterfragen. Genauso wenig, wie ich die Neigung habe, einen Streit um jeden Preis gewinnen zu müssen.
Selbstverständlich gibt es auch bei dieser Regel eine Ausnahme: Ich stehe nicht tatenlos daneben, wenn ein Mensch von einem anderen ausgenutzt wird, und das gilt eben auch, wenn ich diejenige bin, die ausgenutzt wird. Dann tue ich alles, was in meiner Macht steht, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. So ist es wenig überraschend, dass die Ereignisse dieses Monats mir keine andere Wahl gelassen haben, als unverzüglich und energisch zur Tat zu schreiten.
Mein Bruder Edward hatte mir die Nachricht vom Tod unserer Mutter übermittelt. Obwohl es halb sechs war, war ich schon wach. Ich hing gerade unschlüssig über der Kloschüssel und überlegte, ob ich mir den Finger in den Hals stecken oder die Übelkeit weiter aushalten sollte. Erbrechen verschafft einem ja ein paar Minuten der Erleichterung, aber dann fängt es doch wenig später wieder an. Also beschloss ich nach einer Kosten-Nutzen-Analyse, dass Aushalten die beste Option war. Als ich gerade mein gallegelbes Spiegelbild musterte, klingelte das Telefon in der Küche. Auf dem Festnetz rufen mich so wenige Leute an, dass mir sofort klar war, es musste sich um einen Notfall handeln, der mit meiner Mutter zu tun hatte. Auch wenn es, wie sich herausstellte, kein Notfall mehr war. Jedenfalls gab es keinen Grund, warum mein Bruder so früh hätte anrufen sollen, außer um mich unvorbereitet zu überraschen.
»Suze, ich bin's, Ed. Es gibt Neuigkeiten - und leider keine guten. Vielleicht setzt du dich lieber hin.«
»Was ist passiert?«
»Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, Suze. Ich befürchte .«
»Edward, reiß dich zusammen. Ist sie im Krankenhaus?«
»Suze, sie ist gegangen. Sie ist letzte Nacht verstorben. Ich bin erst um zwei nach Hause gekommen, ich war bei einem Freund ein paar Bierchen trinken. Ich hab gleich gesehen, was los war, weil sie so komisch zusammengesackt war. Unsere Hausärztin war schon hier, massiver Schlaganfall, hat sie gesagt. Ich kann es nicht glauben.«
Ich schluckte das Würgen, das in meiner Kehle aufstieg, herunter und setzte mich an den Küchentisch. Einen Augenblick war ich ganz damit beschäftigt, mit der Handkante ein paar verirrte Toastkrümel zu einem Häufchen zusammenzuschieben.
»Suze . Suze?«
»Sie war achtundsiebzig«, sagte ich schließlich, »und sie hatte schon zwei Schlaganfälle. Das kommt jetzt nicht völlig aus heiterem Himmel.« Ich zögerte. Mir war klar, dass ich etwas Mitfühlendes sagen musste, aber das fiel mir nicht leicht, wenn ich mit meinem Bruder redete. »Aber ich kann mir vorstellen, dass es ganz schön unangenehm war, sie so zu finden«, fügte ich hinzu. »Du, es tut mir leid, ich hab keine Zeit mehr zu reden, ich muss mich jetzt für die Arbeit fertig machen. Ich ruf dich später an. Und . Edward?«
»Ja, Suze?«
»Bitte nenn mich nicht Suze.«
Ich hatte nicht damit gerechnet, mit fünfundvierzig zur Waise zu werden, in einem Alter, in dem die meisten Leute noch beide Elternteile haben. Doch meine Mutter und mein Vater waren schon Mitte dreißig, als ich auf die Welt kam, und mein Vater hatte eine gewisse Charakterschwäche, die sein Leben wesentlich verkürzte. Ich habe meine Mutter in ihren letzten Jahren nicht so oft gesehen, wie ich es hätte tun sollen. Ich bin im öffentlichen Dienst in der Projektabwicklung tätig (ich analysiere komplexe Daten und erstelle ausführliche Controlling-Berichte), und ich merke, wenn ich nicht stundenlang mit großen Zahlen und kleinen Buchstaben ringe, hab ich das Gefühl, überhaupt nichts zustande zu bringen.
Ein anderer Grund für die Seltenheit meiner Besuche war der, dass Edward wieder bei meiner Mutter wohnte, und er und ich betrachten das Leben auf sehr unterschiedliche Art - um es mal vorsichtig zu formulieren. Um ehrlich zu sein, wir tun alles, um uns aus dem Weg zu gehen. Mein Bruder ist nur zwei Jahre jünger als ich, aber was seine emotionale und psychologische Entwicklung angeht, sind es mindestens dreißig, was in seinem Fall bedeutet, dass er im Teenageralter stehen geblieben ist. Ich sollte hinzufügen, dass er keine diagnostizierbare geistige Störung hat, sondern einfach nur einen schwachen Willen und sich selbst alles erlaubt. Während ich hart gearbeitet habe, um mir eine sichere Karriere und einen stabilen Lebensstil zu erkämpfen, ist Edward von einem Scheißjob zur nächsten sinnlosen Beziehung in die nächste grindige Wohnung gezogen. Wenig überraschend, dass er am Ende zu meiner Mutter zurückgekrochen kam, als er die vierzig überschritten hatte.
Es ist ein Schock, wenn einem der Tod eines nahen Verwandten mitgeteilt wird, auch wenn derjenige alt und krank war. Ich merkte, dass ich ein paar Minuten ganz ruhig sitzen bleiben und meine Gedanken sammeln musste. Doch da ich in London war und meine tote Mutter in Birmingham, gab es wenig Praktisches für mich zu tun. Deswegen beschloss ich, in die Arbeit zu gehen und weiterzumachen, als wäre alles normal, oder zumindest so normal, wie ich es mit dieser ständigen Übelkeit vorspielen konnte. Ich würde niemandem im Büro vom Tod meiner Mutter erzählen. Ich konnte mir nur zu lebhaft vorstellen, was für eine Orgie des Jammerns und Seufzens ich damit ausgelöst hätte, feuchte Umarmungen und Beileidsbekundungen für den Verlust eines Menschen, den sie nie kennengelernt und von dessen Existenz sie nicht mal gewusst hatten. So was mag ich nicht so gern.
Als ich in der Nähe meines Bürogebäudes aus der U-Bahn stieg, traf mich die Hitze wie ein Keulenschlag. Sie hatte bereits einen Level erreicht, der ausreichte, um den frischen Asphalt vor dem Ausgang weich zu machen.
Der Lärm und die Abgase des schleichenden Verkehrs schienen um ein Vielfaches verstärkt, und die bohrende Intensität des Sonnenlichts stach mir auf der Netzhaut. Sobald ich die relative Geschütztheit meines Schreibtischs erreicht hatte - er steht in der ruhigsten Ecke eines Großraumbüros -, schaltete ich den Ventilator ein und richtete ihn auf mein Gesicht. Nachdem ich meine Lebensgeister wieder ein bisschen zurückgewonnen hatte, widmete ich wie jeden Morgen ein paar Minuten den Kakteen, die ich auf meinem Schreibtisch in einer Reihe aufgestellt habe. Ich überprüfte, ob irgendwo Fäule zu sehen war oder irgendwelche verwelkten oder trockenen Teile, ich wischte den Staub mit einem weichen Pinsel ab und vergewisserte mich, dass der Feuchtigkeitsgehalt in der Blumenerde korrekt war, und dann drehte ich sie so hin, dass sie gleichmäßig dem Tageslicht ausgesetzt waren. Nachdem das erledigt war, schlug ich eine Akte auf. Ich hoffte, dass die Arbeit an dem besonders kniffligen Bericht, den ich meinem Abteilungsleiter am Ende der nächsten Woche geben musste, mir helfen würde, die Geschehnisse des frühen Morgens in den Hintergrund zu drängen.
Für jemanden, der Jura studiert hat, ist mein Job vielleicht nicht der aufregendste, aber mir gefällt er. Die meisten Kommilitonen strebten eine Laufbahn als Staatsanwälte oder Strafverteidiger an, aber ich fühlte mich mehr zu der Sicherheit einer Beamtenkarriere hingezogen: das zwar nicht sonderlich großzügige, aber zuverlässige Gehalt, die annehmbare Rentenversorgung und der Umstand, dass ich nicht den Launen von Seniorpartnern oder Vorsitzenden irgendwelcher Anwaltskammern ausgesetzt war. Obwohl ich bei meiner Arbeit meinen Abschluss nicht nutzen kann und obwohl ich nicht die Erfahrung habe, die ich haben würde, wenn ich eine Berufsausbildung gemacht hätte, kommen mir meine breiten Kenntnisse der Gesetze und behördlichen Vorgänge sehr entgegen, wenn ich eine Beschwerde einreichen muss.
Wenn ich nicht Kollegen hätte, wäre das Büroleben direkt erträglich. An diesem Tag musste ich mich jedoch mit einer überdurchschnittlich langen Reihe von Ärgernissen auseinandersetzen. So war es zum Beispiel gerade mal halb elf, als der Geruch von den Resten eines chinesischen Take-away-Essens bis zu meinem Tisch herüberwaberte. Einer meiner untersetzteren Kollegen macht sich das gerne in der Mikrowelle unserer winzigen Kaffeeküche heiß und verzehrt es mitten am Vormittag. Mir stieg die Galle in die Kehle, und ich brauchte einen großen, kühlen Schluck zu trinken, wenn ich nicht ganz plötzlich auf die Toilette rennen wollte. Ich schaffte es zum Wasserspender, wo ich wenig erfreut war, Tom zu begegnen, dem energiegeladenen Verwaltungsassistenten, der erst kürzlich bei uns angefangen hatte. Er hatte immer noch die Reste seines Frühstücksbaguettes im Bart und schickte sich an, die nächste Quelle des Ärgernisses zu werden.
»Hey hey, Susan, du kommst gerade richtig. Du, ich wollte dir nur sagen, ich hab eine Facebook-Gruppe für unser Büro eingerichtet, auf der wir Stammtische organisieren und posten können, was sonst noch so los ist. Schick mir doch schnell eine Freundschaftsanfrage, dann nehm ich dich in die Gruppe auf.«
»Du bist noch nicht lange hier, stimmt's?«, brachte ich heraus, während das Wasser gluckernd in mein Glas lief. »Jeder hier weiß, dass ich nicht auf Facebook bin.«
»Wow, echt? Wie kommst du denn dann mit den Leuten in Kontakt? Bist du auf Instagram oder WhatsApp? Da kann ich dich gerne auch in Gruppen reinbringen.«
»Ich bin auf überhaupt nichts. Ich finde, dass der Griff zum Telefonhörer oder eine kurze...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.