Schweitzer Fachinformationen
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»Weil ich noch nicht den Richtigen gefunden habe!«, rief Linda. »Du dumme Nuss, glaubst du, ich lass mich in eine Ehe einsperren? Lene, hör doch mal: E-H-E. W-E-H-E. Reimt sich sogar. Und jetzt hör mal: L-i-e-b-e. Das eine kurz, das andere lang. Dreimal darfst du raten, was schneller vorüber ist.«
Linda lächelte Lene, ihre Freundin aus Kindertagen, mit hochgezogenen Augenbrauen und fliegenden Haaren an. Sie erntete einen verängstigten Blick. Zu Hause, bei Arnold, würde Lene Linda als »implusiv« bezeichnen, »implusiv und unbeherrscht«. Ein feiner Schneestaub bedeckte Lindas Pelzkragen. Ihre Schuhe auszuziehen und ihren Mantel abzulegen hatte sie sich keine Mühe gemacht. Was tat Lene schon wieder hier?
»Schau dich an. Arnold hier, Arnold da, dein Arnold ist für jeden da, was? Dein ewiges Gerede. Meinst du, alle müssen sein wie du, so lieb und brav und nett und immer alles richtig machen und dem Mann Mantel und Hut abnehmen, wenn er nach Hause kommt?«
»Ich lieb meinen Mann eben.«
»Das nennst du Liebe? Dieses Hinterhergetrage? Hast du mal überlegt, wo du bleibst, Lene Gruber? Genau, wo bleibst du?« Linda tippte sich mit ihrem Zeigefinger an die Schläfe.
»Ich mach das doch gern«, erwiderte Lene. »Ich hab eben nie eine Familie gehabt so wie ihr.«
»Deswegen musstest du doch nicht gleich heiraten«, sagte Gitte nüchtern und warf einen Seitenblick auf ihre Schwester, während ihre Finger langsam durch ihre bauchlange Perlenkette glitten. Der Stoff ihres hellgrauen Kleides, maßgeschneidert, ließ ihre weiße Haut durchschimmern, und die zu einem Knoten im Nacken gelegten dunklen Haare unterstrichen einen schmalen langen Hals.
»Und Kinder kriegen«, ergänzte Linda.
Lene riss die Augen auf, auf ihren Wangen schimmerten zartrosa Flecken, ihr Blick senkte sich in die Fransen des dicken Perserteppichs, hob sich wieder, fiel auf die schmale silberne Vase, die auf dem Wohnzimmertisch stand und die sich, sobald es Frühling wurde, mit Narzissen oder Tulpen füllte. »Dekorativ«, das Wort hatte Lene bei den Hoffmanns gelernt. Lene wirkte, als wolle sie gehen, unentschlossen sah sie sich um, vor ihr standen die Schwestern wie eine uneinnehmbare Festung. Auch wenn sie sich äußerlich unterschieden, machten ihre neugierigen hellblauen Augen und ihr gleichermaßen klirrend fröhliches Lachen sie unverkennbar zu Schwestern, und manch einer hielt sie für Zwillinge.
»Bist du Arnolds Bedienstete, oder was?«
»Ich . ich . Arnoldchen verdient doch das Geld, ich kümmere mich darum, ein Heim zu schaffen. Das ist doch viel schöner, als stumpfsinnig in der Fabrik zu schuften. Jetzt hab ich's doch viel schöner!«
»Weißt du was, Lene, schmier weiter deine blöden Butterbrote, aber lass Gitte und mich außen vor, wir wollen nämlich unser Hirn benutzen, die Wahrheit suchen und sie vor allem auch leben. Fürs Heimchensein ist das Leben zu kurz. Lene, stell dir mal vor, wir benutzen nur einen Bruchteil unseres Gehirns, jetzt willst du auch noch dieses bisschen auf die Wickelkommode legen und Betten machen und waschen und dämlich lächeln, als wäre alles gut, alles gut, alles gut. Mensch, Lene, was ist denn daran so toll?«
Wie ein Lasso schwang Linda ihren Muff, den linken Arm in die Hüfte gestemmt. Lene zuckte zusammen wie ein verschrecktes Huhn vor dieser Angriffslust, vor diesem Übermut, der auf ein Kontern wartete, das nicht kam. Nicht jetzt, noch nicht. In dem Augenblick, als Linda wieder das Wort ergreifen wollte, betrat Mutter Margarete das Wohnzimmer. Das Gespräch der Mädchen hatte sie, da die Tür zur Bibliothek nur angelehnt war, mitgehört. Es war ihr nicht möglich gewesen, sich auf den Brief, den sie schreiben wollte, zu konzentrieren.
»Linda, sei nicht gehässig. Lass Lene ihr Leben, du hast deins.«
Das Wohnzimmer in der dritten Etage des bürgerlichen Wohnhauses lag im Dämmerlicht. Zwischen den beiden gegenüberliegenden, mit hellgrünem Samt überzogenen Kanapees standen Gitte und Lene. Linda lehnte am Türrahmen zwischen Salon und Flur. Ihr Muff aus Kaninchenfell baumelte etwas langsamer zwischen ihren Händen, sie knöpfte ihren Mantel auf und riss ihre Baskenmütze vom Kopf, unter der sich ihre hellen, kinnlangen Haare wellten. Die winterliche Kälte mischte sich mit der warmen Luft des Wohnzimmers.
In letzter Zeit kam Lene täglich, wie früher, wenn Gertrud, ihre Mutter, sie zu sehr quälte. Meistens saß Lene mit Margarete am Küchentisch bei einer Tasse Tee und redete. Das übliche Zeugs. Linda nannte es »Lenes Wehklagen« und verdrehte die Augen. Seit sie denken konnten, kannten die Mädchen Lene und ihre Mutter. Sie wohnten im selben Viertel, Lene war auf dieselbe Volksschule wie Brigitte und Linda gegangen. Drei Jahre älter war sie als Linda, vier Jahre älter als Brigitte. Durch dieses Mehr an Jahren fühlte sich Lene offenbar berechtigt, mit Margarete von Gleich zu Gleich zu sprechen, erst recht seitdem sie mit ihrem Arnold vor zwei Jahren in eine Wohnung schräg gegenüber gezogen war. Wann Linda und Gitte endlich heiraten würden, fragte sie gerne bei jeder Gelegenheit, nur um noch einmal zu betonen, wie sehr sie Arnold den Rücken freihielt. Arnold war dabei, sich einen Namen zu machen, voranzukommen, comme il faut. Comme il faut war einer von Lenes Lieblingsausdrücken, den sie sich aus den Romanheftchen abgeschaut hatte, die sie jeden Freitag am Kiosk kaufte. Die Hoffmann-Mädchen, so hießen sie überall, belächelten Lenes Wunsch, vornehm sein zu wollen. Besonders sonntags bei ihrem Kirchgang trug Lene ihre dunkelblauen Kleider mit gestärktem weißen Kragen wie sichere Werte vor sich her. Zu Hause ersetzte sie die Kleider durch Kittel, das war praktischer für den Haushalt und wegen der zwei Kinder, und dann ahnte man: Lene kam ganz woandersher, als sie hinwollte. In welcher Abteilung ihr Mann im Reichsministerium des Inneren arbeitete, war keinem wirklich klar. »Sobald ein Posten frei wird in der Führung, das ist so sicher, wie das Amen in der Kirche, wird Arnold eine Stufe nach oben klettern«, sagte Lene und hob lächelnd ihren Kopf. Fragte man allerdings Vater Leonhard, brummte dieser: »In der Postabteilung ist er und wartet, bis die NSDAP an der Macht ist. Abteilungsleiter ist er jedenfalls nicht.«
Morgens sahen die Hoffmanns Arnold, wenn sie am Frühstückstisch saßen, wie er stets zur selben Uhrzeit das Haus verließ, den Völkischen Beobachter unter den Arm geklemmt und mit schnellen Schritten, als würde er das Leben selbst überholen wollen; eine kräftige Gestalt mit breitem Gesicht, das zwischen ebenso breiten Schultern saß und ihn gedrungen erscheinen ließ, den Mund im Halbmond Richtung Hals gekrümmt. Auf dem Kopf saß ein hellbrauner Hut, und sein Blick sagte nichts anderes als »vorwärts«. Seitdem Arnold in die NSDAP eingetreten war, als einer der Ersten, wie er gerne betonte, konnte ihn nichts mehr bremsen, den Auftrag auszuführen, den er in sich spürte.
Lene sah aus, als ob sie losheulen wolle.
Heute war Freitag! Wie konnte sie nur an einem Freitagabend hineinschneien. Mit dem Mantel war es heiß. Linda mochte ihn jedoch nicht ablegen, sonst würde Lene womöglich nie gehen. Gitte suchte nach beruhigenden Worten. Das hatte sie sich von ihrer Mutter abgeschaut. Das jedoch würde nur wieder dazu führen, dass Lene am nächsten Tag erneut bei ihnen klingelte. In Linda rief es nach einem anderen Dreh. Schneller pendelte der Muff zwischen ihren Händen. Draußen war es fast dunkel geworden. Lene verfiel in kindliches Quengeln. Linda hielt mit dem Muffschwenken inne und hob ihren Mantel ein wenig von den Schultern, um sich Luft zu verschaffen, und ließ ihn wieder fallen. Ihrer Mutter warf sie einen irritierten Blick zu. Den Moment nutzend, entschwand Lene im Flur. Vom Dienstmädchen ließ sie sich ihren Mantel geben und verabschiedete sich in aller Hast.
Margarete ging ihr hinterher, streichelte ihr über die Wange. »Nimm's dir nicht zu Herzen, Lenchen, dieses Gerede. Du machst es, wie du denkst.«
Lene biss sich auf die Lippen, sie spürte das Gold von Margaretes Armreif auf ihrer Haut. Zu Hause bei Arnold würde sie den Kopf schütteln und wie so oft sagen, die Hoffmann-Mädels hielten zusammen wie »Pest und Cholera«, und Arnold würde darüber schimpfen, dass sie immer noch rübergehe und sich demütigen lasse, die Hoffmanns brauche sie doch nun wirklich nicht mehr.
Als sie die Tür ins Schloss fallen hörten, ließen Linda und Gitte ihre Mutter stehen, öffneten die Tür zum Balkon und zündeten sich Zigaretten an. Über ihnen hing ein grauer Januarhimmel, die Stille eines kalten Abends umgab sie, die eiskalte Luft drang in ihre Lungen, umhüllte die Worte, die nach einem Moment des nachdenklichen Schweigens aus ihren Mündern in die Schneeluft flogen. Über ihnen, aus den Dächern, stieg der Atem der Schornsteine, an den Straßenrändern unter ihnen türmten sich Haufen geschippten Schnees. Die kahlen Linden ringsum sahen aus wie Skelette im warmen Abendlicht der Gaslaternen. Die Schritte vereinzelter Fußgänger verschluckte die weiße Decke. Allmählich röteten sich die Wangen der Mädchen, und ihre Augen leuchteten in die Winternacht wie Eiskristalle. Margarete hatte ihnen verboten, im Haus zu rauchen. Ohnehin hielt sie es für unpassend. Gitte grinste und gratulierte ihrer älteren Schwester, die sie um knapp fünf Zentimeter überragte. Das sei mal wirklich gut gewesen, diese Hausfrau, die sich gerade mal die Goethestraße hoch- und runtertraue.
Linda verschränkte die Arme vor der Brust. »Plötzlich wurde ich so wütend auf ihre Art, immer alles besser zu wissen. Immer tut sie sich...
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