Eins
Andrew
Seit dem Moment, als ich das Haus verlassen habe, bin ich kurz davor, einfach wieder umzudrehen und das Ganze abzusagen. Heute Abend ist das erste Mal, dass ich Bell alleine lasse, seit wir auf uns allein gestellt sind. Bevor sie da war, hätte ich nicht zweimal über eine Nacht auswärts nachgedacht. Bevor sie da war, habe ich über vieles nicht zweimal nachgedacht. Aber eines ist sicher - meine Definition von einer Nacht auswärts hat sich drastisch verändert, seit ich Vater geworden bin.
»Wir rösten Marshmallows über dem Ofen, essen sie mit Schokolade und Keksen und reden über Mädchenkram.« Meine Sechsjährige zählt all die Dinge auf, mit denen ihre Tante sie herumgekriegt hat, damit sie das Wochenende bei ihr verbringt. Währenddessen kämpfen wir uns zur Penn Station durch. »Sie hat eine Puppe für mich, die Windeln trägt und all das.«
»Windeln? Faszinierend.« Sadie wird keine Probleme mit der Erziehung haben, wenn sie es geschafft hat, Bell vorzumachen, dass Windeln wechseln Spaß macht.
Bell versucht sich von meiner Hand loszumachen, aber ich halte sie nur noch fester und verlagere das Gewicht ihrer Übernachtungstasche auf meiner Schulter. »Bleib hier.«
»Schau mal.« Sie deutet auf die den Zug der Linie 1. »Da ist sie!«
»Ja«, sage ich und klinge dabei eindeutig weniger enthusiastisch. Wir kaufen unsere Tickets und steigen in den Zug. Bell hüpft fast vor Aufregung, nur weil sie in der U-Bahn ist. Ihre Faszination bezüglich New York City hat sie nicht von mir. Jedes Mal, wenn ich sie herbringe, hofft ein Teil von mir, dass die Stadt ihre Anziehungskraft auf sie verliert.
Aber als wir die Times Square Station verlassen, merke ich, dass das nicht allzu bald passieren wird. »Können wir in den M&Ms-Laden?«, fragt sie und zieht mich in eine andere Richtung. »Bekomme ich ein Kleid aus dem Disney Store?«
»Nein«, sage ich und wiederhole diese Antwort auf jede ihrer Fragen. »Ich dachte, wir sind hier, um Tante Sadie zu besuchen und nicht einen Haufen Kram zu kaufen, den wir nicht brauchen.«
»Aber wir sollten Tante Sadie ein Geschenk mitbringen«, sagt sie. »Ich glaube, sie liebt M&Ms.«
Wäre ich jünger, dümmer und unerfahrener, würde ich mein kleines Mädchen für seine Selbstlosigkeit loben. Aber bei der ersten Gelegenheit würde sie sich Tante Sadies M&Ms in den Mund stopfen. Ich lotse sie fort von den leuchtenden Bildschirmen und blinkenden Lichtern in Richtung Bryant Park.
Parken, den Zug zur Penn Station nehmen, in die U-Bahn steigen, zu dem Gebäude laufen, in dem sich Sadies Büro befindet - das alles ist eine ganze Menge Aufwand für etwas, was ich eigentlich gar nicht machen will.
Wir nehmen den Aufzug bis in den siebten Stock. Der Mann am Empfang sieht von seinem Computer auf, als wir heraustreten. Sein graues Hemd und die silberfarbene Krawatte passen perfekt zu den neutral gehaltenen Wänden und dem glänzenden weißen Schreibtisch von Amelia Van Ecken Communications und avec.
»Sieh mal, Daddy«, sagt Bell und rennt auf einen Sessel im Foyer zu. »Blauer Plüsch - wie beim Krümelmonster.«
»Das ist Samt«, erwidere ich.
Sie verliert schnell das Interesse und geht neben mir her zum Empfang. Auf der Oberfläche des Empfangstresens spiegeln sich unsere Ebenbilder wider und werden verzerrt, als wir uns nähern. Die Reflexionen betonen unseren Größenunterschied und lassen unsere schwarzen Haare noch glänzender wirken.
Der Mann am Empfang sieht von mir zu Bell und wieder zurück. »Wir schauen uns keine unangemeldeten Bewerber an. Models müssen im Vorfeld einen Termin machen oder auf ein Casting warten.«
Ich richte mich ein wenig auf und fühle mich mit einem Mal wie auf dem Präsentierteller. Ich werde bei einem Besuch in der Stadt nicht zum ersten Mal fälschlicherweise für jemanden aus der Unterhaltungsbranche gehalten, aber das ist mir nicht mehr passiert, seit ich zwanzig war. Es ist immer unangenehm. »Ich bin kein Model.« Ich zeige ihm meine schmutzige Hand. »Außer, es handelt sich um einen Werbespot für Motoröl.«
»Ich sprach von ihr«, sagt er, hebt eine getrimmte Augenbraue und sieht in Bells Richtung. »Einer unserer Klienten besitzt eine Kleiderlinie für Kinder, und ab und zu buchen wir Kinder, damit sie die Kleidung auf Events vorführen.«
»Oh. Ja, das dachte ich mir.« Ich reibe mir den Nacken. Bells Haar wurde seit heute Morgen nicht mehr gebürstet, und sie hat Joghurtflecken auf ihrem Oberteil, aber was soll's. »Ich habe nur einen Witz gemacht.«
»Keine Sorge.« Er fährt mit den Augen meinen Körper entlang. »Ich kann verstehen, warum Sie das gedacht haben.«
»Wir sind hier, um Sadie Hunt zu besuchen«, sage ich, ehe noch weitere Missverständnisse auftauchen.
»Weswegen?«
»Sie ist meine Tante«, sagt Bell.
»Oh. Natürlich.« Er hebt einen seiner Mundwinkel und winkt eine Frau herbei, die gerade vorbeigeht. »Mindy - das sind Sadies Bruder und Nichte. Bringst du die beiden zu ihr?«
Sie bleibt stehen, und während sie mich mit großen Augen ansieht, schwingt ihr Pferdeschwanz hin und her. »Sadie?«, fragt sie.
»Ja, du weißt schon, die Frau, die dich den ganzen letzten Monat geschult hat«, sagt er. »Die einzige andere Brünette auf dem Stockwerk. Deine Kontaktperson für die IncrediBlast Kampagne.«
»Oh. Richtig. Sadie.« Sie blinzelt, sieht auf Bells Hand in meiner herab und dann in ihr Gesicht. »Du musst Bell sein.«
Bell drückt meine Hand und wippt auf ihren Füßen vor uns zurück. »Sie kennen mich?«
»Sicher.« Sie lächelt. »Sadie spricht ständig von dir. Komm, ich bringe dich zu ihrem Arbeitsplatz.«
Mindy biegt mit uns nach links ab und geht ins nächste Zimmer, einen sonnendurchfluteten, offenen Raum mit großen Fenstern - nicht, dass die nötig wären, denn dort hängt auch ein massiv aussehender Kronleuchter. Alles verdammt schick und überhaupt nicht nach meinem Geschmack. Lange Schreibtische bilden ein Labyrinth aus Reihen, und die Arbeitsplätze jedes Einzelnen werden von Mac-Computern, buntem Schreibzubehör und blendenden Bilderrahmen abgegrenzt. Niemand sieht von seinem Computer auf. Sadies dunkles Haar hebt sich schwarz vor den weißen Wänden und den Möbeln mit den Goldakzenten ab. Sie steht auf, und Bell läuft voraus, um zu ihr zu kommen, aber Mindy begleitet mich bis zu Sadies Schreibtisch.
»Danke, Mindy«, sagt Sadie und wendet sich dann erst mir zu. »Hast du Mindy kennen gelernt? Sie hat gerade erst hier angefangen.«
»Ja, das habe ich.« Ich lächle höflich. Mindy ist eine hübsches Fraz mit einem, wie ich annehme, guten Geschmack. Von allein wäre ich nicht darauf gekommen, aber das hier ist eine PR-Firma für Fashion und Beauty. Würde ich mir nicht solche Sorgen machen, weil Bell und ich das Wochenende über getrennt sind, hätte ich vielleicht sogar ein bisschen mit ihr geflirtet. Aber das wäre auch das höchste der Gefühle im Moment. »Geben Sie uns eine Minute, Mindy?«
»Oh.« Sie nickt hastig. »Natürlich. Es war nett, Sie kennen zu lernen.«
»Andrew«, schimpft Sadie, sobald wir allein sind. »Das war unhöflich.«
»War es das?«, frage ich. »Also, wegen heute Abend -«
»Sie ist süß«, fährt Sadie fort. »Denkst du nicht?«
»Ja.«
Bell hat es sich bereits an Sadies Schreibtisch gemütlich gemacht und ordnet deren Utensilien in Häufchen an. Ich schiele an der Pyramide aus Kugelschreibern und einem Haufen Büroklammern vorbei und schüttle den Kopf. »Ist der Tacker aus Gold?«, frage ich.
»Er ist ver-goldet«, sagt Sadie, als wären >aus Gold< und >vergoldet< zwei völlig verschiedene Welten. Sie sieht zu Bell und kommt näher. »Was hast du an diesem Wochenende vor?«
»Ich bin mir noch nicht sicher.«
»Du hast zwei ganze Nächte für dich«, sagt sie.
»Das weiß ich.«
»Es wäre vielleicht keine schlechte Idee, zu. du weißt schon.«
Ich weiß, was sie damit andeuten will, und meiner Erfahrung nach ist es das Beste, das Thema zu wechseln. Wenn Sadie einmal damit anfängt, die Gründe aufzuzählen, weswegen ich wieder anfangen sollte, mit Frauen auszugehen, tendiere ich dazu, ihr bald nicht mehr zuzuhören.
»Was?«, frage ich. »Zu masturbieren?«
»Bäh - ekelhaft.« Sie verzieht das Gesicht, deutet aber unbeirrt mit einem Nicken in die Richtung, in die Mindy verschwunden ist. »Warum redest du nicht mit Mindy? Sie ist Single. Ich wette, sie würde heute Abend mit dir ausgehen.«
Ich verdrehe die Augen. Sadie glaubt, nur weil ich nicht ausgehe, habe ich keinen Sex. Sie vergisst, dass ich ein Mann bin und nichts, nicht einmal das Dasein als Vater, mich davon abhalten kann. »Wie auch immer«, sage ich. »Wegen dem Wochenende -«
»Keine Sorge«, sagt sie und seufzt genervt. »Wir haben alles unter Kontrolle. Nathan kann es kaum erwarten. Er hat bereits jede Menge Spielzeug für Bell gekauft.«
»Warum? Es ist nur ein Wochenende.«
»Ich weiß. Das habe ich ihm auch gesagt.« Sie berührt sanft ihren Bauch, und ich glaube, sie bemerkt diese Geste nicht einmal. »Er sagt, wir werden ohnehin Spielzeug brauchen.«
»Wie geht es dir?«
»Besser als das letzte Mal, als wir uns gesehen haben. Im Moment habe ich am meisten mit Sodbrennen zu kämpfen.« Sie sagt es so fröhlich, als wäre Sodbrennen etwas, auf das sie sich gefreut hat.
»Hat sich das Baby...