Schweitzer Fachinformationen
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ALS DIE Gräber rund um Omarska ausgehoben wurden und die ersten Prozessberichte in den Zeitungen zu lesen waren, lernte Seka südlich der Jurakette in einer Schwimmhalle mit großer Rutsche, die in weitem Bogen nach draußen in die Kälte und wieder zurück ins warme Innere führte, zu schwimmen, wobei sie mit lautem Geschrei ins Wasser sprang und so lange nicht mehr auftauchte, bis hinter ihr jemand in ihren Rücken zu springen drohte. Sie lernte, die Augen im Wasser zu öffnen und die Luft anzuhalten, und merkte bald, während sie ihre Beine unter Wasser beobachtete, wie sie ihr linkes Bein etwas falsch ausschlug, sodass sie in Folge erhebliche Mühe aufwand, diese Gewohnheit, die Art, wie sie zu schwimmen gelernt hatte, zu überwinden. Sie fürchtete, man würde ihr den Fehler ansehen, und schwamm deswegen langsam, konzentriert und war schnell außer Atem. In Mund und Nase drang das mit Chlor angereicherte Wasser, das sie in großen Mengen schluckte, sodass ihr im Anschluss der Magen schmerzte, und die geröteten Augen kamen erst zur Ruhe, wenn sie unter Ausschluss anderer Blicke in der Kabine im Umkleideraum für einen Moment die Lider schloss.
Es war gleichgültig geworden, was man trug und wer man war. Eingebunden in den Körper, in die Haare, deren Enden, die Spitzen, in die nächste Generation und ihre Gebärden war dasjenige, was mit den Jahren in ihm gehütet und mit den Bewegungen, die den Körper beschäftigten, still gestellt worden war: wohl eine Art Schmerz. Seka sah ihn ihrer Familie an. Die Frauen hatten sich der Kleidung im Laufe der Jahre und Moden nicht entledigt. Sie hatten sie weitergetragen oder in Kisten aufbewahrt und wieder hervorgeholt, die Haarfarbe gewechselt, den Ansatz nicht mehr nachgefärbt und an Eitelkeit verloren. Sie nannten es nicht Befreiung, sagten stattdessen, es sei nun mal, wie es sei, sagten, man habe im Leben gelernt, Schmerzen zu erdulden, habe aushalten müssen, was nicht auszuhalten sei, sagten, man habe sich abends in der Garage versteckt, beim Schuppen gestanden und geweint.
Gab man im Internet »Omarska« als Suchanfrage ein, kamen Einträge vom Gefangenenlager, schließlich der Link von Tripadvisor für die besten Hotels in der Nähe des Bahnhofes.
Im Internet wurden Zimmer für den Sommer ausgeschrieben, für die Rückkehrer.
Für diejenigen, die in der Schweiz, in Australien, in den USA, in Österreich lebten und nach dem Krieg mit ihren Löhnen selbst noch Häuser bauten für die Sommer, die Familie, die Kinder, damit sie wissen, so sagten ihre Eltern, woher sie kommen, ihre Herkunft kennen, ihren Platz in der Welt.
Die Welt: der Pool in Kozarac, das Chlor im Haar, die erste Louis Vuitton vom Fälscher auf dem Schwarzmarkt und die Schlange am Schalter von Western Union.
Omarska verschwand, als ob es das Lager nie gegeben hätte. Aus dem Gedächtnis und der Geschichte ausgeschlossen, zerfiel es in etliche Tabs, die Seka in ihrem Browser öffnete. Lediglich ein paar lose Erinnerungen an die Sommer im Hof, die zahlreichen Käfer an der Fassade bildeten heute die Grundlage, aus der sie den Gegenstand, der ihr Leben war, herausarbeitete.
Als habe er sie zum Verschwinden gebracht, jede Einzelne von ihnen, Mutter wie Tochter, versenkt hinter den Vorhängen, den Sonnenbrillen und abgedunkelten Fenstern. Es war, dachte Seka, während sie ihrer Mutter beim Sprechen zusah, als bliebe nach all den Jahren nur noch das Bild der Bettdecke, die der Vater zurückgeworfen hatte, um sie wach zu rütteln, bevor die Sanitäter ihre Mutter aus der Wohnung trugen. Als bliebe nur noch das Versprechen, das Seka dem Vater damals gab, niemandem davon zu erzählen. So auch die Erinnerung an die Blumen, die sie noch als Kind ihrer Mutter in die Notaufnahme brachte.
Nach wie vor zurückhaltend, als sie am Lausanner Bahnhof sagte, man habe sie damals, als man ihr ein weiteres Mal den Magen ausgepumpt habe, niemals zurückschicken dürfen, nicht zu den Kindern, nicht zu ihrem Ehemann, Sekas Vater.
Bestenfalls: die Häuslichkeit der Lügen, der Bedrohung, dieses Handtuch in den Händen, eine mit Dartpfeilen zerschossene Wand.
Es folgten zwei weitere Versuche, Ereignisse dieser Art, von denen niemand wusste. Schließlich der vierte und letzte Weckruf, Amirs Tod.
Erst dann ging die Mutter.
Dem Boden gleichgemacht.
Und nahm die Kinder mit.
Da waren die im Dreck liegenden Kieferknochen, die Frage, wer wann umgekommen sei, das schon müde Tragen der Wasserflaschen.
Der für den Trans-Amazonian Highway gerodete Wald auf einer brasilianischen Briefmarke aus den 1970er Jahren.
Das Gemälde des Berges Cerro Rico bei Potosí in Bolivien aus dem frühen 16. Jahrhundert, die Silbererze, die Casa de la Moneda mit den Schmelzöfen und den Schmelztiegeln.
Die Stifte, Tragetaschen und die Aufgabe, den Gegenständen ihre Namen zu geben, sie zu ordnen nach Gestalt, Größe und Gewicht, die Wardian cases, mithilfe derer man die aus Übersee nach Europa geschifften Pflanzen durch die Nachbildung der vorherigen Umgebung (Temperatur, Luftfeuchtigkeit) vor dem Eingehen schützte und eine erste koloniale Umwelt nachbildete, sie in Form von Terrarien ins bürgerliche Wohnzimmer des 19. Jahrhunderts holte.
Die wiederholte Bewegung oder Nutzung natürlicher, ökonomischer oder sozialer Ressourcen (frei nach Jochen Oltmer).
Die Frage, welches Überleben den heutigen Erkundigungen vorausging.
Die mit Anmerkungen versehene Druckfahne von Orlando der Autorin Virginia Woolf aus dem Jahr 1928, mit mehrfach durchgestrichener Widmung und korrigierten Kommas. Ihr in den Kolonialdienst beförderter Freund und späterer Ehemann Leonard, von dem sie in ihren Tagebüchern schrieb, er könne ihr zwar Kameradschaft, Kinder und ein geschäftiges Leben geben, von dem sie noch sagte, sie liebe ihn zwar, fühle sich zu ihm körperlich aber nicht hingezogen.
Die für den schweizerischen Nationalstaat irreversible Artikulation eines »Systems« der Gastarbeiterschaft.
Die japanischen picture brides.
Die mit Kreide an die Wandtafel geschriebenen Worte, erst die Globalisierung schaffe Heimat, erst das Fremde das Eigene.
Die Verheiratung japanischer Frauen in Hawaii, die Auswahl der jungen Frauen anhand von Fotografien, den auf Plantagen arbeitenden Tagelöhnern (coolies) zur Heirat angeboten. Eine Herausbildung frühster transnationaler Gemeinschaften, einer mit Kameras festgehaltenen und heute in Archiven katalogisierten ersten Hoffnung auf ein anderes, zukünftiges Leben.
Die Bilder der Liebe als Stirn, als Hosenbein, als Art zu gehen oder als Sprühwolke eines Deodorants.
Die mit dreihundert Kommentaren versehene Todesanzeige des Großvaters auf Facebook.
Die Aufnahmen eines von amerikanischen Wissenschaftlern umstellten Massengrabes, datiert auf das Jahr 1927 in Liberia, mit den Unterschriften forest clearing sowie road construction beim Ausbau der bis dahin größten Kautschukplantage der Welt.
Der Biss in das mit Puderzucker bestäubte Zuckergebäck und die stichfeste Schokolade.
Der Umschlagplatz für die aus dem Balkan versklavten Frauen und Männer, im Venedig des 13. bis 15. Jahrhunderts, wobei die Frauen aus dem Kaukasus, die über den Balkan in die Hafenstädte gebracht wurden, die höchsten Preise erzielten.
Die kroatische Bucht, in der jemand erschiene, den sie beobachten und der ihr gefallen würde.
Herbeigerufen im Lärm der Zikaden, schon von der Hitze träge. Der Junge, der die Strände auf und ab ging und »Krofne« rief.
Ob blond oder braunhaarig. Irgendwelche Wangen vor dem inneren Auge, wahllos, behaart oder noch glatt. Die Träumereien und Gedanken daran, wie man wohl in ein Gespräch kommen würde, noch jugendlich, eigentlich ein Kind.
Die bei Mailand aus dem Fenster gestreckte Hand während der Autofahrt.
Der vom Wetter ausgebleichte Strick am Baum kurz vor der Ankunft, an dem jemand, so die Vermutung, mal hing.
Der zerplatzte Putz des Klosters in Dajla, inmitten der vom Eisen rot gefärbten Erde, mit der Brandung, die den roten Sand wieder von den Füßen wusch.
Da waren die...
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