Schweitzer Fachinformationen
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Im halbdunklen Hausflur roch es nach Kalk, Kohlen und Keller. Das Geländer endete unten in dem mächtigen Kopf eines unidentifizierbaren Tieres mit breitem Schnabel und musste mal schwarz lackiert gewesen sein. Die ausgetretenen Stufen, auf denen das Holz kaum noch vom abgewetzten Linoleum zu unterscheiden war, erzählten von der Mühsal der Jahrzehnte, vom Kohleeimerhoch- und Ascheeimerrunterschleppen, genau wie die knorpeligen Hände des immer kartoffelschälenden alten Mannes im ersten Stock. Als Kind waren mir die dunklen Flügeltüren riesig und die grünen Kachelöfen, die bis zur Decke reichten, gewaltig vorgekommen. Die Zimmerfluchten mit Stuck, Parkettböden und Erkern schienen endlos zu sein.
Der Alte hatte das Haus von seinem Großvater geerbt und es nicht an die Kommunale Wohnungsverwaltung verkauft. Eine seiner vier Töchter wohnte in unserem Aufgang unter Nele, und ihr Kühlschrank stand im Hausflur vor der Wohnungstür, weil er nicht in die Küche passte. Ihr Freund wohnte gegenüber und aß nachts auf der Treppe den Kühlschrank leer. Niemand verstand, warum das so sein musste.
Nele und ich waren gekommen, um die Katzenbabys zu sehen. Die Wohnung war eng und voller großer Pflanzen, Moos, Schildkröten, einem Hund, der wie ein Löwe aussah, und unzähligen Katzen. Vor dem offenen Fenster auf dem kleinen Küchentisch standen dicke Kerzen, dampfende Teetassen und süße Brote. Wir bekamen einen Stuhl hingestellt, wo eigentlich überhaupt kein Platz mehr war, und die Katzenkinder auf die Schöße. Mit dem Feuerhaken legte sie die eisernen Ringe übers Ofenloch. Die Flammen züngelten durch die Ritzen und leckten am Kessel.
«Die guten Geister kommen erst, wenn Feuer im Herd ist», sagte sie. Die riesige Platane vom Hof streckte ihre Zweige in die Küche. Der Regen rauschte auf den ledrigen Blättern, und es war wie im Urwald. Das Haus kam mir vor wie ein großer alter Baum.
Ganz oben im Hinterhaus war eine junge Mutter eingezogen. Sie war neunzehn, das Kind drei. Ein zweites hatte sie im Bauch. Sie saß in unserer Küche und erzählte, dass der Vater bei der Nationalen Volksarmee sei. Urlaub kriege er keinen zur Geburt des zweiten. Er war bei den Eltern gemeldet und nicht mit ihr verheiratet.
Schließlich brachte sie uns das Kleinkind, sagte, sie ginge ins Krankenhaus. Sie lief aber stattdessen mit Wehen zum Wehrkreiskommando. Sie wog neunzig Kilo mit dem Bauch, setzte sich auf die Treppe und verkündete, sie werde ihr Kind dort zur Welt bringen, wenn der Vater nicht sofort nach Hause käme. Er kam ein paar Stunden später, gerade rechtzeitig, hatte einen Tag Zeit, ihr Kohlen in die Kammer zu stapeln, dann musste er zurück. Später begegneten wir ihr auf dem Hof mit einer Kellertür auf dem Rücken. Die wollte sie über die Badewanne legen und darauf ihr Bett bauen. Kohlen hatte sie zu wenig, Geld auch, und so schlief sie mit den Kindern am Gasheizer im Bad.
Gegenüber wohnten die katholischen Zwillinge mit den langen blonden Zöpfen, die ihnen bis in die Kniekehlen baumelten. Sie waren älter als wir und hatten irgendwo eine große Schwester, die nicht mehr nach Hause kommen durfte. Der Vater hatte es verboten.
«Sie hat den falschen Mann geheiratet», sagten die Zwillinge. «Nicht katholisch», flüsterten sie. Nur ihren langen blonden Pferdeschwanz hatte die Schwester dagelassen. Der hing im dunklen Flur am Spiegel. Die Mutter wickelte den Mädchen jeden Morgen ein Haar der Schwester um das Zopfende.
Im Konsum im Vorderhaus durften wir nur einen Liter Milch pro Tag kaufen, damit es für alle reichte. Es reichte aber nie für alle. Wenn einer am Vormittag Schnaps kaufen wollte, konnte es passieren, dass die Verkäuferin schimpfte: «Wat solln dit jetze! Da haste doch 'ne Fahne uff Arbeit! Jib ma her, leg ick dir zurück, kannste Feierabend wiederkomm'!»
Einmal hörten wir sie, über den Ladentisch gebeugt, einer Kundin leise erzählen: «Früher war ick ja Putze bei der Behörde. Jugendamt. Als der Vater von meim Kleen verschwunden is, dacht ick, mach ick 'n jetzt? Hab ick beim Amt jesacht, weeß ick nich, wer der Vater is. Ick bin hier nur Putze, ick dreh mich doch nich jedet Mal um. War die erst mal schockiert. Sollt ick vierzich Adressen angeben, hab ick einundvierzich ausm Telefonbuch abjeschrieben. War den' zu viel für die janzen Vaterschaftstests. Krieg ick den Unterhalt vom Staat seitdem.» Damit lehnte sie sich zurück, die Hand in der Hüfte mit Kittelschürze, zog das Kinn hoch, und die Kundin staunte.
Als die Leute anfingen, über Ungarn in den Westen zu verschwinden, kam immer jemand auf uns zugestürzt, sobald wir im Trabant den Hof verließen.
«Haut ihr ab?»
«Nee. Wir fahren zum See, kommen heut Abend wieder!»
Trotzdem sah man uns misstrauisch hinterher.
Die junge Mutter mit Kleinkind und Baby rief eines Nachmittags an. Ob ich einen Schraubenzieher hätte. «Ja», sagte ich. «Soll ich ihn dir rüberbringen?» Sie lachte.
«Rüberbringen, wirst du mir den nicht können! Ich bin im Westen. Du musst bitte meinen Briefkasten aufbrechen. Ich ruf gleich noch mal an, und dann liest du mir alles vor, ja?» Ich mühte mich erst mit dem Briefkasten und dann mit der Handschrift des Soldaten.
Zur Jugendweihe hatte ich schwarze Lackschuhe getragen, mit Schleife, wie alle Mädchen aus meiner Klasse. Es gab keine anderen in der Jugendmode. Zu Nele sagte ich: «Deine Schuhe nächstes Jahr, die kaufen wir im Westen.»
So kam es. Direkt nebenan hatte sich eine zweite Stadt aufgetan. Die Straße ging einfach weiter, da, wo sie unsere vierzehn Lebensjahre lang zu Ende gewesen ist. Wir liefen planlos durch die neuen Straßen und entschieden abwechselnd an jeder Ecke, ob wir nach rechts oder links gehen wollten. An der Bushaltestelle suchten wir uns Papierschnipsel aus den Mülleimern und hielten sie beim Einsteigen als Fahrscheine hoch.
Am Bahnhof Zoo stand eine Straßenband und spielte Sympathy for the Devil. Sie holten uns dazu, und wir sollten die ganze Zeit «Uuhuuu» singen. Da die Menge nicht aufhörte zu tanzen, konnten wir nicht aufhören zu singen.
Wir stromerten durch die Kaufhallen, die plötzlich Supermärkte hießen, und probierten alles. Wir öffneten jeden Joghurt im Regal, wir beugten uns in die Kühltruhen, holten aus jeder Verpackung etwas heraus und steckten es in den Mund. In den alten Kaufhallen hatte es von allem nur eins gegeben: eine Sorte Milch und Butter, eine Sorte Mehl oder Nudeln. Jetzt gab es endlose Varianten, und wir versuchten herauszufinden, wozu. Vor dem Saftregal fing ich an zu heulen. Ich kannte nur Babysaft. Wenn es den mal gab, war es ein Fest.
Nele besorgte ihre Jugendweiheschuhe allein. Es waren neongrüne Pumps.
«Wovon hast du die denn bezahlt?», fragte ich.
«Na, gar nicht.» Sie zuckte die Schultern. «Dafür haben die im Kaufhaus jetzt meine alten.» Dann zerrte sie ihre Klamotten aus dem Kleiderschrank. «Ich will den ganzen Ostscheiß nicht mehr anziehen!» Sie stopfte alles wahllos in Mülltüten, und ich zog es wieder heraus. «Kannste alles haben», sagte sie.
Nele nahm mich nicht mit, wenn sie durch die Läden zog und sich neu einkleidete. Geld nahm sie auch nicht mit. Als sie von der Polizei nach Hause gebracht wurde, war ihr Kleiderschrank längst wieder voll.
Niemand ging mehr regelmäßig in die Schule, selbst die Lehrer nicht. Alte Schulbücher flogen zerfetzt im Treppenhaus herum. Die Jungs sprangen über die Tische, und unsere Lehrerin stand vor der Klasse, rührte in einem imaginären Topf und sprach zur Beruhigung mit sich selbst: «Ich koche, ich koche, ich koche .» Oder sie hielt imaginäre Zügel: «Ich reite, ich reite, ich reite .» Irgendwann stellte sie sich aufs Fensterbrett und sagte: «Wenn noch einer ein Wort sagt, spring ich.»
Einer rief: «Spring doch, wir brauchen dich sowieso nicht mehr!» Da rannte sie kreischend durchs Schulhaus.
Unser Russischlehrer, der immer vor die Tür gegangen war, um einen Schluck aus seinem Flachmann zu nehmen, trank jetzt offen im Unterricht. Der Deutschlehrer, der den Mädchen für jede Eins einen Kuss gegeben hatte, küsste uns jetzt auch für alle anderen Zensuren. Die Chemielehrerin wusste nicht mehr, was sie auf die Zeugnisse schreiben sollte, und spielte mit den Schülern Skat um die Zensuren. Nur unseren rothaarigen Geschichtslehrer, den wir den «Urmenschen» nannten, nahmen wir noch ernst. Er hatte sich einen Videorekorder gekauft und zeigte uns Blutige Erdbeeren, Die Blechtrommel und 1900 in seinem Wohnzimmer. Er schien es genauso lustig zu finden wie wir, dass keiner mehr wusste, wie es weitergehen sollte.
Nele und ich tanzten auf unserem Hausdach um die Schornsteine und waren glücklich, dass sich unsere sozialistischen Zukunftsaussichten im letzten Moment in nichts aufgelöst hatten. Wir mussten keine technischen Zeichnerinnen im Bergmann-Borsig-Betrieb werden und auch keine Lehre im Textilkombinat machen. Ins Wehrerziehungslager mussten wir auch nicht. Wir waren frei und gerettet.
Das leer gewordene Haus füllte sich wieder. Die junge Mutter kam zurück aus dem Auffanglager Marienfelde, mit Mann und Kindern und einer geförderten Ausbildung zur Finanzkauffrau in Westberlin. Aus der dunklen Parterrewohnung im Vorderhaus wurde ein selbstverwaltetes Bordell. «Die brauchen keen Tageslicht», sagte der Alte.
Drei junge Frauen hatten sich die Wohnung mit viel Plüsch eingerichtet. Ich sah sie auf dem Hof rauchen und wunderte mich, dass sie ganz normal aussahen. Sie hätten Krankenschwestern sein können. Nach einem halben Jahr suchten sie sich etwas anderes. Nicht...
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