Schweitzer Fachinformationen
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Die Grafikerin Jef schlägt sich in der Großstadt mehr schlecht als recht durchs Leben. Als in einem mondänen Urlaubsort ein Stipendium ausgeschrieben wird, gerät Jef durch eine übermütige Lüge unter die fünf ausgewählten Künstler.
Dank ihres frisierten Lebenslaufs zieht sie in die marode Villa Strand. In der Gruppe kommt Jef sich vor wie eine Hochstaplerin; und sie ist es ja auch. Ist Jef zu ungebildet, um die elitäre Kunst zu verstehen, oder steht sie in Wahrheit vor einer Fassade?
Die ohnehin schon wechselhafte Dynamik läuft durch das Auftauchen einer alten Frau aus dem Ruder. Die Frau ist der Familie Strand offenbar ein Dorn im Auge. Jef beginnt, der Geschichte auf den Grund zu gehen.
Jef fühlt sich wie am ersten Schultag im Gymnasium, als würden sie auf einen Lehrer warten, der die Klasse kommandiert. »Ich erwarte dringend ihr pünktliches Erscheinen«, sagt Vin in gespielt herrischem Tonfall und sieht zur großen Wanduhr. »Habt ihr auch mit dieser Frau telefoniert?« Hätte er nicht so schlechte Zähne, würde er gut aussehen, findet Jef. Die Zähne geben ihm etwas Verruchtes. Sie stellen einander die üblichen Fragen, über Herkunft und Kunstsparte. »Ich mache Collagen«, sagt Jef so neutral wie möglich. Dass Vin Schmuckgestalter sein soll, irritiert sie.
Sunny ist Tänzerin, und das scheint, wenn Jef ihren zappligen Körper betrachtet, überhaupt die einzige Möglichkeit. »Können wir mal Holz nachlegen, oder so?« Sunny stellt sich hin, um einen Überblick zu haben. Sie trägt bis auf die Nägel nichts Auffälliges. Ihre Augen sind unglaubwürdig groß, sie könnten aus einen Animationskinderfilm geliehen sein. Die Wimpern, so lang und dicht, dass es schwer sein muss, die Lider zu heben. Es sieht aus, als wäre ihr Gesicht noch neu, als müsste Sunny erst lernen, es zu tragen.
»Hier muss es doch Holz geben.« Sie sieht hinters Sofa und dann Wolf an, als wäre es seine Aufgabe. Wolf trägt ein albern gemustertes buntes Hemd und hat viel zu kräftige Arme für einen Lyriker. Die verschränkt er, nachdem er eins der Programmhefte auf den Tisch geworfen hat.
»Wir können ja die ganzen Druckerzeugnisse verbrennen«, sagt er und sieht nach oben. »Oder die klapprige Empore verfeuern, bevor sie uns auf den Kopf fällt.«
Oleksii blickt erschrocken von seinem Handy auf und betrachtet die Galerien an beiden Saalenden. »Meinst du, die können runterkommen? Oh Gott, die sehen ja gar nicht gut aus. Gruselig hier alles. Aber echt.« Er stützt die Arme auf die Knie und reibt nervös seine Hände.
»Ich find's cool. Ist doch total vintage!«, sagt Sunny.
Vin behauptet, viel unheimlichere Häuser zu kennen. »Zum Beispiel das Hotel in Caracas, in dem ich ausgeraubt wurde. Das war wirklich gruselig.« Das schrecklichste Haus allerdings sei das Nachbarhaus gewesen, neben dem er aufgewachsen sei. Vin hat ein seltsam grobes Gesicht. Etwas Verletztes, das womöglich niemals heil war, ist in seinem Blick, oder in seiner Haltung, oder um ihn herum. Seine Augen kippen zur Nase hin nach unten, sind leuchtend grün und betteln Jef an, überhaupt beachtet zu werden unter seinem roten Haar. Er trägt einen mintgru¨nen weichen Pullover, und Jef setzt sich vielleicht wegen des Pullovers neben ihn. Vin spricht laut und tief, sodass alles gewaltiger klingt, als es womöglich klingen soll. Seine Stimme fu¨hlt sich neben ihm an, als benutze sie auch Jef als Klangkörper.
»Von außen sah es ganz unauffällig aus. Aber drinnen war es die blanke Hölle. Das hatte sogar lange nachdem alle ausgezogen waren noch eine ganz böse Energie, die hat man kilometerweit gespürt. Dagegen ist das hier ein Paradies von einem Haus.« Wolf will wissen, wo er aufgewachsen sei. Vin sagt nur: »Ach, so ne asoziale Vorstadt«, und greift nach den Keksen. »Das wird gleich einen guten Eindruck machen, wenn wir das ekelhafte Gebäck aufgegessen haben.« Mit einer so kräftigen Stimme, die besser zu Wolf passen würde, dürfte man eigentlich keine belanglosen Sachen sagen.
»Ich weiß nicht, ob ich hier komponieren kann«, sagt Oleksii mit zusammengezogenen Schultern, steht auf, geht an den schwarzen Flügel und schlägt im Stehen ein paar Tasten an. »Und es ist echt zu kalt. Zum Spielen brauch ich warme Finger.« Er schließt den Klavierdeckel, wippt beim Gehen, dass die Bänder seiner Kapuzenjacke schlenkern, und setzt sich wieder. Er trägt Jeans in beige. Rentnerfarbe, denkt Jef. Seine zerbissenen Lippen mit Hautfetzen fallen ihr auf und dass er zu viele Zähne hat, als hätte jemand alle Klaviertasten in seinem Mund unterbringen wollen.
Jef nimmt eine der Broschüren vom Tisch und blättert darin. Künstler, die hier im Haus gewohnt haben, Namen, Fotos, Texte. Jefs Brustkorb zieht sich zusammen, drückt ihr die Luft ab, bei der Vorstellung, dass man so etwas auch von ihr erwartet. Eine Künstlerin hat aus Ästen Buchstaben gebaut und in die Landschaft gekrakelt. Sie steht daneben, mit verbissenem Gesicht. Jef hofft, an so einer steifen Veranstaltung nicht teilnehmen zu müssen, bei der die verklemmten Streber sich zusammengeschlossen haben, um für immer mit der Schule weiterzumachen. Ein Haufen Papierschnipsel, der »Weißes Geräusch« heißt, ein unsinniges Gedicht dazu, Trauben aus Wachsperlen, ein Regal voller eingeschweißter Bettdecken. Ein paar Künstler stehen mit Stolz vor ihren Werken, andere wie ängstliche Heimkinder, die auf ihre eigene Versteigerung warten. Statt der Erklärungstexte in gestelzter Sprache könnte Jef ein Buch mit mathematischen Formeln lesen. Es gäbe ihr dasselbe Gefühl, zu dumm zu sein.
*
Jennifer war fünfzehn, als sie Rita zum ersten Mal begegnete. Rita hockte im Gebüsch hinter den Ställen und zischte sie an. »Hey, gehst du rüber? Holst du mir 'n' Kaffee? Cappuccino mit Zucker! Ohne umrühren.«
Jennifer brachte ihr den heißen Pappbecher aus der lauten Bauernmarkthalle ins Gebüsch, obwohl sie gar nicht vorgehabt hatte, in die Halle zu gehen und an der langen Schlange zu stehen. Jennifer war nur auf der Suche nach einem Ort, an dem sie sich verstecken konnte. Genau wie Rita im Gebüsch. Es war Vorschrift, sich von den Ställen zu entfernen, sobald sie die Nester mit Eiern gefüllt hatten. Sie durften von den Besuchern nicht gesehen werden. Zwei bis drei Eier in jedes Nest. Wie frisch gelegt sollte es aussehen. Die Paletten holten Jennifer und Rita aus einem Holzverschlag und liefen damit zwischen den verwirrten Hühnern hin und her, um alle Viertelstunde die Nester zu füllen, während die Besucher mit der »Eierbahn« über den Bauernmarkt kutschiert wurden. Es war ein bunt bemalter Traktor mit offenen Anhängewagen, in denen dicke Großeltern eingezwängt saßen, mit Kindern auf den Schößen. Körben und Einkaufstaschen. Die Bahn hielt vor dem Kuhstall, wo die Besucher saubere Kälbchen in goldgelbem Stroh streicheln durften. Die nächste Station war der Hühnerstall, wo man leere Eierpackungen an die Besucher verteilte und sie im Stall die Nester leer räumen ließ. Die Hühner gewöhnten sich keine fünf Minuten an dieses idiotische Theater. Sie hatten es sofort vergessen, sobald die Besucher aus der nächsten Eierbahn den Stall plünderten. Jedes Mal liefen sie empört gackernd durcheinander. Rita machte sich lustig über die Besucher mit ihren Hamstertaschen, die sich offenbar nicht fragten, wie fünfzig Hühner jeden Tag sechshundert kalte Eier legen konnten. Trotzdem hatte Rita mit den gestressten Hühnern mehr Mitleid als Jennifer. Einmal weinte Rita, als sie ein Ei fallen gelassen hatte. Sie entschuldigte sich bei den Hühnern, wollte sie streicheln, konnte keines fangen.
An jedem der sechs Sommerferienwochenenden saßen Jennifer und Rita den halben Tag lang im Gebüsch. Nach Feierabend bekamen sie an den Marktständen die Reste geschenkt. Jennifer hätte es nicht gewagt, nach u¨brig gebliebenem Essen zu fragen. Sie hätte es auch nicht geschafft sich, wie Rita, so überschwänglich zu bedanken, als die Verkäufer schon Restetüten vorbereitet hatten für die beiden Hühnermädchen. Mit vollen Taschen stellten sie sich in die Schlange vorm Büro, um ihren Lohn abzuholen, der in Butterbrottüten ausgegeben wurde, fuhren mit der historischen Eisenbahn über die Dörfer bis zum Bus, aßen Brötchen, Kräuterquark, Bouletten und Erdbeeren. Rita hatte zu viele Ideen, was sie mit dem Geld machen wollte. Für jede Idee wäre es zu wenig gewesen. Jennifer wollte sparen für ihren Führerschein.
Rita wohnte ein paar Stationen weiter, in der Innenstadt. Kurz bevor Jennifer aussteigen musste, sagte Rita: »Weißt du was? Ein Name mit Ypsilon am Ende ist wirklich eine Demütigung!« Sie kniff ein Auge zu, zielte mit dem Zeigefinger auf Jefs Brustbein und sagte: »Ich benenne dich hiermit um in Jef!«
Jennifer sah dem abfahrenden Bus hinterher. Auf dem Heimweg begann ihr der neue Name zu gefallen. Es wurde Zeit, Jef zu werden.
Als ihre Großmutter im Herbst starb, wurden die Eltern die einzigen Menschen, die noch Jenny zu ihr sagen durften.
Die Hausherrin kommt durch eine Tür in der hölzernen Wandtäfelung, die vorher niemand bemerkt hat. Sie breitet die dünnen alten Arme aus, an denen Reifen klappern, und verursacht einen Wind, der ihr weites Gewand Wellen schlagen lässt. »Willkommen, ihr begabten Gestalter und musischen Erfinder«, ruft sie exaltiert, während ein wesentlich kleinerer Mann mit den Händen in den Hosentaschen hinter ihr hergeht wie angeleint. Theatralisch stellt sie sich an das Tischende und wirft Jef, die sofort die Beine vom Sofa nimmt, einen strafenden Blick zu. »Willkommen in unserem herrlichen, kulturell leider vollkommen verwahrlosten Refugium«, sagt sie etwas leiser. Sunny rutscht, als die Frau Anstalten macht, sich neben sie zu setzen. Sie setzt sich aber nicht, sondern beugt sich hinunter und packt Sunnys Kinn. »Na, das ist ja süß«, sagt sie und klappert sinnlos mit den Augen. »Hattet ihr eine gute Anreise? Oh, und ihr habt euch Feuer gemacht, wie ich sehe. Es ist ja bestimmt kalt gewesen!« Sie reibt ihre Hände. »Wann hatten wir die Heizung angeschaltet, Tigerlein? Gestern? Vorgestern?« Sie sieht zu ihrem Mann, der mit den Schultern zuckt. »Ich hab hier nichts angeschaltet.«
»Und ihr habt euch Gebäck besorgt«, sagt sie. »So soll es sein. Fühlt euch wie zu Hause. Dies ist ein Ort, an dem ihr ganz ungestört in eurer Kunst, äh« - sie schwenkt die Arme, als wolle sie Ballonbrüste andeuten, »schwelgen...
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