Schweitzer Fachinformationen
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Prolog
Der Himmel über Delphi ist dunkel. Es herrscht Stille. An diesem heiligen Ort singen die Vögel noch nicht. Nur eine Fackel bewegt sich wie ein Glühwürmchen durchs Unterholz, als ein Mann auf einem gewundenen Pfad die Hänge des Parnassos zum Orakel der Götter hinansteigt. In der Felsspalte, in der die Prophetin wohnt, verwischen die Grenzen zwischen sterblich und unsterblich, sie zerreißen wie ein Schleier; die Worte der Götter dringen durch die Ritze zu den Menschen. Alles ist fremd und merkwürdig. Eine Sterbliche spricht in den Zungen der Götter. Beißender Dampf weht durch Risse im Boden aus der Unterwelt herauf. Eine Höhle, in der eine Priesterin über heiligem Rauch vor sich hin murmelt, wird das größte Heiligtum überhaupt werden. Sie wird Pilger aus aller Welt mit Gaben aus Gold für die Seherin anlocken und mit Marmormonumenten geschmückt sein. Könige werden auf den Knien hierherrutschen, um die Befehle der Götter zu empfangen und ihre Zukunft an den Worten einer irren Priesterin auszurichten, sodass nach dem Willen der Unsterblichen Reiche entstehen und vergehen.
Hier, in der Esse der Götter, wird das Schicksal geschmiedet.
Die erste Prophezeiung steht unmittelbar bevor.
Als der Mann den Wald hinter sich lässt, wirft das Licht seiner Fackel Schatten auf die Felswände. Seine Schuhe zerdrücken den auf dem Boden ausgestreuten getrockneten Salbei. Er betritt die Höhle geduckt, ätzender Schwefelgeruch steigt ihm in die Nase. Sobald seine tränenden Augen sich an die Düsternis gewöhnt haben, sieht er die Frau, die über die Glut des Feuers gebeugt steht, die Haare lose über der Schulter. Sie schaut ihn mit starrem Blick an.
»Du bist gekommen«, sagt sie mit belegter Stimme, als hätte sie lange nicht gesprochen.
»Du bist Pythia?«
»Und du bist Alkides.« Das ist keine Frage, sondern eine Feststellung.
Er zögert erstaunt. »Ja, ich bin Alkides, Sohn von Zeus und Alkmene, Nachkomme von Alkaios.«
Sie neigt sich über die Glut zu ihm. »Und du möchtest eine Auskunft von mir.«
Wortlos lehnt er die Fackel an die Felswand, sodass der Rauch in der Höhle sich orangegolden färbt, und kniet vor ihr nieder. »Ja.«
Kurz schweigt sie, bevor sie ihn auffordert: »Dann frag.« Sie stochert mit einem Stock in der Asche. »Deshalb bist du doch aus dem fernen Theben zu mir gekommen.«
Er schluckt; seine Miene verrät Unsicherheit. Plötzlich wirkt er sehr viel jünger als noch ein paar Minuten zuvor, wie ein Knabe, der wissen möchte, wohin er gehört, warum er hier ist. Warum sein Vater ihn nicht wollte.
»Ich würde gern erfahren«, sagt er mit überlauter Stimme, »wie ich ein Gott werden kann.«
Die Seherin holt so tief Luft, dass die Höhle erbebt. Die Fackel verlöscht, nun spendet nur noch die rote Glut Licht. Dichter Rauch steigt um die Priesterin herum auf, sie verdreht die Augen. Das Weiße und die roten Äderchen werden sichtbar.
»Pythia?« Der Mann macht einen Schritt auf sie zu, als wollte er sie stützen, doch ihre raue, in der Dunkelheit hallende Stimme hält ihn zurück. Sie klingt wie ein Echo der Geister im Tartaros:
»Du bist von Zeus auserwählt, als Sohn eines Gottes und Anführer von Menschen über die Helden Griechenlands zu herrschen, doch der Zorn Heras steht dir im Weg. Wird sie nicht besänftigt, führt sie deinen Niedergang herbei. Zeus hat sie, seine Gattin, vor Jahren mit Alkmene betrogen und dich mit jener gezeugt. Diesen Fehltritt kann die Königin der Götter ihm nach wie vor nicht verzeihen. In ihrer Eifersucht zürnt Hera dir, weil du sie daran erinnerst.«
Wieder holt sie rasselnd Luft, ihr Brustkorb hebt sich, und ihr Kopf sinkt nach vorn, als wäre die Kraft der Götter, die sie durchströmt, zu viel für ihren sterblichen Körper.
»Wenn du sie besänftigen und im Olymp wohnen möchtest: Höre meine Warnung und gedenke ihrer. Zwölf gefährliche Arbeiten warten auf dich, die noch kein Mensch vor dir geschafft hat und auch nach dir keiner mehr schaffen wird. Du wirst wilde Bestien erschlagen und Löwen zähmen, gegen Vögel mit Bronzeschnäbeln und Stiere mit Feuerodem kämpfen, wie es sich für den besten und größten Helden Griechenlands geziemt.
Du wirst diese Aufgaben für Eurystheus, den König von Tiryns, erledigen und zehn Jahre lang bei seinen Söhnen und seiner Tochter leben.
Vor dir liegen zwei mögliche Schicksale, zwei Pfade zum Tod. Nur du selbst kannst entscheiden, welchen du wählst. Wenn du von Theben fortgehst und die Arbeiten annimmst, wirst du deine Heimat nie mehr wiedersehen, doch Zeus erhebt dich zum Gott, das hat er geschworen, und Sterbliche auf der ganzen Erde werden dich bis in alle Ewigkeit verehren, dich, den Sohn eines Gottes. Und Hera hat versprochen, dass sie dich, wenn du diese Aufgaben bewältigst, akzeptiert und du fortan als Herkules bekannt sein wirst.
Aber wenn du versagst oder dich weigerst, die Arbeiten zu erledigen, wird sie dafür sorgen, dass du der Vergessenheit anheimfällst, dass niemand mehr deinen Namen kennt und du niemals unsterblich wirst.«
Sie verstummt, ihr Kinn sinkt auf die Brust. Das gespenstische Licht erlischt, der Nachhall des Tartaros verklingt. Nun ist es in der Höhle wieder dunkel. Der Mann, der später als Herkules bekannt sein wird, sieht die Priesterin an, wartet auf mehr.
»Ich kann frei entscheiden?«, fragt er schließlich mit finsterer Miene, als sie den Kopf hebt. »Ich bin zu dir gekommen, um Antworten zu erhalten, wollte meine Bestimmung, den Spruch der Schicksalsgöttinnen, ergründen und erfahren, was ich tun soll.«
»Das hängt davon ab, was du selbst möchtest.«
Er beugt sich vor. Seine Antwort kommt so schnell wie ein Windstoß. »Unsterblichkeit.«
Sie mustert ihn. Schwefeldampf kräuselt sich zwischen der schwer atmenden Priesterin und dem Mann, der voller Tatendrang und Leidenschaft ist.
»Du scheinst deine Wahl bereits getroffen zu haben, Sohn des Zeus.«
Auf dem Olymp erhebt sich eine der Musen von ihrem Sitz im Saal der Schicksalsgöttinnen. Verborgen hinter einer Säule am Ende der Kolonnade, von wo aus sie beobachten kann, ohne selbst gesehen zu werden, hat sie die ganze Nacht über dem Treiben der Völker auf der Erde zugeschaut. Die rosigen Fingerspitzen der Morgendämmerung wandern über den Horizont, tauchen das Land in sanftes Licht und lassen die Vögel, die über der Küste dahinfliegen, wie Tintenkleckse erscheinen. Für die Sterblichen, die in ihren Behausungen im Tal erwachen und sich daranmachen, die Wiesen mit ihren Sensen zu mähen oder die Trauben von den Rebstöcken zu ernten, beginnt nur wieder ein neuer Tag. Doch im Schatten der Nacht hat ein neues Zeitalter begonnen. Die Muse erhebt sich, zieht ihren Umhang enger um den Leib und ihre Kapuze tiefer in die Stirn.
Endlich ist es so weit.
In der Dunkelheit schleicht sie zu einem Alkoven und schiebt einen Paravent zurück, der so bemalt ist, dass er dem Marmor der Säulen ähnelt. Dahinter kommt ein fleckiges altes Zedernholzkästchen mit Bronzeschloss zum Vorschein. Der Saal wird lediglich von einigen Öllampen erhellt, die bereits am Verlöschen sind, doch Kalliope, die Älteste der Musen, braucht kein Licht, um sich zurechtzufinden. Ihr Blick huscht über Regale und Tische voller Papyrusrollen und über Tintenfässer. Sie hält Ausschau nach Eindringlingen und Spionen. Der Saal ist leer; sie nimmt keine Schatten und kein Flüstern wahr, die ihr verraten würden, dass sie beobachtet wird. Kalliope zieht einen Schlüssel aus ihrem Umhang und schiebt ihn in das Schloss. Kurz herrscht Stille, dann ertönt ein Klicken. Der Deckel öffnet sich.
Da sind sie, die drei goldenen Äpfel, die sie und Hermes damals bei Heras und Zeus' Hochzeitsfeier gestohlen haben. Die Erdgöttin höchstpersönlich hatte einen Apfelbaum aus geschmolzenem Gold geformt, um diese Ehe zu segnen. Als der Geruch von Zedernholz, vermischt mit dem von jahrhundertealtem Staub, aufsteigt, gestattet sich Kalliope einen kurzen Moment der Erinnerung. Während des Festes, bei dem die Götter ziemlich tief ins Glas schauten, hatte sie Hermes, dem Gott der Diebe und Betrüger, zugeflüstert, was sie plante. Zusammen waren sie, als die Nacht ihren dunklen Schleier über den Festsaal breitete, zu dem goldenen Apfelbaum geschlichen, und sie hatte, während Hermes Schmiere stand, seine Früchte gepflückt. Kalliope lächelt bei dem Gedanken daran, wie ob ihrer Dreistigkeit die Erde unter ihnen bebte, wie sie über den sich hebenden und senkenden Boden wegrannten, wie sie die drei Äpfel an ihre Brust presste. Wie Hera am folgenden Tag von ihrem Ehebett aufstand, zum ersten Mal den Eichenlaubkranz auf ihr Haupt setzte und bemerkte, dass die Äpfel verschwunden waren. Wie sie wütete, ohne zu wissen, von wem sie entwendet worden waren. Wie sie daraufhin die drei Töchter des Atlas als Wächterinnen, eine für jeden der verlorenen Äpfel, aufstellte und den Baum in einen Garten am Ende der Erde verpflanzte, damit niemand mehr die Königin der Götter bestehlen konnte.
Kalliope lässt die Spitze ihres Zeigefingers über die glatte Oberfläche der Äpfel gleiten wie eine Mutter, die die Wange eines Neugeborenen liebkost. Drei Kugeln, glatt und rund und im matten Licht der Lampen glänzend, die Stiele wie goldene Fäden, nebeneinander in einer Kiste, deren Holz mit Goldschnitzereien verziert ist.
Drei, denkt sie.
Einer für jede von ihnen.
Sie blickt in dem Wissen über die Schulter, dass sie...
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