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Kapitel 2
Jules
Das Segelschiff hebt sich majestätisch vor der untergehenden Abendsonne ab. Mein Atem stockt, es ist viel größer, als ich es mir vorgestellt habe. Ich schätze die Länge auf ein Fußballfeld, vielleicht sogar eineinhalb. Die cremefarbenen Segel an den fünf Masten sind ordentlich aufgerollt, das Schiff liegt ruhig im Hafenbecken von Los Angeles. Möwen ziehen gierig ihre Kreise über dem Oberdeck, auf der Suche nach Essensresten. Sie werden keinen Erfolg haben, noch ist kaum jemand auf dem Schiff. Die Crew und die Professoren reisen zwar heute schon an, aber die Studierenden folgen erst morgen.
Erleichtert, nach dem langen Flug endlich anzukommen, steige ich aus dem Taxi aus und lasse mir vom Fahrer mit meinem Gepäck helfen. Ich bedanke mich bei ihm und wende mich zum Schiff um. Sofort breitet sich ein Kribbeln in meinem Innern aus. Durch die tiefstehende Sonne wirft die Sapient Sailor einen großen Schatten auf den Pier, in dem die Hitze des Tages erträglich ist. In der Ferne höre ich das regelmäßige Rumpeln, wenn im Hafen Container verladen werden, und das Tuten von Schiffshörnern.
Ich schlinge mir die Gitarrentasche über die Schulter und greife nach dem Henkel des Koffers, um mich in Bewegung zu setzen, als hinter mir ein weiteres Taxi auf den Pier brettert. Es scheint den Hafenbereich mit einem Fast&Furious-Film zu verwechseln und driftet mit quietschenden Reifen auf mich zu. Erschrocken mache ich einen Satz zurück, während es abrupt vor mir zum Stehen kommt. Die Tür öffnet sich, und eine Frau steigt aus.
Nein. Ich blinzele heftig. Das kann nicht sein, meine Augen müssen mir einen Streich spielen, weil ich seit mittlerweile zweiundzwanzig Stunden auf den Beinen bin. Doch meine Sitznachbarin aus dem Flugzeug löst sich leider nicht in Luft auf.
Sobald sie auf dem Pier steht, bekreuzigt sie sich. Mir fällt auf, dass sie ein bisschen grün um die Nase ist. Kein Wunder bei dieser Fahrweise. Zum Glück habe ich den Taxirennfahrer nicht erwischt. Dieser stellt einen Koffer neben ihr ab, bevor er sich von ihr verabschiedet und davonrast.
Erst jetzt schaut sie auf, entdeckt mich und hält perplex inne. »Du?«
»Ich bin auch nicht besonders begeistert, dich zu sehen«, erwidere ich, woraufhin sie schuldbewusst den dunkelroten Fleck auf meiner Brust mustert. Es sieht aus, als hätte mich jemand angeschossen. Dass ich nicht von der Polizei angehalten wurde, gleicht einem Wunder. Dafür habe ich am Flughafen haufenweise skeptische Blicke kassiert.
»Arbeitest du auf der Sapient Sailor?«, fragt sie.
»Ja, als studentische Hilfskraft.«
»Ich auch! Wahrscheinlich saßen wir deshalb im Flugzeug nebeneinander. Ich bin übrigens Elisa.«
Na super. Meine Hoffnung, sie nach der Landung nie wieder sehen zu müssen, ist damit offiziell zerschlagen. Schlimmer noch, wir werden die nächsten Monate auf demselben Schiff verbringen. Es hat eine Fläche von knapp 3000 Quadratmetern, was ungefähr einem Supermarkt entspricht. Unsere Wege werden sich demnach häufig kreuzen.
»Jules«, murmele ich.
»Eigentlich hätten wir auch mit demselben Taxi herfahren können. Unverschämte hundert Dollar hat der Fahrer von mir verlangt. Dabei hätte er mir diese Summe als Schmerzensgeld zahlen sollen, weil er gefahren ist, als würde er uns beide umbringen wollen!« Elisa schnaubt, bevor sie zu lächeln beginnt. »Wie auch immer, jetzt sind wir ja hier. Ich freue mich so!«
Euphorisch greift sie nach ihrem Koffer und läuft los. Sie trägt enge Sportleggings, die ihre curvy Figur betonen, ein schwarzes Oversizedshirt, und um den Hals liegen weiße Over-Ear-Kopfhörer.
Ich folge ihr über den Pier bis zur Gangway. Daneben steht ein provisorischer Klapptisch, über den ein Sonnenschirm gespannt ist. Ein Mann sitzt daran und ist in seinen Laptop vertieft. Um ihn herum sind verschiedene Papierunterlagen und Umschläge ausgebreitet.
Er schaut auf, sobald wir näher kommen. »Guten Abend. Ich bin Professor Waldmann, Dekan für Nautik und der Kopf der organisatorischen Leitung. Gehören Sie zur Crew?«
»Nein, wir sind studentische Hilfskräfte«, antwortet Elisa voller Begeisterung. Sie wirkt so energiegeladen, als wäre sie nicht gerade einmal um die halbe Welt geflogen. »Mein Name ist Elisa Wilson.«
»Ich bin Jules Bühler.«
Professor Waldmann tippt etwas in seinen Laptop ein und runzelt dann die Stirn. Er schaut wieder auf und wirft mir einen Blick zu, der mich beunruhigt. »Jules, sagten Sie?«
»Ja.«
»Es tut mir schrecklich leid, aber es sieht so aus, als hätte es einen Fehler gegeben. Sie wurden beide für eine Frau gehalten und dadurch einer Kabine zugeteilt.«
Mir wird schlagartig heiß. Ich kann nicht glauben, dass mir das schon wieder passiert. Regelmäßig werde ich wegen meines Vornamens mit »Frau Bühler« beim Arzt aufgerufen oder in E-Mails angeschrieben. Wann immer ich mich bei meiner Mutter darüber beschwere, präsentiert sie mir ihre halb zerfallene Ausgabe von Die Reise zum Mittelpunkt der Erde des französischen Schriftstellers Jules Verne. Während sie vor knapp vierundzwanzig Jahren mit mir in den Wehen lag, hat sie die Geschichte komplett durchgelesen und sich in jede Zeile verliebt. Ihrer Meinung nach sollte ich mich glücklich schätzen, nach einem so talentierten Mann benannt worden zu sein.
Ich räuspere mich. »Es ist doch sicher möglich, einen von uns beiden auf eine andere Kabine umzuverteilen, oder?«
Er tippt etwas in seinen Laptop ein, bevor er das Gesicht verzieht. »Leider nein. Alle Kabinen auf dem Schiff sind voll belegt.«
»Oje, und jetzt?«, fragt Elisa.
»Ich kann da leider wirklich nichts machen, demnach bleiben uns nur zwei Möglichkeiten. Entweder teilen Sie sich die Kabine oder einer von Ihnen reist wieder ab.«
Mein Magen verkrampft sich. Das ist der schrecklichste Neuanfang aller Zeiten! Anscheinend will mir das Schicksal mit jeglichen Mitteln zeigen, dass ich niemals in dieses Flugzeug nach L.A. hätte steigen dürfen. Dass ich einfach hätte in Zürich bleiben, mein Medien- und Kommunikationsmanagement-Studium ohne Urlaubssemester fortsetzen und mir eine eigene Bleibe suchen sollen, nachdem ich seit drei Monaten auf der Couch meines Kommilitonen Theo geschlafen habe.
»Ich werde auf gar keinen Fall abreisen«, stellt Elisa klar. »Der Job ist mir sehr wichtig, dafür bin ich hier, nicht um Urlaub zu machen. Es ist daher kein Problem für mich, mir mit Jules eine Kabine zu teilen.«
Soll ich auf meinem Platz auf der Sapient Sailor bestehen, selbst wenn ich sechs Monate lang neben einer fremden Frau schlafen muss? Allein der Gedanke sorgt für eine Gänsehaut. Hoffentlich schnarcht sie nicht, denn ich kann mich einfach nicht überwinden, abzubrechen. Ich habe den Job angenommen, um über Jana hinwegzukommen. Jetzt zurückzufliegen, würde sich wie versagen anfühlen. Nein, ich brauche eine neue Umgebung, brauche Abstand, und noch dazu wird sich das Auslandssemester hervorragend in meinem Lebenslauf machen.
»Für mich geht das ebenfalls in Ordnung«, sage ich. Es fühlt sich so an, als würde ich damit endgültig mein Schicksal besiegeln.
Professor Waldmann überreicht uns jeweils einen Umschlag, in dem sich unsere Bordkarten befinden. Diese sind zugleich Ausweise, Kabinenschlüssel und Zahlungsmittel.
»Finden Sie sich morgen früh bitte pünktlich um acht Uhr auf dem Horizontdeck ein. Dort wird es etwas zum Frühstück geben, und anschließend werden Sie in Ihre Aufgaben für die Anreise der Studierenden eingewiesen. Jules, Sie werden in den kommenden Monaten die meiste Zeit unter meiner Führung arbeiten und hauptsächlich für die schiffsinterne App SailUp verantwortlich sein sowie mich administrativ und in der Veranstaltungsplanung unterstützen. Elisa, Sie werden im Studienbereich Sprache tätig sein. Ihre Betreuerin Professorin Roth lernen Sie morgen früh kennen. Teilweise werden Sie beide auch bei den anderen Studiengängen oder auf dem Schiff eingesetzt werden, falls Hilfe gebraucht wird. Ihre Kabine befindet sich auf dem Sprachdeck, hinter den Vorlesungsräumen am Bug des Schiffes. Haben Sie noch Fragen?«
Wir verneinen beide, bevor wir den Tresen hinter uns lassen und die Gangway betreten. Das Metall federt leicht unter meinen Schritten, und mein Puls beschleunigt sich, je näher ich dem Oberdeck komme. Reihen aus Bullaugen ziehen sich über den Schiffskörper. Hinter welchem wohl meine Kabine liegt?
Ächzend hievt Elisa vor mir ihren Koffer auf das Horizontdeck, und ich korrigiere mich in Gedanken. Unsere Kabine. In meinem Magen bildet sich ein Knoten.
Staunend sieht Elisa sich um, und ich folge ihrem Blick. Über das gesamte Deck spannt sich die Takelage - das Konstrukt aus Masten, Seilen und Tauen, welche die Segel tragen. Ich freue mich schon darauf, sie geöffnet zu sehen, wenn sie vom Wind gebläht werden und das Schiff mit voller Kraft über die Wellen treiben.
»Wow, das ist so beeindruckend!«, ruft Elisa aus. »Das edle Holz überall und diese riesigen Masten. Ich kann es kaum erwarten, das Schiff zu erkunden.«
Ich hingegen kann es kaum erwarten, ins Bett zu kommen. Aber auch wenn ich müde und von der Kabinensituation genervt bin, muss ich zugeben, dass Elisa recht hat. Die Größe des Schiffs ist beeindruckend, und die edle Ausstattung setzt dem Ganzen die Krone auf.
Wir setzen uns wieder in Bewegung. Die Kofferrollen klacken auf den glatten Teakholzbrettern, die im warmgoldenen Licht...
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