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Kapitel 1
Henriette
Vor mir liegen 162 Meter Freiheit.
Ich verrenke mir den Hals und drücke die Nase gegen die Fensterscheibe des Shuttlebusses, um die beste Aussicht auf mein neues Zuhause zu erhaschen. In den nächsten sechs Monaten werde ich zwar noch genug Zeit dafür haben, aber dieser Augenblick ist einmalig. Ich bin mir sicher, mich für immer an dieses Gefühl zurückerinnern zu können. Eine Mischung aus kribbelnder Vorfreude und einer Ergriffenheit, die mir beinahe Tränen in die Augen treibt. Das hier passiert wirklich.
Der weiße Rumpf der Sapient Sailor glänzt wie frisch poliert, die Bullaugen liegen wie Perlen an einer Kette in drei Reihen an- und übereinander. Darüber befindet sich das Oberdeck mit seinen fünf großen Segelmasten. Schier endlos ragen sie in den Himmel hinauf, so eindrucksvoll, dass das Brennen in meinen Augen zunimmt. Fieberhaft überlege ich, wie die einzelnen Masten bezeichnet werden, komme aber nicht darauf. Das werde ich hoffentlich bald lernen.
Der Bus hält ein paar Meter vor dem Segelschiff auf dem Cruise-Terminal von Los Angeles. Die junge Frau in der ersten Reihe steht auf und dreht sich zu uns um. Sie hat sich uns vorhin am Flughafen als Elisa, die studentische Hilfskraft, vorgestellt. Ihre braunen Haare reichen ihr bis über die Schultern, die Curtain Bangs kleben ihr in der Stirn. Kein Wunder bei der Hitze draußen. Selbst die Klimaanlage des Busses kommt nur schwer dagegen an.
»Alle mal herhören!«, ruft Elisa, und die knapp zwanzig Studierenden, die mit mir im Bus sitzen, verstummen. »Wenn ihr ausgestiegen seid, nehmt bitte euer Gepäck und geht über die Gangway an Bord. Oben werdet ihr dann für die Einschiffung in Empfang genommen.«
Tumult kommt auf, und da ich hinten sitze, bin ich eine der Letzten, die den Bus verlässt. Manche Studierende wirken genauso verloren und nervös wie ich, andere scheinen sich bereits zu kennen und quatschen miteinander.
Elisa wartet, bis wir alle unsere Koffer geholt haben, und steigt dann wieder in den Bus ein. Sicher, um am Flughafen die nächsten Studierenden in Empfang zu nehmen.
Auf der Gangway bildet sich eine Schlange. Das Metall federt unter unseren Schritten, und ich blicke über den Handlauf hinweg ins Hafenbecken. Im trüben Wasser schwimmt Müll. Enttäuscht über die Sorglosigkeit mancher Menschen verziehe ich das Gesicht.
Langsam rücke ich in der Schlange auf, bis ich ganz oben auf der Gangway stehe. Ein letzter großer Schritt, und ich betrete das Deck der Sapient Sailor. Ein Schauer rieselt mir über den Rücken. Ich bin wirklich da. Während ich zum Münchner Flughafen gefahren bin und auf dem Zwölf-Stunden-Flug die meiste Zeit geschlafen habe, ist es mir vorgekommen wie ein Traum. Als könnte ich jederzeit aufwachen und realisieren, dass ich das begehrte Auslandssemester im Südpazifik doch nicht ergattert habe. Jetzt, in genau diesem Moment, fühlt es sich zum ersten Mal real an. Sicherheitshalber zwicke ich mich unauffällig in den Arm. Ja, absolut real, stelle ich fest, als die Haut ordentlich zwiebelt.
»Willkommen auf der Sapient Sailor«, begrüßt mich ein junger Mann in Borduniform, bestehend aus einer dunkelblauen Hose und einem weißen Hemd. Er hat hinter einem hüfthohen Pult Position bezogen. »Darf ich bitte Ihren Reisepass sehen?«
Ich reiche ihm das Dokument. Er scannt es ein und weist mich an, in eine kleine Standkamera zu schauen, ähnlich wie die am Flughafen bei der Passkontrolle.
»Vielen Dank«, sagt er und gibt mir meinen Pass zurück. Ich rutsche zur nächsten Station auf, an der sich wieder eine kleine Schlange gebildet hat. Die Studentin vor mir seufzt genervt und trommelt ungeduldig mit den manikürten Fingernägeln auf ihren goldenen Hartschalenkoffer. Mich stört die Wartezeit nicht, weil sich mir dadurch die Gelegenheit bietet, mich auf dem Deck umzusehen.
Der Empfangsbereich mit den verschiedenen Stationen zur Einschiffung befindet sich zwischen dem zweiten und dritten Mast. Ich muss den Kopf in den Nacken legen, um die Spitzen sehen zu können. Die Segel sind nicht gespannt, sondern hängen gerollt an den runden Zwischenbalken. Wenn meine Google-Recherche zu Hause korrekt war, sind das die Rahen.
Die Sonne knallt mit aller Kraft auf das Oberdeck herunter. Schweiß steht mir auf der Stirn, mein Shirt klebt mir unangenehm am Rücken. Als eine sanfte Brise über meine nackten Unterarme streicht, atme ich kurz auf. Ab morgen wird sie nach salziger, klarer Meeresluft riechen, nicht nach dem schmutzigen L. A. Ich kann es kaum erwarten.
An der nächsten Station muss ich meine Personaldaten in ein Dokument eintragen und meinen Impfnachweis vorzeigen. Für das Auslandssemester gab es eine Liste mit Pflichtimpfungen, die mir einen angeschwollenen Oberarm beschert haben. Eine ganze Woche lang schien ein unsichtbares Gewicht daran zu hängen, und das Mitschreiben in den Vorlesungen wurde zu einer schmerzhaften Angelegenheit. Denn die Ärztin ging davon aus, dass ich wie die meisten Menschen Rechtshänderin wäre, und hat, ohne nachzufragen, die Spritze an den linken Arm angesetzt. Es passierte so schnell, und ich war ohnehin nervös wegen der Nadel, dass ich es viel zu spät realisiert und mich dann nicht mehr getraut habe, etwas zu sagen. Wie automatisch schüttle ich über mich selbst den Kopf.
Mein Handy vibriert, und ich ziehe es hervor, während ich an der nächsten Station warte.
Annelie:
Wo zur Hölle bist du?
Natürlich war es nur eine Frage der Zeit, bis meiner Schwester auffallen würde, dass ich weg bin. In meinem Bauch breitet sich ein mulmiges Gefühl aus, und ich beiße mir auf die Unterlippe. Eine zweite Nachricht trudelt ein.
Du bist nicht im Ernst geflogen, oder? Das halbe Jahr auf See wirst du niemals durchhalten! Dafür bist du doch viel zu schüchtern, dir fehlt ja sogar der Mut, dich zu verabschieden. Du solltest dich schämen!
Ihre Worte treffen mich mit gezielten Stichen. Sie kennt mich. Besser als irgendwer sonst auf dieser Welt. Vielleicht sogar besser als ich mich selbst?
Annelie hat sich vor einem halben Jahr ebenfalls auf dieses Auslandssemester für deutschsprachige Studierende beworben, nachdem sie erfuhr, dass ich dabei sein will. Es hat noch nie etwas gegeben, das ich für mich allein hatte. Seit ich denken kann, laufe ich ihr hinterher, schließe mich ihren Plänen an, stehe in ihrem Schatten. Aber dann wurde ich angenommen und sie nicht. Seitdem bombardiert sie mich mit verletzenden Kommentaren und ständigen Vorhaltungen, ich hätte es nicht verdient. Ich weiß, wie meine Schwester manchmal sein kann. Und warum sie so ist. In den meisten Fällen kann ich damit umgehen, aber so schlimm wie in den letzten Wochen war es noch nie. Sie drängte mich, von meinem Platz zurückzutreten, und ich fragte mich nicht nur einmal, ob sie vielleicht recht hat. Bin ich zu feige und zu schwach für ein halbes Jahr auf See? Habe ich es nicht so sehr verdient wie sie oder andere Studierende? Die Zweifel bohrten sich förmlich in mein Inneres, prallten dort aber immer wieder auf meine Leidenschaft für Meeresbiologie. Schon als Kind war ich fasziniert von der Welt unter der Wasseroberfläche. Ein verborgener, stiller Ort voller Leben, an dem es unzählige Geheimnisse zu entdecken gibt. Besonders die Korallenriffe haben es mir angetan. Sie sind viel mehr als schöne Unterwasserlandschaften - sie sind das Herz des Ozeans und beeinflussen die gesamte Umwelt, weit über die Grenzen des Meeres hinaus. Mehr als alles andere will ich die Zeit auf der Sapient Sailor nutzen, um den Südpazifik zu erforschen und Korallenriffe zu studieren. Vielleicht wird es hart werden, aber die Erfahrungen, die ich in den nächsten sechs Monaten machen werde, sind einmalig. Wäre da nur nicht die Tatsache, dass er auch hier sein wird .
Ein flaues Gefühl breitet sich in meiner Magengrube aus. Ich war fertig mit ihm, nachdem er ohne Abschied aus meinem Leben verschwunden war und unsere langjährige Freundschaft einfach so weggeworfen hatte. Zumindest habe ich mir das immer eingeredet. Stattdessen sind da jetzt Neugier und Aufregung, wenn ich mir unser erstes Aufeinandertreffen nach all der Zeit ausmale. Wird er sich endlich für sein mieses Verhalten entschuldigen? Werden wir anschließend in Erinnerungen an unsere Kindheit und Jugend schwelgen? Die Vorstellung ist schön, aber ich glaube nicht, dass es etwas daran ändern würde, wie wütend und verletzt ich wegen der Geschehnisse vor sechs Jahren bin.
Mein Handy vibriert erneut und reißt mich aus meinen Gedanken.
Wie bist du überhaupt an deinen Pass gekommen?
Sofort verdüstert sich meine Laune. Der Reisepass, den sie heimlich aus meinem Zimmer entwendet hat. Damit ich nicht fliegen kann. Ich habe es nur bemerkt, weil ich am Abend vor dem Abflug noch mal alles akribisch durchgegangen bin. Die halbe Nacht lang habe ich den Pass gesucht und ihn schließlich im Müll gefunden. Bittere Enttäuschung keimt in mir auf. Niemals hätte ich gedacht, dass meine Schwester so weit gehen würde. Ich bin sofort abgereist, obwohl mein ursprüngliches Taxi mich erst viele Stunden später hätte holen sollen. Aber ich traute Annelie nicht mehr über den Weg. Was hätte sie noch versucht, um meine Abreise zu verhindern? Um mir diese Chance zu verwehren?
Fahrig lösche ich ihre Nachrichten und stelle mein Handy auf Stumm. Ich will nicht mit ihr reden. Soll sie schmoren und toben, nichts anderes hat sie nach der Aktion mit dem Pass verdient. Im Müll, ernsthaft? Das ist nicht mal ein besonders originelles...
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