Schweitzer Fachinformationen
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ABFLUG INS CHAOS
Sven bringt sie zum Flughafen, die fünf Mitarbeiter der freien Produktionsfirma sind schon da. Sie stehen um große Alukisten herum, in denen Kameras, Licht und Zubehör stoßsicher verstaut sind.
Sven schaut mürrisch zu Leo, dem Kameramann, der sich soeben leidenschaftlich von seiner Freundin verabschiedet. Nina beobachtet ihn ebenfalls. Leo sieht zwar gut aus, ist aber nicht ihr Typ. Er lässt seine Freundin los, gibt ihr zum Abschied einen Klaps auf den Hintern und zwinkert dabei Nina zu. Sie dreht sich rasch zu Sven um. Er hat es gesehen und runzelt die Stirn: Wenn da was ist, bring ich ihn um!, scheint er zu denken.
Unter den taxierenden Blicken von Leo fällt ihre Verabschiedung kühl aus. »Ihre Aufgabe ist es, gute Bilder mitzubringen!«, warnt Sven seinen mutmaßlichen Nebenbuhler. »Und sonst nichts!«
»Ich tu genau das, was Nina mir sagt«, antwortet Leo nur und grinst frech.
Sven macht auf dem Absatz kehrt und geht.
Nina fühlt sich etwas verloren. Bis auf Leo sind ihr alle fremd, sie ist unvorbereitet, hat keine Ahnung, was auf sie zukommt. Sarah hat sie bis zum Schluss nicht erreicht. Schlamperei, nicht im Sender anzurufen. So krank kann doch kein Mensch sein! Gott sei Dank hat Nina ihren Kontaktmann Bernd Rollnitz noch erreicht, der die neue Situation allerdings mit hörbarer Enttäuschung aufnahm. Sicherlich hatte er sich auf seinen kleinen Flirt gefreut. Aber zumindest beruhigte er sie, was die Dreharbeiten anging. Die meisten Interviewpartner habe ja ohnehin er organisiert, sodass zumindest diese Termine gesichert seien. Worüber Nina zunächst glücklich ist, obwohl sie auf der anderen Seite jetzt natürlich von diesem Menschen abhängig ist, was ihr eigentlich nicht passt. Sie würde lieber ihren eigenen Film machen.
Nina, von Natur eher zurückhaltend und schüchtern, gibt sich einen Ruck und stellt sich dem verschworenen Produktionsteam. Allein gegen alle, denkt sie dabei, aber sie weiß aus Erfahrung, dass die meisten Produktionsleute weniger Probleme mit wechselnden Gesichtern haben. Eher mit Inkompetenz, zögerlichem Verhalten, unklaren Entscheidungen und vor allem mit Redakteuren, die eine Einstellung fünf Mal wiederholen lassen, obwohl sie die Profis hinter der Kamera bereits für abgedreht erklärt haben.
Nina beschließt, Zuversicht zu mimen, begrüßt jeden Einzelnen mit Handschlag und erklärt allen kurz die Situation und ihre Funktion. Keinen wundert es, keiner hält sich darüber auf. Sie wird schon wissen, was sie zu tun hat.
Und sie weiß es. Zumindest für den Augenblick. Sie braucht Informationen über das Land. In der Abflughalle erspäht Nina einen Buchladen und deckt sich dort mit allem ein, was nur entfernt nach Brasilien aussieht. Wenn man es ihr auch nicht ansieht: Aber in ihrem Magen zwickt und zwackt es, und je näher der Abflug rückt, desto stärker werden ihre Zweifel. Keine vierundzwanzig Stunden Vorbereitungszeit, keinen vergleichbaren Film eines erfahrenen Kollegen angeschaut, keinen blassen Schimmer vom Land, von den Leuten, vom Thema. Ihr Wissen beschränkt sich auf Lambada, Tanga und Zuckerhut. Ist der Tanga überhaupt aus Brasilien? Das Chaos ist vorprogrammiert, sie spürt es in jeder Faser ihres Körpers. Fast wünscht sie, Sarah wäre wieder gesund und würde doch noch in allerletzter Sekunde auftauchen.
Aber keine Sarah, kein Entrinnen. Und dann ist es zu spät. Im Tross wird Nina ins Flugzeug geschoben und durch den schmalen Gang bis zu ihrer Sitzreihe gedrängt.
Ein kleiner Trost, sie sitzt am Fenster! Gut, sagt sie sich, während sie sich an zwei Japanern vorbei zu ihrem Platz zwängt, sich in den schmalen Sitz sinken lässt und nach dem Sicherheitsgurt sucht, jetzt gibt es keinen Weg mehr zurück, jetzt musst du durch!
Der Start durch die Wolkendecke hindurch berauscht sie. Gleißendes Sonnenlicht zerstreut alle Bedenken, die Erde ist unter gigantischen Wolkentürmen verschwunden.
Nina atmet auf, lehnt sich zurück. Hier will sie bleiben, hier ist es gut. Als Erstes bestellt sie sich ein Glas Sekt, danach studiert sie die Zeitungsausschnitte über Jugendliche in Rio. Das zentrale Thema in diesem Zusammenhang ist Gewalt. Mehr als 8000 Morde in einem einzigen Jahr, liest sie in einer Statistik, 48 Raubüberfälle und 646 Diebstähle auf 100 000 Einwohner. Ihr fehlen die Vergleiche zu anderen Großstädten, aber die Zahlen kommen ihr gewaltig vor. Und dann stößt sie auf eine andere Information: Innerhalb von zehn Jahren wurden 6100 Kinder ermordet. Sie versucht sich diese Zahl bildlich vorzustellen. Es gelingt ihr nicht. Sie liest von dem Massaker an der Candelaria-Kathedrale in Rio. 1993 hatten dort mehrere Männer das Feuer auf siebzig schlafende Kinder eröffnet. Angeblich waren drei Militärpolizisten dafür verantwortlich. Acht Kinder starben. Der nächste Artikel beschreibt die Rolle der Kinder als Handlanger der Drogenbarone. Werden die Kinder erwischt, werden sie auf offener Straße erschossen. Mitten ins Gesicht, zur Abschreckung.
Nina schließt die Augen und versucht in Gedanken eine klare Linie für ihren Film zu finden. Die beschriebenen tatsächlichen Fälle von Gewalt, Folter und Mord verdrängen in ihrem Bewusstsein das Bild vom tanzenden, durchtrainierten und gebräunten jugendlichen Luxuskörper. Sie hat sich einige Namen von Personen herausgeschrieben, Namen von Drahtziehern, tatenlos zuschauenden Politikern, mitschuldigen Polizeiorganen und von Mitgliedern verschiedener Hilfsorganisationen.
Schließlich denkt Nina über Rollnitz nach. Keine Ahnung, wen oder was der organisiert hat. Irgendwie fühlt sie aber, dass er von diesem Elend und dem Unrecht nichts wissen will, sondern lieber eine heile Welt vorführt. Es hat sie stutzig gemacht, dass er gestern seine Unterlagen partout nicht nach Deutschland faxen wollte und beteuerte, sie hätten nach ihrer Ankunft noch genügend Zeit, alles zu koordinieren. Was sagte er noch wörtlich: »Schließlich habe ich ja bereits alles geregelt!«
Dieses penetrante Gockelgehabe geht ihr schon jetzt auf den Nerv. Wahrscheinlich auch wieder so einer, der alle Fäden ziehen will. Und zwar in alle Richtungen. Überall groß rauskommen. Bei den Senderbossen in Deutschland und bei den Machthabern in Brasilien.
Nina gähnt. Eine gefährliche Mischung. Und vor allem wird er versuchen, sich über dich hinwegzusetzen, sein eigenes Süppchen zu kochen! Also, Augen auf, altes Mädchen! Sie prostet sich zu und bestellt an den Japanern vorbei noch ein Glas Sekt.
Ihr Nachbar nickt Nina freundlich zu: »Your first time in Brazil?«
Nimmt denn sein Lächeln nie ein Ende? Sagt sie jetzt Ja, wird er sie in ein spannendes Gespräch über lohnende Fotomotive verwickeln, sagt sie Nein, wird er wissen wollen, welche Sehenswürdigkeiten sie schon fotografiert hat. Nina schaut ihn entschuldigend an und antwortet auf Französisch: »Presque!«
»Fast?«, fragt der zweite Sitznachbar ungläubig und schüttelt verständnislos lächelnd den Kopf: »How presque?«
Italienisch kann sie nicht. Russisch auch nicht. Deutsch kann er offenbar! »Das soll heißen, dass ich mit dem Finger auf dem Globus dort war!«
Beide brechen in helles Gelächter aus. Nina hat keine Ahnung, was daran so witzig ist, vielleicht haben die beiden sie ja auch missverstanden.
Heftiges Nicken. »Ja, ja!« Ihre Blicke heften sich unübersehbar auf ihre Oberweite. »Ja, ja!« Sie lachen unentwegt.
»Rund wie Globus!«, gluckst der eine und sticht mit seinem Finger mehrmals in die Luft, was für Nina bedrohlich nach einer Expedition in Richtung ihrer Halbkugeln aussieht. Hat Globus in Japan eine andere, zweite Bedeutung? Will er jetzt etwa auf ihrem Globus Brasilien suchen? Sie will gerade heftig reagieren, da serviert der Steward das bestellte Glas Sekt. Die Unterbrechung kühlt die beiden Herren ab, sie beginnen sich leise zu unterhalten. Nina nimmt einen großen Schluck und hört zu. Wahrscheinlich hecken sie japanische Schweinereien aus, denkt sie. Oder koreanische. Könnten aber auch taiwanesische sein.
Irgendwann schließt sie die Augen und lässt ihre Gedanken treiben. Eine Weile denkt sie noch über Brasilien nach, dann schieben sich andere, längst vergangene Bilder vor ihr geistiges Auge. Sie sieht die private Rundfunkstation wieder vor sich, bei der sie sich direkt nach dem Abitur beworben hat. Damals galten die privaten Radiomacher als Pioniere in der althergebrachten, festgefügten und verkrusteten Rundfunklandschaft. Ihre Bewerbung war ein Versuchsballon ohne rechten Glauben an den Erfolg. Was konnte sie einem solch jungen Medienbereich schon bieten? Nina erinnert sich noch genau an ihre Gefühle, als sie tatsächlich angenommen wurde und sogar einen Ausbildungsvertrag über zwei Jahre unterschrieb. Sie jubilierte vor Glück und Stolz, dachte, dies sei der Zenit, das Größte überhaupt. Danach würde nur noch der märchenhafte Aufstieg zur Radioprominenz kommen können.
Doch der Sender stand auf wackeligen Füßen. Die Geschäftsführer hatten vom Radiogeschäft nicht sehr viel mehr Ahnung als sie. Die guten, erfahrenen Leute suchten sich bald was anderes. Anfangs war sie darüber nicht unglücklich, denn so konnte sie bald an allen Hebeln sitzen. Mit ihrem Aufnahmegerät war sie ständig auf Streifzügen, schnitt ihre Beiträge selbst, bastelte Reportagen, Features, Kommentare. Sie fand alles toll, bis sie sich nach den zwei Jahren mit ihrem selbst erkämpften Know-how auf dem Medienmarkt umsah. Da musste sie feststellen, dass sie kein anerkanntes Volontariat hinter sich hatte. Eigentlich war sie nichts. Keine Journalistin, keine Redakteurin. Ein Wesen, das man bei Bewerbungen milde belächelte. Die arme Kleine. Sie blieb bei ihrem Sender, bis er nach...
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