Schweitzer Fachinformationen
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Martina Kempff
Umwege
Ihr Leben war ein einziger Irrtum. Falsche Männer, falscher Beruf, falsche Schuhe. Und jetzt hatte sie auch noch den falschen Zug genommen. Cleo Vivianis warf einen bösen Blick auf die Fenster der Werbeagentur im zweiten Stock und schickte dann das winzige Steinchen hinterher, das schon seit Stunden ihren linken kleinen Zeh malträtiert hatte. Sie hatte sich in der Zeit geirrt. Zwei Stunden Verspätung hatten der Agentur genügt, um die freie Stelle mit einer anderen Kandidatin zu besetzen.
Eine Woche lang hatte Cleo an ihrer Mappe gearbeitet. Acht Stunden hatte die Anreise gedauert. Als sie in der Agentur eingetroffen war, hatte man ihr weder Stuhl noch Kaffee angeboten. Während sie mit gekrümmten Zehen das Steinchen im Schuh umzulagern versucht hatte, war sie von der Sekretärin mit ein paar dürren Worten abgefertigt worden.
Im Internetcafé auf der gegenüberliegenden Straßenseite bestellte sie einen Kaffee und rief ihre E-Mails ab. Jetzt, da sich der Traum von der Festanstellung in der Werbeagentur als ebensolcher erwiesen hatte, durften ihr keine Aufträge durch die Lappen gehen. Bloß nicht wieder aus Versehen ein Angebot als Spam wegklicken!
Der Irrtum bestimmt mein Leben, dachte Cleo. Es hatte achtunddreißig Jahre zuvor ja schon mit einem begonnen. Ihre Eltern, damals gerade erst aus Griechenland nach Lübeck gezogen, sprachen kein Wort Deutsch und waren auf die Übersetzerdienste eines griechischen Studenten in der Nachbarschaft angewiesen. Dieser war ins Stottern geraten, als er seinen Landsleuten die Diagnose des Arztes mitgeteilt hatte: Zoe Vivianis werde nur dieses eine Kind bekommen können, kein weiteres mehr. Aus eigenem Antrieb fügte der junge Grieche einen Satz hinzu: »Der Arzt ist sicher, dass es ein Junge sein wird.«
»Selbstverständlich!«, nickte der werdende Vater.
Als die Geburtshelferin nach dem Kaiserschnitt den Säugling hochhielt, rief die Mutter: »Klaiw!«, und brach in Tränen aus.
Die Geburtshelferin nickte, trug in die Akte den Vornamen Cleo ein und war nicht überrascht, dass auch der Vater wenig später die gleichen Laute von sich gab und ebenfalls herzzerreißend weinte. Gefühlsausbrüche bei Geburten waren normal und im Süden vielleicht ein wenig heftiger, dachte die Hebamme. Sie bedauerte, dem Paar nicht in seiner eigenen Sprache gratulieren zu können. Hätte sie diese aber verstanden, wäre Cleo mit einem anderen Namen durchs Leben gegangen.
Der Ausruf ihrer Mutter bedeutete schlicht »Ich weine!«, und die Tränen galten dem Geschlecht des einzigen Sprösslings, der ihr je vergönnt sein würde. Als wenig später der griechische Student erschien, bat ihn der untröstliche Vater, die mit der Geburt eines Kindes verbundenen Behördengänge zu übernehmen, und unterschrieb tränenblind die entsprechenden Papiere.
Zum Eklat kam es, als die Eltern wenige Tage später dem Studenten mitteilten, das Kind solle zu Ehren der Mutter des Mannes Efrossini genannt werden. Dem Studenten dämmerte die Entstehungsgeschichte des Namens, den er beim Standesamt angegeben hatte. Eilig wies er darauf hin, dass Cleo - mit Epsilon geschrieben - ein ausgezeichneter Name für ein Einzelkind sei, da dies ruhmreich bedeute. Er zitierte Cicero: »Von des Lebens Gütern allen ist der Ruhm das höchste doch, wenn der Leib zu Staub zerfallen, lebt der große Name noch«, und setzte leise hinzu: »Denken Sie an Cleopatra!«
»Sie wird Efrossini heißen!«, schrie der Vater.
»Dieser Name ist in Deutschland nicht zugelassen«, gab der Student zu bedenken, dem vor weiterem Warten in deutschen Amtsstuben graute.
»Was? In Deutschland ist es nicht zugelassen, die eigene Mutter zu ehren? Ich rufe sofort die griechische Botschaft an!« Fluchend verließ er das Gebäude.
»Eigentlich gefällt mir Cleo ganz gut«, sagte Zoe Vivianis. Der Student nickte zustimmend. Er hatte bisher keine griechische Frau getroffen, die am Namen ihrer Schwiegermutter hing.
»Es wird für Ihren Mann nicht leicht sein, die Papiere zu ändern. Wir sind schließlich in Deutschland«, sagte er. »Nur wenn sich die Botschaft einschaltet .«
Zoe winkte ab.
»Der ruft doch nicht die Botschaft an! Er ist in die Kneipe gegangen, um sich zu betrinken. Und wenn ihn morgen Kopfschmerzen plagen, wird ihm egal sein, wie seine Tochter heißt.«
Noch Jahre später schloss Cleo die Geburtshelferin und den Studenten in ihre Nachtgebete ein, dabei jedes Mal leicht erschauernd, dass sie um Haaresbreite dem Schicksal entgangen war, als Efrossini, oder schlimmer und wahrscheinlicher als Frosso in der norddeutschen Kleinstadt leben zu müssen, in die ihre Familie wenig später gezogen war.
Der Irrtum, mit dem ihr eigenes Leben begonnen hatte, war längst nicht der einzige, der die Familiengeschichte kennzeichnete. Über den ersten und größten Irrtum wurde bei den Vivianis so laut geschwiegen, dass er nie der Vergessenheit anheimfallen konnte. Dimitri Vivianis, letzter Sohn einer kinderreichen Familie in einem kleinen griechischen Dorf, wurde nach dem Tod seines Vaters das uninteressanteste Stück Land zugeteilt: Acht Hektar direkt am Meer - eine kleine Katastrophe. Ein vernünftiger Mensch konnte gar nicht auf die Idee kommen, dort etwas anzubauen oder gar ein Haus zu errichten. Alles im Dunstkreis der salzhaltigen Luft war der Zerstörung ausgesetzt. Dimitri weinte vor Glück, als ihn ein deutscher Gast für ein paar Tausend Mark von dem wertlosen Stück Land befreite. Er weinte zwei Jahre später wieder, als das Touristenzentrum Form anzunehmen begann.
Wegen seiner Dummheit hatte er im Dorf das Gesicht verloren. Im Wechsel schmiedete er Rache- und Auswanderungspläne, beschloss beide miteinander zu verbinden, nach Deutschland zu gehen und dort den Deutschen das Geld abzunehmen. Wie leicht das ging, hatte er von Nachbarn gehört, die stolz Waschmaschine, Fernseher und Kühlschrank vorzeigten, finanziert vom in Germania arbeitenden Sohn Jorgos. Das Glück winkte Dimitri. Die Fabrik, in der Jorgos arbeitete, wollte auch ihn einstellen. Er regelte seine Angelegenheiten in Griechenland, heiratete Zoe und zog mit ihr in das Land jener Leute, die aus ihm unerfindlichen Gründen ihre Sommerhäuser am Mittelmeer ausgerechnet zur kalten und windigen Seeseite hin mit riesigen Fenstern ausstatteten.
Cleos Vater wäre an den vielen Irrtümern, denen er bereits erlegen war, wahrscheinlich zerbrochen, hätte ihre Mutter nicht all die Kraft aufgeboten, zu der nach Cleos Ansicht nur Frauen fähig waren, denen man nichts zutraute. Zoe beschloss, die Familie zu ernähren. Sie überredete Dimitri, die schlecht bezahlte und eines freien Mannes unwürdige Arbeit in der Fabrik aufzugeben und mit dem letzten Rest des Geldes aus dem nie wieder erwähnten Tauschhandel die Pacht für eine griechische Taverne zwischen Lübeck und Kiel anzuzahlen.
Zoes Moussaka rettete die Familie und Dimitris Stolz. Und schon bald lockten seine Tanzkapriolen zu später Stunde sogar noch mehr Gäste ins Lokal als die Kochkünste seiner Frau. Die Deutschen, die sich auf seinem einstigen griechischen Eigentum in der Sonne aalten, sehnten sich nämlich in der nördlichen Kälte nach der entspannenden Atmosphäre ihres Urlaubslandes. Endlich konnte auch Dimitri fern der Heimat aus dem Tourismus Kapital schlagen. Jede Mark, die in die Kasse floss, stillte etwas von seiner Rache.
Hoch erhobenen Hauptes kehrte er mit seiner Frau ein Vierteljahrhundert nach seiner Auswanderung in sein Heimatdorf zurück, kaufte die Strandtaverne auf seinem ehemaligen Grundstück und ließ sich gefallen, dass ihn die Dorfbewohner nur noch O Germanos - der Deutsche - nannten. Ein Irrtum, mit dem er leben konnte.
»Halte fest, was dir gehört!«, war seitdem einer der Lieblingsaussprüche von Cleos Vater. Natürlich erwähnte er nie, weshalb sich seiner Meinung nach die meisten Entscheidungen als Irrtümer entpuppten und man dem Leben daher besser einfach seinen Lauf lassen sollte. Abwarten und Ouzo trinken. Das vermeide irrende Umwege.
Sie sollte ihren Eltern schreiben, dachte Cleo. Sie überprüfte ihre Privatmails und klickte auf die Nachricht einer alten Schulkameradin: die seitenlange Schilderung einer Trekkingtour ins Innere Asiens, die einem Scheidungskrieg gefolgt war und der Schreiberin endlich das Glück der Ungebundenheit vor Augen geführt hatte.
»Umwege«, murmelte Cleo befriedigt, und beim nächsten Satz blieb ihr Herz stehen.
Stell dir vor, Cleo, Viktor Damian ist jetzt berühmt geworden! Wer hätte das von dem mickrigen Kerlchen erwartet. Du kanntest ihn damals doch besser, oder?
Viktor Damian.
Cleos Herz schlug schneller. Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf ihren Atem. »Nur ein Name, nur ein Name«, murmelte sie leise vor sich hin. Sie drückte die Hände an die Brust. Wie konnte das Eisengitter, das sie vor so vielen Jahren um ihr Herz gelegt hatte, beim bloßen Anblick eines Namens zu zerspringen drohen? Jenes Eisengitter, das ihre Hoffnungen, ihren Lebenstraum fest umschlossen hielt? Mit ihrem Atem verankerte sie es wieder und öffnete die Augen. Verwirrt starrte sie auf die große Uhr des Internetcafés. Unmöglich, dass sie sich eine halbe Stunde lang mit der Lektüre des Urlaubsberichts beschäftigt hatte, und unmöglich, dass sie so lange mit geschlossenen Augen vor dem Bildschirm gesessen haben sollte.
»Ist Ihnen nicht gut? Möchten Sie ein Glas Wasser?«
Der Betreiber des Internetcafés legte eine Hand auf ihre Schulter. Cleo zuckte zusammen.
»Alles in Ordnung«, sagte sie.
»Schlechte Nachrichten bekommen? Shit...
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