Schweitzer Fachinformationen
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Dreiundsiebzig Jahre brauchte mein Vater zum Sterben.
Er wartete, in einen breiten Umhang der Erinnerung gehüllt, und starrte aus dem Fenster hinunter auf das weite Tal des Winters. Die Erinnerung hatte neue Furchen und Wegzeichen in sein Gesicht gebracht; sie verliefen ostwärts, Richtung Fluss. Wenn die Erinnerung ihn verließ, folgte er ihr und suchte mit den Augen die durchhängenden, weißen Dächer draußen ab, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Aber Papa wollte einfach nicht in die Strömungen seines Verstandes waten, wagte sich nicht vor, obgleich er es gekonnt hätte, wollte nicht weit genug gehen, um endlich erlöst zu werden.
So starrköpfig, dieser alte Mann. Richtig anstrengend.
Und ich bin nichts anderes als seine Tochter.
Mein Papa schaffte es bis an den Rand des Frühjahrs 1936. Februar und März waren erdrückend gewesen in der ganzen Stadt, besonders aber in Harlem. Rinnsteine erstarrten zu eisigen Rutschbahnen. Straßen waren ohne Farben und Düfte, abgesehen vom penetranten, abgestandenen Geruch des Schnees.
Monate zuvor, als er noch geglitzert hatte, hatte ich mit den Nachbarskindern in den Haufen herumgetollt und kleinen nussbraunen Jungs mit ungekämmten Haaren und unbedeckten Köpfen Schneebälle nachgeworfen. Sie rannten weg, sammelten sich und krochen wieder heran wie kleine Kätzchen, mit funkelnden Augen, vorsichtig tapsend und wurfbereit. Die Kinder trugen geflickte Mäntel aus Sackleinen; manche hatten Schals, manche Handschuhe, aber niemand hatte beides. Hätte ich ihnen die Schuhe ausgezogen, wären sie zum Vorschein gekommen, ihre Fußsohlen, tätowiert mit Druckerschwärze, die kleinen, aschgrauen Zehen, vom Abenteuer zerfurcht.
Ich liebte diese Kinder innig, hatte zwei oder drei von ihnen selbst zur Welt gebracht, die, die mich Mama May nannten und nicht Dr. May oder Ma'am.
An diesen Spätnachmittagen, wenn die Sonne sank und ihr Licht wie Getreidegarben oder wie eine dicke Sahneschicht über die Straßen legte, gaben diese Kinder mir das Gefühl der Wahrhaftigkeit. Sie lehrten mich, dass Spielen eine Menge unerwarteter Freude erzeugt und gleichzeitig die Wahrheit ans Licht bringt - man ist nicht Gegner, sondern Mitverschwörer im Spiel.
Mit ganzem Herzen musste ich mich an sie erinnern, an die Weisheit, die aus der Unschuld kommt, um mich in ihren Augen zu sehen und diese unverdorbene Vorstellung schätzen zu können.
Also kreischte ich wie ein junges Mädchen, wenn sie »Auf sie!« riefen und mir Schneebälle in den Kragen stopften. Ich tat, als würde ich wegrennen, sodass sie mich festhalten und mir dabei noch mehr Schnee in die Taschen meines schicken Covert-Mantels stecken konnten, des ersten guten Mantels seit drei Jahren. Das machte nichts. Ich kicherte trotzdem und leckte mir den Schnee von den rosigen Handflächen, ehe die Schneeflocken schmolzen und ihre gläserne Form verloren.
Doch im März war alles anders.
Die Straßen waren geschwärzt von knatternden Lastwagen und Füßen und Maultieren und menschlichem Unrat, besonders dort, wo die Gullideckel auf den Straßen regelmäßig vor Kälte anschwollen und zerbarsten. Matschige Schlieren bildeten sich auf Eis und Asphalt und schlängelten sich entlang der Straßen den ganzen Weg hinunter, bis zum Fluss, der selbst ergraut, erstarrt, vom Frost in Stillstand versetzt war.
Als der März kam, waren die Kinder längst nach Hause gegangen. Jetzt waren die Straßen leer, es sei denn, irgendeine Arbeit konnte nicht warten. Und so kam es, dass niemand sich aufmachte, um zu Füßen meines Vaters Totenwache zu halten. Kein Freund aus alten Tagen flüsterte meiner Mutter Trost oder Beileidsbekundungen ins Ohr. Keine Nichte oder Kusine schaute vorbei, mit einem Gemüseauflauf oder knusprigem Hasenbraten als Liebesgabe.
Nicht einmal seine verlorenen Töchter kehrten zurück, um ihn zu verabschieden. Den Monat zuvor hatte ich noch an Irene geschrieben, und sie hatte geantwortet: »Ich schaff's nicht. Zu viel los hier. Aber ich sag's weiter. Sag dem alten Mann, ich drück' ihm die Daumen.«
Eine solche Nachlässigkeit verletzte Papa mehr, als der Tod es je hätte tun können.
Er wollte eigentlich zurück nach Chinn Ridge in Virginia, wo alles um seinen Tod herum von der Wärme und dem Staub der Road Songs sowie von einer gewissen Süße durchdrungen gewesen wäre. Hier lagen heimliche Erinnerungen, wie Schätze versteckt in den schwellenden, ockerfarbenen Hügeln. Auch Leute hatte er in diesen Hügeln. Die meisten von ihnen waren schon lange tot, aber manche lebten noch und erzählten von Dingen, die nur er noch wissen und beurteilen konnte. Ob wahr oder falsch, konnte nur er sagen. Mein Papa sehnte sich danach, von Menschen umgeben zu sein, die ihm seinen Raum ließen. Zum Schluss war er aber einfach zu schwach für die Reise.
So sehr er sich auch anstrengte, das letzte Flüstern des Winters abzuwarten und davonzukommen, starb mein Papa kalt. Zitternd wie ein Windhauch starb er in seinem Bett, während meine Mutter, die die Sonne war, an seinem Kopf stand und immer wieder »Pennies from heaven« auf dem Grammophon abspielte, um ihn zu wärmen. Mit Branntwein und Musik bekämpfte sie seine Fieberschauer, denn die Depression war in dem Jahr so unerbittlich, dass wir einfach keine Zusatzdecke mehr hatten. Ohne nachzudenken, hatte ich all unsere Decken an meine Patienten weggegeben, eine nach der anderen. Ich war eine derart schlechte Tochter, dass ich nicht einmal eine einzige warme graue Decke behalten hatte, auf der mein Vater sterben konnte.
Ich schämte mich für meinen Egoismus und meine Gedankenlosigkeit. Um all das irgendwie wettzumachen, umsorgte ich ihn und versuchte Sachen aufzutreiben, die er nicht brauchte: eine gar nicht jahreszeitliche Aprikose, ein wenig weichen, himmelblauen Kattunstoff, Tannenzapfen, die er sich über den Bart und die runden, geröteten Wangen streichen und anschließend auf die Kohlen im Ofen werfen konnte. Die Wohnung roch dann nach Holz, so wie er es als Junge gekannt hatte. Er lächelte und ließ mich all diese Dinge tun, denn er liebte mich mehr, als ich je gedacht hatte, ihn zu lieben. Aber mir war klar, dass ich ihn vernachlässigt hatte. Ich war abgelenkt gewesen durch meine Arbeit, in meine eigenen Gedanken verkrochen und mit anderen Dingen beschäftigt. Ich hatte einfach nicht Acht gegeben.
Jedes Mal, wenn meine Mutter an seinem Bett vorbeiging, formte Papa mit seinem Mund ihren Namen . Lulu. Sein Blick folgte ihr und verschlang, was er kriegen konnte - ihre schwarzen Augen, ihre butternussfarbene Haut, ihre Ruhe.
Um ihr nahe zu sein, weilte sein Geist immer noch im Raum, als er sich körperlich schon lange verabschiedet hatte. Papas Fleisch war da schon aufgedunsen, fett und überreif vom Verfall. Trotzdem blieb er. Nach einer Weile begann sich meine Mutter Sorgen zu machen, nicht um das Wohlbefinden seines Körpers, sondern um den Weg seiner Seele. Eines Abends schließlich setzte sie sich an den Rand seines Bettes und nahm seine Hand. Sie beugte sich über ihn, küsste seine Augenlider und flüsterte: »Es ist gut, William. Du kannst gehen. Geh.«
Sie erlöste ihn.
Und er, nach all der Warterei, ging einfach.
Kein Wort wurde mehr zwischen ihnen gewechselt, nur ein Blick, mit einem Ausdruck des Erstaunens, der sich über Vaters Gesicht legte, als er losließ. Es war ein Ausdruck der Dankbarkeit der sagte, es sei ihm nicht klar gewesen, dass Sterben so leicht sein kann.
Meine Mutter sprach erst wieder, als wir Papa in der Kirche aufgebahrt hatten. Sie strich seine Haare glatt und zog seine Krawatte fest, wie um ihn auf die Härte des Erdbodens vorzubereiten. Aber auch da konnte sie nur sagen: »Wenn die Schatten fliegen, bedecken sie die Steine unter sich. Denk dran, May.«
Dann verschwand alles Negroide aus ihrem Gesicht, und sie wurde eine Chickahominy, so still, dass ich ihren Atem nicht mehr hörte, so uralt und gewaltig, dass ihre Gegenwart sich so unausweichlich und doch unberührbar anfühlte wie der morgendlich violette Himmel. Als schwarze Frau zeterte und sang sie, schaute sie einen scharf an. Als Chickahominy war sie frei. Lulu wurde immer dann eine Chickahominy, wenn sie auf meinen Vater wütend war. Als sie nun am Fußende des Sarges stand, die Hände in die Seiten gestemmt, und frei wurde, war mir klar, dass auch sie ihn vermisste.
Nach einer Weile fragte ich: »Was willst du damit sagen, Mama?«
Nicht, dass ich das unbedingt wissen wollte, aber die unglaubliche Dauer ihrer Einsamkeit war einfach zu viel für mich. Ich wollte ihr das abnehmen, es wie eine Stoffbahn in meinen Armen abrollen. Ich wollte den gedämpften Bumms hören, wenn sie wirbelnd und drehend auf dem Boden zu meinen Füßen aufschlug. Aber ich konnte nicht. Der Raum, den sie füllte, war zu groß, zu dicht, mehr wie das fließende Wasser eines...
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