Schweitzer Fachinformationen
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Weiß. Endloses, nichtssagendes, hirntötendes Weiß. So hell, dass es in den Augen schmerzt, gleichzeitig schrecklich und wunderschön. Endlich bin ich am Ende der Welt angekommen - oder besser gesagt an ihrem südlichsten Zipfel.
Und hier ist absolut gar nichts.
»Geht's Ihnen gut?«
Über die dröhnenden Triebwerke der Basler hinweg ist Jims Stimme kaum zu hören. Ich nicke, obwohl es bei Weitem nicht stimmt. Ich bin müde. Erschöpft bis in die Knochen, sodass ich kaum noch denken kann. Seit drei Tagen bin ich unterwegs, und inzwischen kommt mir alles surreal vor.
Es ist surreal, beschließe ich, während wir weiter ins Innere des Kontinents fliegen und Berggipfel und Gletscher bizarren Eisformationen weichen, die sich schließlich zu dem gewaltigen Plateau Dome C absenken, eine sich endlos erstreckende Schneefläche, mit Rillen überzogen wie ein gefrorener See. In alle Richtungen derselbe Anblick. Kein Wunder, dass die Gegend den Spitznamen Weißer Mars trägt. Das hier ist der kälteste Ort auf der Erde und auch der verlassenste.
Mein Zuhause für die nächsten zwölf Monate.
Zum ersten Mal seit meinem Aufbruch von Heathrow Richtung Christchurch in Neuseeland spüre ich das Nagen eines Zweifels. Ein Schatten auf meiner Vorfreude.
Als ich die Stellenanzeige las - in meiner warmen, sicheren Wohnung in Bristol -, hielt ich es für eine gute Idee. Ein Jahr als Ärztin in der Antarktisstation, das klang nach Abenteuer, und ich erfüllte sämtliche Voraussetzungen: reichlich notfallmedizinische Erfahrung, chirurgische Grundausbildung, keine gesundheitlichen Einschränkungen. Und das Entscheidende: sofort verfügbar.
Trotzdem hatte ich nicht damit gerechnet, dass ich in diesem kleinen Flugzeug meilenweit über nichts als Eis fliegen würde. Die Stelle auf der neuen Forschungsbasis war für Personen aus aller Welt ausgeschrieben gewesen. Wie groß war die Chance, dass sie ausgerechnet mich auswählten?
Und doch bin ich hier. Entgegen jeder Wahrscheinlichkeit.
Aufgeregt. Und mit einer Riesenangst.
»In ein paar Stunden sind wir da.«
Jim holt die Sandwiches hinter meinem Sitz hervor und reicht mir eines der Päckchen. Wenig begeistert wickle ich es aus. Bei unserer Abreise in Neuseeland vor zwei Tagen waren sie frisch, doch jetzt sind Salat und Tomate schlapp geworden und das Brot unappetitlich durchweicht.
Stell dich nicht so an, Kate, sage ich mir, während ich es hinunterwürge. Wenn das, was sich in den Kisten hinter uns stapelt, aufgegessen ist, wird das für viele Monate so ziemlich das letzte frische Gemüse sein, das ich gegessen habe. Dies ist der vorletzte Flug zur Antarktisstation der Vereinten Nationen, der United Nations Antarctica Station - liebevoll als UNA abgekürzt. Wenn nächste Woche die letzte Maschine die letzten Mitglieder des Sommerteams abholt, kann uns über ein halbes Jahr lang niemand mehr erreichen.
Bei dem Gedanken daran zieht sich mir der Magen zusammen. Werde ich damit umgehen können? Und werden es auch die anderen zwölf Mitglieder des Winterteams können? Während des vierwöchigen Crashkurses in Genf hatte alles machbar gewirkt, fast schon akademisch, doch jetzt, angesichts der unermesslichen antarktischen Wildnis trifft mich die eisige Realität dessen, worauf ich mich da eingelassen habe, mit voller Wucht.
Denn natürlich habe ich die Geschichten gehört. Gerüchte von Leuten, die wegen der Isolation, der ständigen Dunkelheit und der Belastung, mit einer kleinen Gruppe eingesperrt zu sein, verrückt geworden sind. Von dem Koch in McMurdo, der größten US-amerikanischen Basis, der einen Kollegen mit einem Hammer angegriffen hatte. Von dem australischen Mitarbeiter, der so gewalttätig wurde, dass man ihn zwei Monate lang in einem Lagerraum einsperren musste. Ein betrunkener russischer Schweißer, der in einem Wutanfall einen Elektrotechniker erstach.
Manche Stationen ließen gar nicht zu, dass neue Mitarbeiter die abreisenden Überwinterer kennenlernten. Kein Wunder.
Ach du Scheiße!
Das Flugzeug stößt ein mechanisches Husten aus, und plötzlich sinken wir. Trotz der dämpfenden Wirkung der Tabletten, die ich vor dem Einsteigen genommen habe, stockt mir der Atem, und für ein, zwei Sekunden nackten Grauens bin ich mir sicher, dass wir auf das unerbittliche Eis stürzen werden.
Gleich darauf fliegen wir wieder ruhig dahin.
»Hey, entspannen Sie sich.« Jim drückt meinen Arm. »Das macht sie hin und wieder. Ist ein wenig kühl am Triebwerk.«
Ich muss über diese australische Untertreibung lächeln. Da draußen sind es minus vierzig Grad. »Tut mir leid, ich bin nicht unbedingt die beste Fliegerin der Welt.«
»Keine Sorge.« Er lächelt breit. »Da sind Sie in guter Gesellschaft. Letztes Jahr hatte ich einen hier - einen Ingenieur, man sollte meinen, der hätte Ahnung von Aeronautik -, der hat fast auf dem ganzen Rückflug geheult. Sie machen sich gut.«
Ich sehe ihn dankbar an, aber mein Herz rast immer noch. Wenn irgendetwas schiefgeht, wenn wir abstürzen oder notlanden müssen, sind unsere Chancen auf Rettung verschwindend gering. Wir könnten innerhalb von Minuten erfrieren.
Ich setze mich auf meine Hände, um zu verbergen, dass sie zittern, doch mein Körper rebelliert, und Übelkeit steigt in mir auf. Oh, Gott, bitte mach, dass ich mich nicht übergeben muss. Ich kneife die Augen gegen das erbarmungslose Flirren des Sonnenlichts auf dem Eis zusammen und atme langsam ein und aus.
Im Licht der Scheinwerfer blinzeln mich Fuchsaugen an. Die Welt fängt an, sich um mich zu drehen.
Hör auf damit, Kate, murmle ich leise und schiebe das Bild weg.
Lass es doch einfach.
»Wollen Sie einen Blick auf Ihr neues Zuhause werfen?«
Jims Stimme weckt mich auf. Ich bin überrascht, dass ich eingenickt war. Ich drücke die Nase an die Fensterscheibe und spähe in die Richtung, in die er zeigt. Zuerst sehe ich nichts als das allgegenwärtige Weiß und den tiefblauen Himmel, der sich darüber wölbt. Doch während sich meine Augen nach und nach an die Helligkeit gewöhnen, kann ich in der riesigen, flachen Ebene unter uns eine kleine Ansammlung von Gebäuden ausmachen. In einiger Entfernung davon erhebt sich ein hoher silberfarbener Turm.
Wir sind da, wird mir mit zittriger Vorfreude bewusst.
Die Eisstation.
Eine kleine Oase in dieser unendlichen Leere.
Als wir näher kommen, tauchen zwei größere, blassgraue Gebäude in unserem Blickfeld auf. Außen herum sind einige kleinere, gedrungene Gebäude angeordnet, zwischen denen Fußspuren im Schnee zu erkennen sind.
Jim wirkt sehr konzentriert, er justiert neben mir Skalen und Hebel an der Instrumententafel, und wir beginnen unseren Sinkflug Richtung Landebahn. Sofern sie diesen Namen überhaupt verdient. Als wir direkt darauf zufliegen, sehe ich, dass sie nichts weiter ist als ein Streifen platt gepresster Schnee. Wieder schnürt mir die Angst die Kehle zu. Der Boden rast uns entgegen. Ich klammere mich an meinen Sitz.
»Keine Sorge.« Jim sieht mich grinsend an. »Ich hab das schon tausendmal gemacht.«
Das kleine Flugzeug ruckelt und vibriert, als die Räder auf dem Eis aufsetzen. Von Erleichterung durchflutet, atme ich aus. Wir verlieren schnell an Tempo und kommen einige Hundert Meter von den Hauptgebäuden entfernt zum Stehen. Wie ich jetzt erkennen kann, haben die beiden größten drei Stockwerke und stehen auf massiven Stahlbeinen, die sie von Treibschnee frei halten. Ein paar Gestalten eilen die Stufen herunter und laufen uns entgegen.
»Da wären wir.« Jim lehnt sich zurück und reibt sich den Nacken. »Willkommen zu Hause.«
Mein Lächeln ist schwach. Mir rast immer noch das Herz vom Adrenalinschub bei der Landung.
»Sind Sie bereit?« Er zieht den Reißverschluss seines dicken Parkas zu.
»Wofür?«
Im nächsten Augenblick erhalte ich die Antwort. Als Jim die Flugzeugtür öffnet, strömt unglaublich kalte Luft herein, und meine Lunge zieht sich zusammen. Trotz meiner Daunenjacke und der Skihose ist es wie ein Anschlag, als würde man gegen etwas Hartes prallen. Ich versuche, gleichmäßig zu atmen, doch das Einatmen schmerzt. Als ich aufstehe, mich nach festem Boden unter den Füßen sehnend, kann ich spüren, wie die Feuchtigkeit in meiner Nase, an meinen Augen und meinen Lippen augenblicklich gefriert. Sogar mit Schneebrille ist das vom Schnee reflektierte Sonnenlicht gleißend hell.
Als Nächstes trifft mich die Stille. Sie ist dicht, beinahe erstickend.
Der Klang völliger Leere.
Nach ein paar Schritten stolpere ich. Mir ist schwindelig, ich verliere die Orientierung. Eine Hand packt mich am Arm. »Hey, vorsichtig. Es dauert ein paar Minuten, bis man sich daran gewöhnt.«
Ich sehe zu dem Gesicht auf, das auf mich herabschaut. Oder besser gesagt erhasche ich einen Blick auf ein paar Bartstoppeln auf einem winzigen Streifen freiliegender Haut. Der Rest des Mannes ist von Kopf bis Fuß in Kälteschutzkleidung gehüllt, und seine Augen sind von einer riesigen verspiegelten Schneebrille verdeckt. Trotzdem weiß ich, dass er attraktiv ist, ich erkenne es an seinem Tonfall und seiner selbstbewussten Haltung.
»Andrew.« Er streckt mir eine Hand im Handschuh hin. »Aber alle nennen mich Drew.«
Ich schüttele sie matt. »Kate.«
»Willkommen am Tiefpunkt der Welt«, sagt er mit weichem amerikanischem Akzent, ehe er sich umwendet, um mir seinen Begleiter vorzustellen. »Das ist Alex.«
Alex nickt mir knapp zu, dann hilft er Jim, die Kisten von der Ladefläche des...
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