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JOHN C. MAXWELL, Beyond Talent
Ich war 16 Jahre alt und stand neben einem offenen Sarg. Ich fühlte eine innere Leere. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, als ich meine langjährige Freundin dort liegen sah. Der Sarg war offen, hätte aber eigentlich geschlossen sein sollen. Die Tina, die ich gekannt hatte, pflegte ihr Haar in lockigen Strähnen hinter die Ohren zu streichen; wenn sie lächelte, bildeten sich Grübchen auf ihrem schmalen Gesicht. Sie trug eine Brille, und manchmal, wenn sie mich verschmitzt ansah, schien es fast so, als würden ihre Augen kichern. Das Mädchen in dem aufgebahrten Sarg trug zwar Tinas Brille und hatte Tinas Haar, aber sein Gesicht war aufgedunsen, und der Mund, die Augen und die Gesichtszüge schienen nicht richtig zusammenzupassen. So hatte die Tina, die ich in meinem Herzen trug, nicht ausgesehen. Ich nehme an, dass die Person, die sich für ein Defilee am offenen Sarg entschieden hatte, wohl der Meinung war, dass es so am besten sei, weil sie wohl dachte, wenn wir Tina ein letztes Mal sehen könnten, würde uns das in unserer Trauer helfen, Abschied zu nehmen. Selbst nach all diesen Jahren erinnere ich mich noch genau an die schrecklichen Umstände ihres tödlichen Autounfalls: das Memorial-Day-Wochenende auf der Interstate 80, den bedeckten Himmel, die glatten Straßen. Der Sinn einer Beerdigung soll doch eigentlich sein, von dem verstorbenen Menschen Abschied zu nehmen, aber in diesem Fall hatten die Bestatter sich anscheinend große Mühe geben müssen, um Tina auch nur einigermaßen präsentabel herzurichten, und dieses Mädchen war mir fremd. Zu dieser Tina im offenen Sarg konnte ich keine Beziehung finden, um mich von ihr zu verabschieden - und vor allem, um ihr zu danken. Auch heute noch, nach all diesen Jahren, ist mir bewusst, wie Tinas Freundschaft und dann ihr schmerzliches Fehlen mein Leben für immer verändert haben.
Tina Wang war seit der Junior High School eine meiner engsten Freundinnen gewesen. Ich erinnere mich nicht mehr genau, wie wir uns kennengelernt haben, wahrscheinlich war es in der Schulcafeteria. Tina und ein paar andere chinesisch-amerikanische Schüler saßen oft zusammen, und bald setzte ich mich mittags zu ihnen an den Tisch. Es kann gut sein, dass wir nach dem Unterricht in einem der Kurse, die wir beide besuchten, ins Gespräch kamen, als wir uns auf dem Weg zur nächsten Stunde unter die Kids auf dem Flur mischten. Ich wünschte, ich könnte mich erinnern, aber ich weiß es nicht mehr. Ich erinnere mich aber sehr gut, dass Tina mich akzeptierte, sich mit mir anfreundete und mir erlaubte, mich mit ihr anzufreunden - im Gegensatz zu den meisten anderen Schülern.
Als Kind oder Teenager versteht kann man nicht wirklich, wie folgenschwer die kleinen Entscheidungen, die man jeden Tag trifft, sein können. Ganz gleich, wie aufgeweckt man in der Grundschule auch sein mag, kann man sich einfach nicht vorstellen, dass eine Entscheidung, die man in einem bestimmten Moment trifft - oder eine Entscheidung, die jemand anders für einen trifft - das gesamte weitere Leben beeinflussen und sich entscheidend darauf auswirken kann, welch ein Mensch man wird, welchen Beruf man ergreift, welche Chancen man bekommt oder nicht bekommt, welchen Herausforderungen man sich stellt und wie man sie bewältigen wird. Obwohl ich ein aufgeweckter Teenager war, lag diese Erkenntnis noch außerhalb meines geistigen Horizonts, als ich an die Junior High School wechselte.
Die meisten Schüler müssen nur einen einzigen Einschulungstag an der Junior High hinter sich bringen, aber da ich darauf bestanden hatte, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, waren es bei mir zwei: Der erste Tag in der siebten Klasse und dann der erste Tag im zweiten Trimester der achten Klasse. Als ich die Horn Elementary School besuchte, waren viele meiner Mitschüler die Sprösslinge von Professoren an der University of Iowa, die sich nur ein paar Meilen entfernt in Iowa City befand. Die Lehrerinnen an der Horn Elementary waren es daher gewohnt, dass ziemlich oft sehr aufgeweckte Kinder an die Schule kamen. Daher war es nichts Ungewöhnliches, wenn ein Kind schon in der sechsten Klasse Calculus, einen Kurs in Höherer Mathematik, belegte. Oder wenn ein Erstklässler auf Collegeniveau lesen konnte. Schon in der Kita gab es Kinder, die einen Wortschatz auf Collegeniveau hatten (zum Beispiel ich). Die Lehrer an der Horn Elementary School verstanden es, für außerordentlich gute Schüler genau den Lehrplan auszuarbeiten, den ihr Gehirn brauchte - ohne dabei aber aus den Augen zu verlieren, dass wir natürlich immer noch Kinder waren.
An einem kritischen Punkt meiner Grundschulzeit intervenierte meine Mutter. Seit ich in die dritte Klasse gekommen war, kam ich nach der Schule immer häufiger weinend nach Hause, weil ich mich im Matheunterricht zu Tode langweilte. Daraufhin erteilte meine Mutter der Schulleitung eine denkbar schlichte Anweisung: »Mein Kind hat spezielle Bedürfnisse, auf die in angemessener Weise eingegangen werden muss.« Dieser magische Satz aus dem Americans with Disabilities Act von 1990, dem Gleichstellungsgesetz für Menschen mit Behinderungen, erschloss mir die volle Flexibilität des Lehrplans der Horn Elementary School, der sich in hohem Maße auf Konzepte wie selbst gesteuertes Lernen stützte, sodass jedes Kind sich so intensiv mit einem Fach beschäftigen konnte, wie es seinen individuellen Neigungen und Begabungen entsprach, anstatt die Kids in normal oder schneller lernende Gruppen aufzuteilen. Es war ein Konzept, bei dem Wert darauf gelegt wurde, Kinder in der Gemeinschaft ihrer gleichaltrigen Mitschüler zu belassen. Als das Ende des sechsten Schuljahrs näher rückte, begann Jan Bohnsack, eine begnadete Lehrerin von mir, sich über meinen Wechsel in die allgemeine Schülerschaft einer Junior High School Sorgen zu machen. Da ich mich an die Flexibilität des Unterrichts an der Horn Elementary School und die Möglichkeit, schneller zu lernen als andere Kinder, gewöhnt hatte, befürchtete sie, dass ich sozusagen gegen eine Wand laufen würde, wenn ich gezwungen wäre, langsamer zu lernen und auf die anderen warten zu müssen.
Sie berief ein Gespräch mit meinen Eltern, der Schulleitung und mir ein, bei dem sie sich energisch dafür einsetzte, dass ich die siebte Klasse überspringen sollte. Anstatt auf ihr Urteil zu vertrauen, schlug ich einen Kompromiss vor: Ich wollte im ersten Trimester der siebten Klasse anfangen und dann die nächsten zwei Trimester in der achten Klasse durchlaufen. Diese auf den ersten Blick nebensächliche Entscheidung war die erste von vielen, die ich treffen würde und die meinen Lebensweg radikal verändern sollten.
Der Direktor der Junior High war ein überzeugter Anhänger der Führungsstrategie »teile und herrsche«. Er pflegte die Achtklässler seiner Schule gegen die Siebtklässler (die »Sevies«) in Stellung zu bringen, um für Ordnung zu sorgen. Da ich praktisch mitten im Schuljahr von der siebten in die achte Klasse gewechselt war, hatte ich mich selbst in die vertrackte Lage gebracht, nicht nur unter den Siebtklässlern als »Abtrünnige« zu gelten, sondern auch keine »echte« Achtklässlerin zu sein. Es ist schon schwierig genug für 10- bis 13-jährige »Tweens«, wenn sie an die Junior High kommen und in einer neuen Umgebung und Community Freundschaften schließen wollen - aber nun hatte ich diesen schwierigen Übergang für mich noch schwieriger gemacht.
Die Northwest Junior High School war eines jener großflächigen eingeschossigen Schulgebäude aus den Siebzigerjahren, die die Anmutung eines Gefängnisses mit niedriger Sicherheitsstufe ausstrahlen, und die Schulleitung wusste das. Dort lernte ich Tina kennen, und über Tina eine Clique chinesisch-amerikanischer Kids, die untereinander eng befreundet waren. Sie machten sich nicht lustig über mich, weil ich gut in der Schule war und mich für den Unterricht interessierte; im Gegenteil, sie waren auch so. In den Neunzigerjahren war nicht mehr zu bestreiten, dass Iowas Wirtschaft zu kämpfen hatte und ihre Zukunft auch nicht besser aussah. Wir alle hatten das gleiche Ziel, dass ich mir schon unabhängig von ihnen gesetzt hatte - schon damals hatten wir alle das dringende Bedürfnis, aus dem provinziellen Iowa rauszukommen. Eine entscheidende Voraussetzung für das Gelingen dieses Plans war, einen Studienplatz an einem guten College zu ergattern. Sie akzeptierten mich; sie waren jetzt meine Freunde.
In der Junior High wurde mir klar, dass ich extrem gut in Mathe war. Ich qualifizierte mich für das Mathcounts-Wettkampfteam meiner Schule zusammen mit John Hegeman, den ich Jahrzehnte später bei Facebook wieder treffen sollte, wo er das Team leitete, das für die Priorisierung von Content in Facebooks Newsfeed verantwortlich war, während ich in Civic Misinformation arbeitete.
Viele Mathe-Wettbewerbe sind in zwei Disziplinen aufgeteilt: eine Sprintrunde, in der 30 Aufgaben in einer vorgegebenen Zeit gelöst werden müssen, und eine Target-Runde, in der nur sechs Aufgaben gelöst werden sollen, die aber wesentlich schwieriger sind. Ich erreichte den zweiten Platz unter sämtlichen...
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