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Ziel dieser Arbeit ist es, die historische Entwicklung der drei Begriffe Organismus, System und Komplexität in der Geschichte der Sozialwissenschaften zu rekonstruieren. Diese Arbeit folgt den Methoden einer soziologischen Ideengeschichte, wie sie Stephan Moebius entwickelt hat.63 Dabei soll der Zusammenhang und die Wechselwirkungen zwischen einer kognitiven, einer sozialen und einer diskurs- und wirkungsgeschichtlichen Dimension herausgearbeitet werden. Bei der kognitiven Dimension geht es darum, die Begriffe, Modelle, Konzepte, Ideen etc. ideengeschichtlich zu kontextualisieren. Hier geht es zentral um die Frage, welche Ideen haben wie und auf welchen Wegen andere Ideen beeinflusst, welche Schulbildungen und Lehrer-Schüler-Verhältnisse haben sich herausgebildet? Welche theoretischen Konflikte, Debatten, Abgrenzungen bzw. Anknüpfungen gab es? Inwiefern waren wissenschaftliche und intellektuelle Strömungen in kulturellen oder politischen Bewegungen eingebettet? Diese geistes- bzw. ideengeschichtliche Ebene muss darüber hinaus rückgebunden werden an die soziale Dimension. Welche Akteure vertreten, kritisieren und verteidigen welche Ideen? Welcher Generation und welchem Milieu sind sie zuzuordnen. Wie sind diese Akteure in einem Netzwerk mit anderen Akteuren zu verorten? Auf der Mesoebene sind dabei Wissenskulturen, epistemische Gemeinschaften und wissenschaftliche Bewegungen relevant. Auf der Mikroebene geht es um die Frage, in welchen Salons, Vereinen oder politischen Gruppen sind die Akteure aktiv und an welchen Zeitschriften oder Organisation arbeiten sie mit. In der dritten, der diskurs- und wirkungsgeschichtlichen Dimension soll untersucht werden, wie aus dem Zusammenspiel von kognitiver und sozialer Dimension Diskurse entstehen, wie Wissen produziert wird und wie diese auf die Politik und Gesellschaft wirken.
Von diesem methodischen Rahmen ausgehend, soll im Folgenden darauf eingegangen werden, inwiefern die Methoden der Begriffsgeschichte (1), der Metapherngeschichte (2) und der Ideengeschichte der Cambridge School auf die Fragestellung dieser Arbeit anzuwenden sind (3).
In dieser Arbeit soll der geschichtliche Wandel der Begriffe Organismus, System und Komplexität in den Sozialwissenschaften rekonstruiert werden. Daher stellt sich zu Beginn die Frage, was eigentlich ein Begriff ist. Man kann den Begriff »Begriff« begriffsgeschichtlich aufgreifen und stellt fest, dass das er zuerst von Christian Wolff im 18. Jahrhundert als Übersetzung des altgriechischen Begriffs idea geprägt wurde.64 Ebenfalls erhellend kann es sein, alternative Begriffe mit ähnlichen Bedeutungen, aber doch anderen Konnotationen auszumachen, z.B. Wort, Idee, Vorstellung, Ausdruck, Modell, Metapher oder Konzept. Dass besonders zwischen den Wörtern »Begriff« und »Konzept« Ähnlichkeit besteht, zeigt auch, dass im Englischen teilweise der deutsche Ausdruck »Begriffsgeschichte«, aber auch der Begriff Conceptual History verwendet wird. Das Konzept der Metapher wird im nächsten Abschnitt erörtert.
Reinhart Koselleck, der Begründer der Begriffsgeschichte, hat »Begriff« und »Wort« dahingehend unterschieden: »Ein Wort kann eindeutig werden, weil es mehrdeutig ist. Ein Begriff dagegen muß vieldeutig bleiben, um Begriff sein zu können. Der Begriff haftet zwar am Wort, ist aber zugleich mehr als das Wort.«65 Diese Arbeit folgt diese Feststellung von Koselleck. Begriffe sind stets mehrdeutig und besitzen eine Bedeutungsfülle, weil sich nach Koselleck in diesen die Vielfalt historischer Erfahrungen oder auch wissenschaftlicher und weltanschauliche Debatten verdichtet haben. In Kosellecks Interesse lagen politische Grundbegriffe, wie Freiheit oder Revolution, welche immer stark umkämpft waren und unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen das Deutungsmonopol über diese Begriffe erlangen wollten. In Begriffen verdichteten sich diese Konflikte und Kontroversen. Jeglicher Versuch einer Definition würde diese Ambivalenzen, die in den Begriffen liegen, unzulässigerweise verdrängen. Doch gerade diese ambivalente Verfasstheit der Begriffe macht sie zu einem wichtigen Hilfsmittel für historische Rekonstruktionen. Koselleck kommt daher zu dem Schluss: »Alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozeß semiotisch zusammenfaßt, entziehen sich der Definition; definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat [.]. Ein Begriff bündelt die Vielfalt von geschichtlicher Erfahrung und eine Summe von [.] Sachbezügen in einen Zusammenhang, der als solcher nur durch den Begriff gegeben ist und wirklich erfahrbar wird.«66
Ähnlich ist es mit den Begriffen Organismus, System und Komplexität. An diesen Begriffen haben sich tiefgreifende wissenschaftliche und weltanschauliche Debatten aufgehangen (die fünf Problemfelder). So wurden diesen Wörtern in unterschiedlichen Zeiten, von unterschiedlichen Gruppen mit unterschiedlichen Erkenntnisinteressen unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben. Auf dieser Weise wurden diese Wörter zu Begriffen im Sinne Kosellecks, da diese mit einer Bedeutungsfülle aufgeladen worden sind. Weil es sich dabei nicht bloß um eine Vielfalt an Bedeutungen, sondern auch um sich widersprechende Verständnisse der Begriffe handelte, hat diese Widersprüchlichkeit die Dynamik der Entwicklung der Begriffe und deren Bedeutungswandel angeregt. Die Aufgabe der Begriffsgeschichte ist also nicht bloß zu untersuchen, wie die neue Bedeutung eines Begriffs eine ältere ablöst, sondern der Wandel von Bedeutungskomplexen soll untersucht werden.67
Bei der Rekonstruktion des Wandels der Bedeutungen können sprachwissenschaftliche Zugriffe eine Hilfe sein. Im Vordergrund steht der semasiologische Aspekt, weil geprüft werden soll, welche Bedeutungen die zu untersuchenden Begriffe besitzen. Dabei können nicht alle Bedeutungen untersucht werden, sondern nur die im Rahmen der Forschungsfrage relevanten. Andererseits soll auch onomasiologisch in den Blick gebracht werden, ob für ähnliche Sachlagen oder Problemstellungen unterschiedliche Vokabeln benutzt werden.68 Dieser Aspekt wird vor allem in Transformationsphasen relevant sein, z.B. beim Übergang von Organismus zum Systembegriff. Nach Koselleck können sich neu aufdrängende Benennungen soziale und politische Veränderungen indizieren.69 Solche linguistischen Hilfsmittel sind aber letztlich nur begrenzt. Worin Bedeutungen von Begriffen bestehen, lässt sich häufig nur aus der Praxis des Sprechens und Schreibens ermitteln. Nach Wittgenstein liegt die Bedeutung im Gebrauch von Begriffen. »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.«70 Daher muss im jeweiligen sprachlichen und zeitlichen Kontext sehr genau analysiert werden, wie Begriffen verwendet werden.
Dabei bestehen drei Möglichkeiten. Begriffe können sich im Lauf der Zeit ändern, während die jeweiligen Bedeutungen gleich bleiben. Andererseits können bei gleichbleibenden Wörtern sich ihre jeweiligen Bedeutungen ändern. Auch können sich sowohl Begriff als auch Bedeutungen im Wandel befinden. Dabei stehen Begriff und Bedeutung in wechselseitigem Einfluss zueinander.
Bevor der Bedeutungswandel der Begriffe rekonstruiert wird, muss in jedem Zeitabschnitt festgestellt werden, wie die Begriffe verwendet wurden und in welche Wortfelder sie eingebunden waren. Wortfelder können hierarchisch strukturiert sein und ein Begriff kann eine Position darin innehaben. Dessen Bedeutung ist dann auch durch das Verhältnis zu Ober- und Unterbegriffen abhängig. So kann als der Oberbegriff zu Organismus das Konzept der natürlichen Struktur angesehen werden. Demnach gibt es natürliche Strukturen, die keine Organismen sind, wie z.B. Kristalle. Es gibt aber auch nicht-hierarchische Wortfelder, in denen Begriffe Familienähnlichkeiten besitzen, aber nicht in einer Beziehung von Ober- und Unterbegriff zueinanderstehen. So gibt es semantische Beziehungen zwischen Organismus und biologischen System oder lebendiges System. Wortfelder können aber auch durch Gegenbegriffe geprägt sein. In bestimmten Epochen war durch die Nennung des Organismusbegriffs zugleich die Abgrenzung zum Mechanischen mitgemeint, so vor allem in den 1920ern. In der 2. Hälfte...
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