Schweitzer Fachinformationen
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Die Einleitung zum ersten Teil dieses Lehrbuchs haben wir mit der Feststellung begonnen, dass die Lernfähigkeit ein wichtiges Wesensmerkmal des Menschen ist. Die Lernfähigkeit erlaubt es, regelhaft und adaptiv auf aktuelle, sich stetig ändernde Anforderungen und Umweltereignisse zu reagieren. Dieses besondere Potenzial ist angeboren (übrigens auch bei den meisten nicht-menschlichen Lebewesen), nicht jedoch das Ausmaß seiner Nutzung. Zwar lernen alle Menschen, aber nicht alle können ihre Lernpotenziale in der gleichen Weise nutzen. Individuelles Lernen ist also die Nutzung des angeborenen, durch biologische Reifungsprozesse sich erweiternden, aber auch durch die Nutzung von Lerngelegenheiten sich stetig weiter entwickelnden Lernpotenzials. Eine gänzliche Nichtnutzung des individuellen Lernpotenzials ist schlichtweg undenkbar. Deshalb findet Lernen im Leben jedes Menschen statt, auch wenn es häufig unbewusst und beiläufig (inzidentell) und seltener gezielt und absichtlich (intentional) erfolgt.
Menschen müssen lernen. Die Phänomene, die uns als Beispiele von Lernen in den Sinn kommen, sind äußerst vielfältig. Sie reichen vom Auswendiglernen eines Gedichts, dem Aneignen neuer Vokabeln, dem Erwerb spezieller Kenntnisse und Fertigkeiten zur Nutzung des Internets oder zur Bedienung eines Fahrkartenautomaten über die Herausbildung von Vorlieben und Abneigungen oder die Übernahme von Vorurteilen bis hin zur Verfestigung individueller Angewohnheiten und Besonderheiten, wie z. B. einem ständigen Räuspern. Allein die Aufzählung dieser Beispiele macht deutlich, wie unterschiedlich Lernen sein kann: Lernen kann absichtlich (Vokabeln lernen) oder beiläufig (Entstehen von Vorlieben) vor sich gehen; es kann durch intensives Üben und Wiederholen (Gedicht lernen) oder durch eine einmalige Beobachtung (wie man einen Zapfhahn an einer Tankstelle benutzt) zustande kommen; es kann als Bereicherung und als Zugewinn (ein Computerprogramm für Videokonferenzen beherrschen) oder als Verschlechterung (sich lästige Angewohnheiten aneignen) empfunden werden.
Doch was ist den mit diesen Phänomenen verbundenen Lernprozessen gemeinsam? Was ist Lernen? Was genau ist geschehen, wenn wir sagen, dass jemand etwas gelernt hat? Hier stehen wir vor einer der Kernfragen der Psychologie. Bei der Beschäftigung mit dieser Frage haben sich unterschiedliche Auffassungen darüber gebildet, was zum Auslösen von Lernprozessen führt bzw. welchen Gesetzmäßigkeiten Lernen unterliegt. Trotz dieser unterschiedlichen Auffassungen, von denen die wichtigsten in diesem Kapitel skizziert werden, lässt sich auf einer sehr allgemeinen Ebene eine gemeinsame Vorstellung, d. h. ein definitorischer Kern von Lernen identifizieren.
Lernen ist ein Prozess, bei dem es zu überdauernden Änderungen im Verhaltenspotenzial als Folge von Erfahrungen kommt.
Lernen ist der Prozess, in dessen Folge es zu einer Änderung eines Verhaltenspotenzials kommt. Von einem Potenzial und nicht vom Verhalten selbst wird gesprochen, weil sich das Produkt des Lernens (das Lernergebnis) nicht notwendigerweise unmittelbar in einem konkret beobachtbaren Verhalten niederschlagen muss (obwohl ein solcher Niederschlag zur leichten Feststellung des sichtbaren Lernerfolgs sehr hilfreich ist). Dass gelernt wurde, kann sich auch in zukünftigen Handlungen oder Verhaltensweisen noch zeigen. Der Prozess des Lernens unterscheidet sich von anderen Veränderungsprozessen (wie z. B. Reifungs- oder Degenerationsvorgängen) wesentlich dadurch, dass er unmittelbar an Erfahrungen gebunden ist.
Uneinheitlich sind allerdings die Auffassungen darüber, was genau diesen Lernprozess ausmacht, was genau eine überdauernde Änderung von Verhaltenspotenzialen - also das Produkt oder Ergebnis des Lernprozesses - charakterisiert und welche Art von Erfahrungen geeignet sind, den Lernprozess auszulösen.
Ungeachtet der durchaus kontroversen Sichtweisen zu diesen Fragen ist der vorangestellten Definition des Lernens aber zu entnehmen, dass Lernen nicht denkbar ist ohne eine besondere Instanz, in der die Ergebnisse von Lernprozessen konserviert werden - also einem Gedächtnis. Obwohl in der Lernforschung zeitweise die Ansicht vertreten wurde, dass Lernen auch ohne Gedächtnis funktionieren könne (so z. B. von John B. Watson, dem Begründer der behavioristischen Lerntheorie), sind sich Lernforscher spätestens seit der sogenannten Kognitiven Wende darin einig, dass jeder Lernprozess auch von einer mentalen Veränderung begleitet wird, die in irgendeiner Form das Lernergebnis konserviert und dauerhaft sichert.
So weit zu den Gemeinsamkeiten psychologischer Vorstellungen darüber, was Lernen ist. In den folgenden Abschnitten dieses Kapitels sollen nun die wichtigsten und bis heute einflussreichen Auffassungen über Lernen dargestellt werden. Unsere Auswahl ist dabei notwendigerweise selektiv. Das ist schon allein aus Gründen der Darstellungsökonomie erforderlich. Bereits in den 1960er Jahren benötigten Hilgard und Bower (1966) für einen kompakten Überblick damals diskutierter Theorien des Lernens ein zweibändiges Werk, und seither sind eine Vielzahl neuer Erkenntnisse hinzugekommen (z. B. Anderson, 2000; Baddeley, 1998). Auf eine detaillierte Darstellung einzelner Lerntheorien wird deshalb völlig verzichtet. Stattdessen wird ein übergeordnetes Kategorienschema (Auffassungen über Lernen) gewählt, um zu beschreiben, welche Aspekte von Lerntheorien unter der Perspektive einer Nutzung in pädagogischen Situationen von besonderer Bedeutung sind. Vier grundlegende Auffassungen über Lernen werden dabei unterschieden: erstens, dass Lernen durch die Bildung von Assoziationen zwischen Sinneseindrücken und Handlungsimpulsen oder zwischen Reizinformationen zustande komme ( Kap. 1.1); zweitens, dass Lernen im Wesentlichen als Verhaltensänderung auf der Basis der operanten Konditionierungsgesetze zu beschreiben sei ( Kap. 1.2); drittens, dass Lernen im Wesentlichen als Erwerb deklarativen, prozeduralen und konditionalen Wissens als Folge mentaler Verarbeitungsprozesse im menschlichen Informationsverarbeitungssystem charakterisierbar sei ( Kap. 1.3); und viertens, dass sich Lernen am besten als eine individuelle Konstruktion von Wissen infolge des Entdeckens, Transformierens und Interpretierens komplexer Informationen durch den Lernenden selbst beschreiben lasse ( Kap. 1.4).
Um keine falschen Hoffnungen zu wecken: In den Teilabschnitten dieses Kapitels kann es nicht darum gehen, eine umfassende, für die Optimierung individuellen Lernens geeignete Theorie zu skizzieren. Eine solche Theorie haben wir nicht anzubieten. Denn trotz äußerst fruchtbarer Weiterentwicklungen der pädagogisch-psychologischen Lernforschung, die auch in den nachfolgenden Kapiteln 2 und 3 skizziert werden, gilt noch immer die von Hilgard und Bower vorgenommene Einschätzung:
Die Konstruktion einer völlig zufriedenstellenden Lerntheorie wird wahrscheinlich noch auf lange Zeit eine unvollendete Aufgabe bleiben. (Hilgard & Bower, 1966/1970, S. 29)
Welches sind die philosophischen und historischen Wurzeln moderner Auffassungen über Lernen?
Was sind die Grundideen der Auffassung vom Lernen als Verhaltensformung bzw. Verhaltensänderung und welche Lernprinzipien folgen daraus?
Was sind die Grundideen und Lernprinzipien der Auffassung vom Lernen als Wissenserwerb?
Welche Vorstellungen stecken hinter dem Ansatz, Lernen als Wissenskonstruktion aufzufassen?
Mit dem Gedanken, dass sich alle Erkenntnis aus der Erfahrung ableitet, erlangte die in England ansässige philosophische Schule des Empirismus um Thomas Hobbes, John Locke und David Hume im 17. und 18. Jahrhundert Weltgeltung. Im 19. Jahrhundert war es John Stuart Mill, der die Erkenntnislehre des englischen Empirismus wieder in Erinnerung brachte. Unter Rückgriff auf Aristoteles entwickelten die Vertreter des englischen Empirismus die Assoziationstheorie. Erkenntnis basiert dieser Theorie zufolge auf den sinnlichen Erfahrungs- bzw. Vorstellungsassoziationen, deren elementarste Form die räumliche und zeitliche Berührung von Ereignissen (Kontiguität) darstellt, die aber auch durch wahrgenommene Gleichheit oder Ungleichheit (Gesetz der Ähnlichkeit bzw. des Kontrasts) und durch die Wahrnehmung einer zeitlichen Abfolge (Gesetz der Kausalität) zustande kommen können.
Als sich am Ende des 19. Jahrhunderts eine eigenständige physiologisch-naturwissenschaftliche Psychologie zu etablieren begann, wurde zur Beschreibung menschlicher Geistestätigkeiten auf das in der philosophischen Assoziationstheorie formulierte Prinzip der Kontiguität zurückgegriffen:
Wenn zwei...
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