Schweitzer Fachinformationen
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Maximilian Blömer und Andreas Peichl
»Wer arbeitet, soll mehr haben als die Person, die nicht arbeitet« - kaum eine andere Forderung prägt die politische Debatte um Sozialleistungen so stark wie diese. Gemeint ist meist der sogenannte Lohnabstand, also der finanzielle Abstand zwischen Erwerbstätigen und Transferbeziehenden. Doch wie eindeutig ist dieser Abstand tatsächlich - und welche Anreize zur Erwerbsarbeit setzt das deutsche Transfersystem in seiner aktuellen Ausgestaltung?
Unser Beitrag beleuchtet die Bedeutung monetärer Erwerbsanreize im Transfersystem Deutschlands und erörtert häufig diskutierte Problemfelder sowie mögliche Reformoptionen. Basierend auf theoretischen Überlegungen und repräsentativen Analysen aus vorhergehenden Studien vertreten wir die These, dass Reformen der Ausgestaltung des Transfersystems zu Verbesserungen führen können, insbesondere im Hinblick auf die Zielgröße Beschäftigung.
Die hier diskutierten Reformoptionen betreffen monetäre Erwerbsanreize einer konkreten Zielgruppe: Personen, die prinzipiell dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, potenziell Langzeitarbeitslose oder auch bereits Beschäftigte. Letztere Gruppe umfasst erwerbstätige Leistungsempfänger (»Aufstocker«),1 jedoch nicht Personen mit multiplen Vermittlungshemmnissen. Im Fokus stehen die Transferleistungen Bürgergeld, Wohngeld und Kinderzuschlag. In aktuellen politischen Debatten lassen sich zwei Ansätze identifizieren: Erstens, die Höhe der Transferleistungen, die oft im Zusammenhang mit der Diskussion um den »Lohnabstand« thematisiert wird, und zweitens, die Höhe des Transferentzugs - also der Umfang, in dem Transferleistungen mit steigendem Einkommen reduziert werden.
Die Höhe der Transferleistungen im Grundsicherungssystem wird durch die statistische Berechnung eines Existenzminimums festgelegt, die sich in Regelsätzen und angemessenen Kosten der Unterkunft widerspiegelt. Gerade die Wohnkostenkomponente beeinflusst Diskussionen um den Lohnabstand maßgeblich, da sie im Einzelfall deutliche Unterschiede zwischen Transfer- und niedrigem Erwerbseinkommen hervorruft. Die Festlegung der Leistungshöhe und regelmäßige Anpassungen der Transferleistungen an die Kaufkraft sind im Prinzip politisch unabhängig. Mit der stärkeren Inflation ab 2022/23 ist jedoch die Diskussion über die Angemessenheit des Bürgergeldes im Vergleich zum Erwerbseinkommen (v.a. Lohnabstand) intensiviert worden. Diese Diskussion zielt jedoch - unter Beibehaltung des Prinzips der Sicherung des Existenzminimums (nicht mehr und nicht weniger) - eher auf die Berechnung des Existenzminimums und die Anpassungsmechanismen an die Preisentwicklung ab. Der Lohnabstand ist grundsätzlich positiv geblieben (Blömer u.a. 2024a).
Die Ausgestaltung des Transferentzugs ist jedoch politisch diskretionär. Bei Bürgergeld, Wohngeld und Kinderzuschlag wurde die Ausgestaltung in den letzten fast zwanzig Jahren mehrfach und in kleinen Schritten angepasst, etwa durch das Starke-Familien-Gesetz, die Bürgergeld-Reform im Juli 2023 und zuletzt umfangreichere Anpassungen beim Wohngeld (»Wohngeld-Plus«). Der Beitrag konzentriert sich daher auf diese Dimension des Transfersystems. Die von uns untersuchten in verschiedenen Ex-ante-Simulationsstudien analysierten Reformoptionen zielen insbesondere auf eine Anpassung des Transferentzugs, um Anreize zur Aufnahme und Ausweitung von Erwerbstätigkeit zu verbessern.
Ein weiterer Kritikpunkt ist die Komplexität des Systems an sich. Ein Ansatz zur Vereinfachung des Systems könnte die Zusammenlegung der Transferleistungen sein, auch wenn dies mit erheblichen politischen Herausforderungen verbunden wäre.
Die Vielzahl an Transferleistungen führt nicht nur zu einer hohen Komplexität, sondern auch zu geringer Transparenz. Es gibt mehrere Anlaufstellen für unterschiedliche Leistungen, was den Zugang erschwert. Zudem besteht eine sogenannte »Vorrangprüfung« zwischen Bürgergeld, Wohngeld und Kinderzuschlag, was die ökonomisch sinnvolle Gestaltung des Transfersystems weiter verkompliziert. Die Wohngeld-Plus-Reform sowie regelmäßige Anpassungen der Transferleistungen, insbesondere im Bereich des Bürgergeldes, führen zu weiteren Verschiebungen dieser Vorrangigkeit.2
Vor allem hohe und teilweise stark schwankende Grenzbelastung, auch als effektive Grenzsteuersätze (EMTR) bezeichnet, bestimmen, inwieweit Transferleistungen bei steigendem Einkommen reduziert werden. Beim Bürgergeld beträgt der Anrechnungsprozentsatz ab einem Freibetrag von 100 Euro 80 Prozent, fällt dann ab 520 Euro auf 70 Prozent, um dann wieder auf 90 Prozent und schließlich 100 Prozent zu steigen. Insbesondere bei parallelem Bezug von Wohngeld und Kinderzuschlag, können Grenzbelastungen sogar über 100 Prozent steigen. - besonders bei Haushalten mit hoher Miete, in bestimmten Mietstufen oder bei einer Haushaltsgröße unter vier beziehungsweise über sieben Personen. Dies bedeutet, dass der Anreiz zur Arbeitsausweitung unter diesen Bedingungen sehr gering sein kann, da das zusätzliche Einkommen durch den Transferentzug komplett aufgebraucht wird.
Obwohl intuitiv klar ist, dass eine Grenzbelastung von 100 Prozent den monetären Anreiz zur Arbeitsaufnahme erheblich hemmt, ist es nicht möglich, eine einfache und pauschale Grenze zu definieren, ab der Fehlanreize als »gefährlich hoch« gelten. Vielmehr hängt der Grad der Anreizhemmnisse von der Höhe der Grenzbelastungen ab. Auch die Partizipationsbelastung, also der Effekt, der durch die Aufnahme einer Beschäftigung entsteht, ist hoch. Zwar hat eine erwerbstätige Person immer ein höheres Einkommen als eine nicht erwerbstätige, jedoch fällt dieser Unterschied in einigen Fällen nicht groß aus. Jüngste Anpassungen im Bürgergeld im Jahr 2024 haben daran wenig geändert. Zudem besteht für Sachleistungen wie das Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) sowie kommunale Leistungen eine besondere Problematik: Sie entfallen abrupt, sobald das Einkommen über den Transferbereich hinaus ansteigt.
Das System der Erwerbsanreize unterscheidet nur eingeschränkt zwischen unterschiedlichen Haushaltszusammenhängen, während es bei der Festlegung der Leistungshöhe stark differenziert. Schließlich ist die unvollständige Inanspruchnahme von Leistungen ein weiterer Kritikpunkt. Viele berechtigte Haushalte beantragen keine Leistungen, da sie die Hürden als zu hoch empfinden oder das System schlicht nicht durchschauen. Größere Reformen, die diese Kritikpunkte adressieren, blieben bislang aus. Zwar brachte die Wohngeld-Plus-Reform eine deutliche Ausweitung der Leistungshöhe und des Empfängerkreises mit sich, jedoch wurden bestehende Kritikpunkte in der Ausgestaltung des Transferentzugs nicht angegangen. Im Vergleich zur aktuellen Reformdebatte um das Bürgergeld war diese Wohngeldreform politisch und medial eher eine »stille« Reform, die trotz ihres großen Volumens relativ wenig Beachtung gefunden hat.
Bürgergeld: Verschiedene Reformvarianten zur Verbesserung der Erwerbsanreize beim Bürgergeld wurden in einem Gutachten für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) untersucht (Peichl u.a. 2023). In der empfohlenen Variante werden Transferentzugsraten in bestimmten Einkommensbereichen gesenkt, um Anreize zur Arbeitsaufnahme zu verbessern. Konkret sieht die Reform folgende Anpassungen vor: Für Einkommen zwischen 520,01 und 2000 Euro soll der Transferentzug von bisher 80 Prozent auf 70 Prozent gesenkt, ab 2000,01 Euro auf 65 Prozent reduziert werden.
Die Kernergebnisse zeigen, dass Arbeitsanreize je nach Haushaltszusammenhang (etwa Kinderzahl oder Paarstatus) unterschiedlich ausfallen, mit sowohl positiven als auch ...
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