Schweitzer Fachinformationen
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Sommer 1913
Casa d'Antino, Frederiksberg
JEDER DER MÄNNER trägt einen Baum. Den Wagen des botanischen Gartens haben sie dreißig Meter von der Casa d'Antino entfernt an der Ecke Mariendalsvej und Drosselvej abgestellt. Meine schöne Kentiapalme, die größte, mussten sie, damit sie überhaupt in den Wagen passte, behutsam biegen, sodass ihre Wedel gegen das Dach federten. Hier, im Abendlicht am Fuglebakken zu voller Größe entfaltet, ist ihr Anblick unübertroffen. Ich stelle mir vor, wie meine Nachbarn Else und Harald Moltke bei Abendtee und Zuckerbrot in ihrer Sofaecke sitzen und Graf Harald nach seiner Lesebrille greift, dabei einen Blick aus dem Fenster wirft und einen Dschungel vorbeiwandern sieht.
«Ihr seht aus wie ägyptische Fächerträger, mit all den wedelnden Palmblättern über euren Köpfen», rufe ich den Arbeitern zu, die vorsichtig - denn ich habe sie ermahnt, die Pflanzen so achtsam zu behandeln wie Säuglinge oder chinesisches Porzellan - meine Paradiespalmen tragen. Zuerst kommt Kentia, hinter ihr die Phönixpalme und dann die Dracena, deren Blätter ihre messerscharfen Schatten auf Haus und Fensterscheibe werfen.
«Hier lang, ja, so. Vorsicht in der Tür, dass sie mir ja nicht knicken! Das wäre doch jammerschade.» Ich trete von der Eingangsschwelle meiner Villa. Die türkisfarbene Haustür öffnet sich zu den Beeten, in denen Päonien in allen Farben blühen, dazu Purpursonnenhut und blaue Iris; die Fenster darüber sind nach dem Hitzeausbruch des Nachmittags immer noch durstig geöffnet. Auch die Türen zum Hintergarten und zum Sonnenschoß, meiner nach Süden gewandten Terrasse mit ihren Blumentöpfen und Blutjohannisbeeren, stehen sperrangelweit offen, und so kann der Juli nun prall und mit allen Düften durchs Haus toben und die Spitzengardinen zu Windkörpern blähen, deren Tanz den Staub aufwirbelt, den Frau Hessellund in den Ecken hat liegen lassen.
«Hier herein, durch das Wohnzimmer in mein Atelier», singe ich meinen muskulösen Riesenengeln, als sie mit den Palmen über die Schwelle treten. «Immerhin erschaffen wir hier das Paradies, meine Herren.»
Der Baum der Erkenntnis, habe ich beschlossen, wird ein Zitronenbaum sein. Der ist über die Maßen schön, mit Früchten so groß wie Fäuste, die sich um die Sonne schließen.
Als die Trageengel wieder gegangen sind, setze ich mich und nehme die Szenerie in Augenschein. Mein großes Atelier, das zuvor so hell war, hat sich in eine grünliche Grotte verwandelt, erfüllt von einer gänzlich fremden Duftpalette. Vor allem von den Bananen geht ein starker Geruch aus. Ich habe vollreife gekauft, um das intensivste Gelb zu erhalten, das die Bananencouleurskala zu bieten hat, denn wenn so vieles auf dem Bild grün wird, müssen die Bananen in einem so reifen Gelb leuchten, dass es gelber nicht geht: Man soll die Farbe riechen können, ihr Zittern am Abgrund, unmittelbar bevor sie sich hinabstürzt ins Braune.
OFT LIEGE ICH morgens lange im Bett und warte, dass die Wirklichkeit ankommt und die grauen Wände des Schlafs aus meinem Bewusstsein verjagt. Manchmal werde ich von Doggy geweckt. Er wetzt an meinem Schlafzimmer vorbei und setzt sich mit einem breiten, klatschenden Geräusch vor der Küchentür auf den Fliesenboden des Entrées. Wenig später höre ich, wie Frau Hessellund die Tür zu ihrem Zimmer öffnet. «Guten Morgen, Doggy», sagt sie mit leiser Stimme und geht mit dem Hund in die Küche. Durch das Gewusel der beiden fühlt sich das Haus nun an wie ein Körper, der sich hin und her wälzt, aber noch nicht aus dem Bett will. An manchen Morgen wache ich so zeitig auf, dass ich weder die Vögel hören kann, noch die Straßenbahn oder Doggy. Nur meinen eigenen Atem. Dann möchte ich nicht aufstehen. Das wäre, als träte man hinaus in einen Traum, als stünde man eines klaren Morgens auf und entdeckte, dass die Welt vierzehn Minuten nach vier zum Stillstand gekommen ist und alle Menschen, Vögel und Tiere zu Schatten geworden sind. Wie es wohl sein mag, taub zu sein, eingeschlossen im Vakuum des eigenen Körpers. Dann würde ich niemals aufstehen. Aber jetzt ist es schon weit nach Sonnenaufgang, der Tag ist hier, das merkt man vor allem an Frau Hessellunds immer lauter schnalzenden Schritten; mit ihr muss man behutsam umgehen - manchmal schnappt sie zu. Sie poltert und klappert mit den Töpfen, um mich hören zu lassen, dass heute sie das Haus am Laufen hält, während ich wie ein störrisches Kind im Bett liegen bleibe. «Peter, Frühstück!», höre ich sie ihrem Sohn zurufen, dem sechsjährigen, vogelgliedrigen Peter. Er läuft mit nackten Füßen über den grünen Fliesenboden in die Küche, wo der Haferbrei dampfend auf ihn wartet.
Heute scheint die Sonne, das höre ich am arbeitslüsternen Summen, das aus dem Garten zu mir hereindringt, nun, da all meine Sommerblumen sich zu voller Blüte geöffnet haben und mit ihren Staubblätterzungen benommen nach den Bienen lecken. Die Sonne treibt ihre Messer in die Erde: So lasst denn Grünes sprießen und Blütenflor, Triebe schlagen und Knospen bersten, denn heute ist der Tag, an dem Adam kommt! Vielleicht wäre mir das Ganze niemals eingefallen, wenn wir nicht gerade den Paradiesmonat hätten, diesen einen Monat, in dem hier bei uns die Worte «drinnen» und «draußen» die Bedeutung verlieren, die ihnen während all der anderen Monate innewohnt. Im Juli schläft man mit offenen Fenstern und Türen. Wir verwandeln uns in kleine Gartentiere und essen im Freien - dort stehen die Terrassenmöbel und trinken die Wärme wie durstige Kühe. Im Juli trifft man auf keinen Widerstand: hinauszugehen ist wie in sich selbst umherzuwandeln, zu Hause auf jedem Wiesenfleck, unter jedem Schatten.
Ich habe ihn letzte Woche gefunden, im Zug auf der Heimreise von Kalundborg. Die Luft stand still, selbst an der Küste, und alles - die Steine, die Dünen, der Sand, der Zug - vibrierte im heißen Dunst. Ich nahm meinen Koffer und begab mich in die Coupéhitze, um meinen Platz zu suchen. Im Zugwaggon wimmelte es von Körpern, allesamt in Blau. Sie schrien, schlugen einander auf die Schultern und warfen mit Taschen und Mundvorrat quer über den Mittelgang, während ich mich höflich zwischen ihnen hindurchdrückte, meine Reisetasche vor mir herhaltend wie den Steven jener breitheckigen Jolle, die ich war. Ich hatte einen Fensterplatz am hintersten Ende des Coupés, allerdings hatte sich mein Sitznachbar quer über beide Sitze ausgestreckt und schlief, das Kinn gegen die Brust gepresst, sodass seine Atemzüge klangen wie die eines neugeborenen Kalbs mit verschleimtem Hals. «Henriksen!», riefen seine Kameraden auf den Sitzen vor uns, und einer von ihnen gab ihm einen Klaps auf die Mütze, sodass Henriksen mit einem missmutigen Blick in meine Richtung aufsprang. Als der Zug sich schließlich in Bewegung setzte und sowohl Reisetasche als auch breitheckige Jolle an dem auf meiner Fahrkarte angegebenen Platz verstaut waren, schlief Henriksen bereits wieder.
Dank eines lustigen Zufalls war ich als offenbar einziger ziviler Passagier im Soldatenwaggon platziert worden, der ungeachtet der Temperatur bis auf den letzten Platz gefüllt war. Die Soldaten hatten versucht, den Unterschied zwischen drinnen und draußen durch das Öffnen sämtlicher Coupéfenster aufzuheben, soweit sich das nun machen ließ. Dies zeigte erst dann so richtig seine Wirkung, als wir über den offenen seeländischen Feldern an Fahrt gewannen und der Duft von Wiese, Heu und Weidevieh in die Schwüle unseres Wagens hereinpolterte. Ich saß in meinem hellen Leinenanzug auf meinem Platz und fächelte mir mit der Zeitung zufrieden Luft zu, eigentlich recht guter Dinge, von südländischen Sommern an Hitze gewöhnt, während die Soldaten in ihren Uniformen schwitzten und stöhnten, ehe sie schließlich einer nach dem anderen unter Gegröle und Gelächter und Geschubse und Geknuffe anfingen, sich die Hemden aufzuknöpfen. Es war, als würde vor meinen Augen ein Picknickkorb ausgepackt: kalte Hähnchenkeulen, Tarten, Pasteten, Apfelspalten und Gläser prickelnden Perlweins, so wurden Kleidersäcke und Tornister auf den Boden geworfen und als Schemel oder Spieltische für eine Art Whist benutzt, aufgeknöpfte Uniformjacken häuften sich zu blauen Wollbergen, während Stiefel faul von den Füßen gestreift wurden, sodass vom grünen Boden des Coupés ein moosartiger Geruch aufstieg. Einer der Soldaten, derjenige, der zuvor Henriksen wachgeknufft hatte, zog sich sogar noch weiter aus und zwinkerte mir barbrüstig zu.
Adam saß auf der gegenüberliegenden Seite des Gangs in der Ecke, halb schlafend, den Kopf gegen das Fenster gelehnt. Darum war er mir anfangs nicht aufgefallen. Sein blondes Haar war eins mit den Kornfeldern, die mit der zähflüssigen Hast des Sommers am Zug vorbeischossen - wie schnell der Sommer doch immer verrinnt - und die grelle Nachmittagssonne verwischte seine Gesichtszüge, sodass ich, während er schlief, von meinem Platz aus kaum mehr von ihm sah als einen Lichtfleck in der Ecke. Doch dann wurde nach ihm gerufen, und plötzlich, ohne sichtbaren Übergang von Schlaf zu voller Existenz, stand Adam im Mittelgang des Coupés, leicht vornübergelehnt, die Arme lässig auf den Sitzlehnen vor ihm liegend, von wo er sich sogleich wie ein launenhafter Donnergott anschickte, einen Kameraden an den Haaren zu ziehen. «Teufel!», rief der Angegriffene, Adams Hand zur Seite schlagend, während jener grinste und mit sergeantartiggrober Freundlichkeit dem Jungen hart die Wangen tätschelte.
Eine plumpe pinkfarbene Päonie.
Seine lederne Hose, das Hemd mit den lose über die Ellbogen gekrempelten Ärmeln, das Sonnenlicht auf den Flimmerhärchen seiner Arme und ein trockener Atemzug der vorbeifahrenden...
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