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Nach dem Regierungsantritt der schwarzblauen Koalition gab es in Wien zuerst täglich, dann wöchentlich Demonstrationen. Am 12. Februar 2000 versammelten sich etwa 15000 Menschen vor dem Karl-Marx-Hof. Dort war 66 Jahre zuvor die österreichische Armee mit Panzern und Granatwerfern gegen bewaffnete Arbeiter vorgegangen. Während der Kundgebung telefonierte meine Frau mit einer 78-jährigen Tante, die an diesem Platz wohnte. Durch das Telefon waren Sprechchöre, Pfeifen und Trommeln zu hören. Die Tante sagte: »Dieser Lärm auf der Straße macht mich ganz nervös. Jetzt geht das wieder los. Du, ich glaube ich habe einen Schlaganfall. Ich kann nicht mehr reden.« Das waren ihre letzten Worte. Ein paar Stunden später starb sie im Krankenhaus.
Ich will mich nicht zu der These versteifen, dass die Tante meiner Frau das letzte Opfer des österreichischen Bürgerkriegs war, aber sie war alt genug, um zu wissen, was Lärm vor dem Karl-Marx-Hof bedeutet hat. Und sie hatte Angst, dass etwas, das überwunden zu sein schien, wieder aufbrechen könnte - die nie geheilte historische Wunde Österreichs.
Die derzeitige politische Situation mit dem Bürgerkrieg in Verbindung zu bringen mag auf den ersten Blick etwas Abstruses haben. 1934 standen die Arbeiter geschlossen hinter der Sozialdemokratischen Partei, im Oktober 1999 hingegen haben 46 Prozent der wahlberechtigten (und das heißt staatsbürgerlich inländischen) Arbeiter für die Partei von Jörg Haider gestimmt. Aber gerade das hat auch mit einer historischen Kontinuität zu tun, die auf den Bürgerkrieg zurückgeht. Die ÖVP hätte, selbst mit einem Jörg Haider als Obmann, niemals 46 Prozent der Arbeiterstimmen erhalten.
Nicht wenige in Österreich fragten sich, warum schon wieder wir? Wir haben den Waldheim ausgesessen und haben uns mit Zweidrittelmehrheit dazu entschlossen, ein Teil der Europäischen Union zu sein - warum fallen schon wieder alle über uns her? Wir sind doch nicht so viel anders als die andern. Warum dürfen die französischen Rechtsextremen Bürgermeister stellen, die italienischen Neofaschisten ein paar Jahre in Regierungsverantwortung sein, aber die FPÖ und jeder, der sich mit ihr zusammentut, wird geächtet, als hätte er sich dem Teufel verschrieben. Wo war denn der europäische Aufschrei, als Bruno Kreisky gleich fünf Ehemalige in die Regierung nahm: den SS-Mann Karl Öllinger, die NSDAP-Mitglieder Otto Rösch, Oskar Weihs, Erwin Frühbauer und Josef Moser. Hat das damals überhaupt jemanden in Europa interessiert?
Es gab Menschen, die das interessiert hat. Mitglieder von Opferverbänden und Lagergemeinschaften, Aktivisten der jüdischen Gemeinden und den einen oder anderen Alt- und Jungsozialisten. Muss das sein?, fragten sie Kreisky. Und seine Antwort war: Ja, das muss sein. Kreisky leitete eine Minderheitsregierung, und er brauchte politische Hilfe. Er fand sie im damaligen Obmann der FPÖ, Friedrich Peter, einem ehemaligen Mitglied der Waffen-SS. Im Streit um solche Bündnispartner ließ Kreisky sich hinreißen, Simon Wiesenthal zu beleidigen und unterschwellig der Nazi-Kollaboration zu bezichtigen. Er war bereit, seine Exnazi-Minister und Exnazi-Verbündeten als anständige Menschen zu verteidigen, solange ihnen nicht eine konkrete Schuld, ein konkretes Verbrechen zur Last gelegt werden konnte.
Kein europäischer Aufschrei. Den gab es erst nach Kreisky, Anfang 1985, als der damalige FPÖ-Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager dem Kriegsverbrecher SS-Obersturmbannführer Walter Reder, der aus italienischer Haft in der Festung Gaeta freigelassen worden war, einen Staatsempfang bereitete. Ich erinnere mich an das blasse Gesicht des jungen Verteidigungsministers, an sein Stottern. Für ein, zwei Tage verstand er die Welt nicht mehr. Bisher hatte sich nämlich eine ganze Reihe von Politikern für die Freilassung Walter Reders eingesetzt, ja man hatte ihm während seiner Haft sogar die österreichische Staatsbürgerschaft zuerkannt, die er am Beginn seiner SS-Karriere in Deutschland freiwillig abgelegt hatte. Frischenschlager fiel gleichsam nur die Ernte dieser vielseitigen Bemühungen zu. Aber plötzlich war alles anders. Irgendwo musste, vom offiziellen Österreich unbemerkt, in die europäische Geschichte ein anderer Gang eingelegt worden sein.
Tatsächlich war Österreich in diesen Jahren drauf und dran, von der europäischen Entwicklung abgehängt zu werden. François Mitterrand hatte vor dem Deutschen Bundestag gesprochen und in Helmut Kohl einen Verbündeten für die europäische Einigung gefunden. Im Juni 1984 hatten in zehn Ländern der Europäischen Gemeinschaft bereits die zweiten Direktwahlen zum Europäischen Parlament stattgefunden. Man sprach in Brüssel und Straßburg nicht mehr ausschließlich über die Landwirtschaft, man strebte eine politische Union an. Frankreich begann sich, in Vorbereitung des Prozesses gegen den Kriegsverbrecher Klaus Barbie, ernsthaft der Schattenseite der eigenen Geschichte, der Kollaboration, zu stellen und brachte damit eine Lawine ins Rollen, die sich in der Folge auch auf andere von der Deutschen Wehrmacht besetzte Staaten ausdehnte - und letztlich sogar auf die neutralen Länder Schweden und Schweiz.
Frischenschlager, der später die FPÖ verließ, war ein paar Tage verschreckt, aber dann klug genug, die Zeichen zu erkennen. Er entschuldigte sich in aller Form vor dem Parlament und in Israel. Damit rief er den Unmut von Jörg Haider hervor, der immer schon ein Problem mit Entschuldigungen hatte. Das, was Walter Reder getan habe, nämlich das Massaker an der Zivilbevölkerung von Marzobotto, »hätte ja schließlich und endlich dem Vater von jedem von uns passieren können«, so wetterte damals der Aufsteiger aus Kärnten.
Ein Jahr später der nächste Aufschrei. Kurt Waldheims NS-Mitgliedschaft wurde enthüllt. Der Präsidentschaftskandidat verteidigte sich mit den Worten, er habe schließlich nichts anderes getan als Hunderttausende andere Österreicher auch, nämlich in der Deutschen Wehrmacht seine Pflicht erfüllt. Doch die internationale Kritik wollte nicht verstummen. Jetzt erst recht, plakatierte die ÖVP. So mancher ÖVP-Grande witterte eine Verschwörung des Weltjudentums und der Sozialistischen Internationale. Waldheim wurde Bundespräsident, in Schutz genommen auch von einem prominenten Juden und Sozialisten, von Bruno Kreisky.
Die ÖVP wählte mit Erhard Busek einen hellhörigen Obmann, der die Partei aus dem Sumpf des Waldheim-Wahlkampfs herausführen wollte. Seine Bemühungen blieben lange unbedankt. Das politisch-emotionale Erbe dieses Wahlkampfs lag brach.
Wenn in den letzten fünfzehn Jahren in Österreich etwas politisch brachlag, war Haider zur Stelle. Seine Aussprüche von der »ordentlichen Beschäftigungspolitik des Dritten Reiches« bis zur Kennzeichnung der Konzentrationslager als »Straflager« begleiteten das politische Leben wie ein unabstellbares Echo aus dem braunen Gebirgsmassiv unserer Geschichte. Auch als er längst eine neue politische Brache entdeckt hatte, die EU-Gegner, konnte er es nicht lassen, noch einmal vor Veteranen der Waffen-SS aufzutreten und ihnen zu bescheinigen, dass sie »liebe Freunde« und »anständige Menschen« seien. »Ein Volk«, so Haider, »das seine Vorfahren nicht in Ehren hält, ist sowieso zum Untergang verurteilt.«
Während man in ganz Europa von der Überwindung des Erbes der Vorfahren sprach, sprach Haider von deren Ehre. Da hatte sich einer, der schon seit Jahren auf der Watchlist des europäischen Journalismus stand, noch einmal kräftig ins europäische Mediengewitter hinausgelehnt. Es sollte nur ein Probelauf sein.
Tony Judt wies in der New York Review of Books darauf hin, dass ähnliche Sprüche im Deutschland der 50er Jahre gang und gäbe waren. Aber eben nicht in den neunziger Jahren. Österreich lebe in einer Art Zeitverschiebung. Aber wie kam es bloß zu dieser Zeitverschiebung, zu diesem Nachtrotten Österreichs auf Geleisen, die anderswo gerade abgerissen wurden?
Als ich neulich in Mailand in einem Hotel abstieg, sagte der Portier zu mir, gestern sei ein anderer Österreicher abgereist, Jörg Haider. Da ich das für einen Scherz hielt, erklärte er mir, Jörg Haider habe von seiner Frau zum fünfzigsten Geburtstag einen Abend in der Scala geschenkt bekommen. Der Mann, der sich seit seiner ersten Rede als Parteiobmann, in der er gegen Thomas Bernhard zu Felde zog, immer wieder als Rabauke gegen Künstler hervorgetan hat, der Mann, der sich gerade bei einem Almfest mit versammeltem Kärntner Musikantenstadl beim Lied »In die Berg bin i gern« zur alpenländischen Dativschwäche bekannt hat, mimt hier den weltläufigen Bildungsbürger?
Als ich spät nachts zu Bett ging, konnte ich nicht einschlafen. Lag ich im Bett von Jörg Haider? Natürlich wäre ich mir blöd vorgekommen, das durch einen Anruf in der Rezeption zu klären, aber der Gedanke hatte etwas Beunruhigendes. Und ich erinnerte mich, dass ich schon einmal in einer ähnlichen Situation war. Damals, in Chicago, hatte mir der Gastgeber erklärt, der Letzte, der in meinem Bett geschlafen habe, sei Bruno Kreisky gewesen. Auch damals hatte ich nicht einschlafen können. Aber ich hatte dann im Bücherregal Kreiskys eben erschienene Autobiographie entdeckt und darin bis in die Morgenstunden gelesen.
Kreisky war nicht nur im Hohen Haus mit Nazis...
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