Schweitzer Fachinformationen
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Ich sitze mit Günther am Wurstbänkchen, einer bruchreifen Imbissbude am Flussufer, etwa anderthalb Kilometer außerhalb der Stadt. Wenn wir uns nicht direkt in meiner Wohnung treffen, ist das Wurstbänkchen in den Sommermonaten einer unserer beliebtesten Zufluchtsorte: wacklige Biertischgarnituren, deren Oberflächen noch nie in Kontakt mit einem Wischlappen gekommen sind, auf einer leicht abfallenden Wiese, die die Wurstbänkchen-Gäste im Lauf der Zeit zu einem braungrünen Bodenbelag zusammengetrampelt haben, aus dem noch einzelne, verzweifelte Grashalme ragen. Im Schatten von Trauerweiden und schiefen, mit Bierwerbung bedruckten Plastiksonnenschirmen können wir Händchen halten und so tun, als wären wir ein ganz normales Pärchen, das während eines romantischen Spaziergangs am Fluss zufällig in die groteske Kulisse des Wurstbänkchens gestolpert ist und sich nun aus Kuriositätsgründen - hach, wie authentisch! - hier bei Dosenbier und Currywurst auf den ranzigen Bänken zur Rast niederlässt.
Später, beim Spiele- und Tapas-Abend mit unseren Freunden, können wir dann erzählen, was wir heute Lustiges entdeckt haben, da müssten wir unbedingt mal zusammen hin, das sei irgendwie abgefahren, ein idealer Place auch, um ironisch-schrottige Fotos für Insta zu machen.
Aber wir haben keine gemeinsamen Freunde, denen wir vom Wurstbänkchen berichten könnten. Uns steht kein Pärchenabend und kein gemeinsamer Brunch oder Wochenendtrip bevor. Die Existenz des Wurstbänkchens ist für uns bittere Notwendigkeit, da wir uns sonst nirgends blicken lassen dürfen.
Das Wurstbänkchen ist ein kulturelles und soziales Vakuum. Keine Verbindung zu jener Welt, der wir angehören. Man läuft hier nicht Gefahr, entdeckt zu werden. Hier sitzen ausschließlich Senioren, aber nicht die fitten, agilen Senioren, die auf der Apotheken-Umschau oder auf Werbeanzeigen für Busrundreisen für Best Ager durch Patagonien oder Namibia abgedruckt sind, sondern das genaue Gegenteil: Worst Ager, die sich jeden Vormittag mit Mühe und Not gichtgeplagt bis zum Wurstbänkchen schleppen. Winzerprosecco, Kümmelschnaps und Weizenbier, bis die Sonne untergeht. Für weitere Reisen fehlt ihnen die Kraft und das Geld. Dass die hochstehenden Kulturfreunde von Günther und Sanna sich ans Wurstbänkchen verirren würden, ist komplett ausgeschlossen.
Günther erzählt mir gerade voller Begeisterung von einer Dokumentation, die er kürzlich gesehen hat. Brutpflege bei Pinguinen, unheimlich interessant sei das. »Der Mann brütet zwei Monate lang das Ei aus, bleibt da in der eisigen Kälte stehen. Die Frau geht weg, isst ganz viel Fisch und kommt dann wieder, um das Kleine und den entkräfteten Mann zu füttern. Erstaunlich, oder?«
Ich bin den Tränen nah. Nicht wegen der rührenden Aufopferungsbereitschaft der Pinguin-Eltern, sondern weil ich heute wirklich mit Günther Schluss machen muss.
»Apropos füttern.« Ich bemühe mich um ein Lächeln. »Soll ich uns was zu essen holen? Currywurst wie immer?«
»Ich mach das schon, Süße.« Günther beugt sich über den Tisch, gibt mir einen Kuss und steht dann auf, um sich an der Bude hinter zwei Senioren anzustellen, die schwarze Unterhemden, Jogginghosen und Filzpantoffeln tragen.
Es ist sowieso klar, dass es unser letztes Treffen vor der Kreuzfahrt ist und wir uns für zwei Wochen nicht sehen werden. Jetzt muss ich Günther nur noch erläutern, dass ich möchte, dass wir uns auch danach nicht mehr sehen, denke ich. Die Kreuzfahrt als Absprung in die Freiheit. Unsere Beziehung basiert auf einer unguten Mischung aus Besessenheit und Ratlosigkeit. Wir wissen nicht, was wir miteinander anfangen sollen, kommen aber auch nicht voneinander los. Das scheinbare Hauptproblem ist, dass Günther verheiratet ist. Dabei kommt mir die verhasste Widersacherin Sanna, deren Existenz uns in die Wurstbänkchen-Heimlichkeit zwingt, bisweilen gerade recht, denn so kann ich mich vor der Frage drücken, ob ich wirklich mit ihm zusammen sein wollte, wenn es denn möglich wäre.
Er ist zu alt und zu verheiratet, rede ich mir zu, wir essen jetzt unsere letzte Currywurst, und dann machst du Schluss, so einfach ist das.
Ein Flusskreuzfahrtschiff gleitet vorbei, an Deck stehen winkende und fotografierende Menschen. Die Wellen schleudern eine in Ufernähe schwimmende Entenfamilie unsanft hin und her, einige der Küken treiben ab. Die Familie geht jedoch routiniert mit der Störung um und sortiert sich rasch wieder zu einem braunfiedrigen Klumpen.
Günther gibt mir von der Bude her ein Zeichen, dass es irgendeine Verzögerung in der Essensausgabe gebe, ich nicke und zucke mit den Schultern. Je später wir unsere Henkersmahlzeit einnehmen, desto länger kann ich unser Ende hinauszögern, denke ich. Die Henkerswurst. Wäre ein schöner Name für eine Mittelalter-Band.
Vier schwergewichtige Senioren, drei Frauen und ein Mann, bringen die Bierbänke neben mir fast zum Durchbrechen, als sie sich schnaufend niederlassen. Mehrere kleine Hunde werden unter dem Tisch angebunden. Zu Prosecco und Underberg eröffnet sich ein deprimierendes Gespräch über Stützstrümpfe, wobei der Mann den Ton angibt, ist wohl so was wie der Hahn im Korb. Er zeigt den Frauen, bei denen nicht klar ist, in welchem Verhältnis sie zu ihm stehen, seine Stützstrümpfe unter der Stoffhose. Sie werden ausgiebig bewundert, weil sie so zart sind. »Trotzdem zerreißen sie nicht, wenn man sie mit den bloßen Händen hochzieht!«, behauptet der Gockel. Er benutze nie einen Handschuh beim Hochziehen der Stützstrümpfe. Die Frauen finden das toll, noch nie hätten sie es geschafft, ohne den Spezialhandschuh ihre Stützstrümpfe anzuziehen. Die Frauen zeigen sich nun auch gegenseitig ihre Strümpfe, die jedoch nicht so fein gearbeitet sind wie die des Mannes. In der Venenklinik hätte man ihr gesagt, sie solle abspecken, erzählt die eine. Große Entrüstung am Tisch. In der Venenklinik werde man nur gedemütigt, ruft der Mann, sie solle ins Strumpfstübchen in der Vita-Klinik gehen, da sei es besser und billiger.
»Abspecken!«, empört sich die Betroffene weiter, »so unverschämt, der soll mir die Strümpfe ausmessen und sich nicht einmischen, wieso soll ich abnehmen, wenn ich was an den Venen hab?«
Ja, wo sei da denn der Zusammenhang?, rufen ihre Freundinnen, unglaublich, man solle die Venenklinik in Zukunft meiden. Deswegen gehe er nur noch ins Strumpfstübchen in der Vita-Klinik, beschließt der Mann die Diskussion, »die messen dich aus und halten ihren Mund.«
Günther kommt mit zwei Dosen Cola Light zurück. Currywurst und Pommes können heute länger dauern, habe es geheißen, es gebe irgendein Problem mit der Fritteuse, die sei überhitzt und müsse erst abkühlen, oder sie sei noch nicht heiß genug, sowas in der Art.
»Naja, solang wir auf die Würste warten, kriegst du schon mal mein Geschenk.« Er wühlt in seinem schwarzen Rucksack.
»Ich hab doch gar nicht Geburtstag.«
»Für die Kreuzfahrt!«
Ich öffne vorsichtig das mit bunten Luftballons bedruckte Papier. Zu Hause habe ich eine ganze Schachtel, die nur mit Günther-Geschenkpapier gefüllt ist. Zugang zu hübschem, teilweise sogar exquisitem, mit Goldfäden durchzogenem oder mit echten Federn beklebtem Papier hat er reichlich, da er Inhaber eines Schreibwarengeschäfts in der Fußgängerzone ist. Mit dem zwischen Burger King und o2-Shop eingequetschten Laden kann er sich nur über Wasser halten, da er das Gebäude von seinem Vater geerbt hat und daher keine Miete zahlen muss. Dieses Geschenkpapier, denke ich, ist das letzte, was zu meiner geliebten Sammlung dazukommt. Oder soll ich es als Anti-Sentimentalitätstraining hier und jetzt entsorgen, im stinkenden blauen Müllsack, der mit Reißzwecken an unseren Nachbartisch getackert ist und den die Wespen umschwirren? Unter dem Papier kommt ein Buch zum Vorschein: Ozean-Tango - Leidenschaft auf hoher See. Das Cover ist in nostalgischen Sepiatönen gehalten und zeigt ein eng umschlungenes Tanzpaar auf dem Deck eines Hochseedampfers. Es muss sehr windig an Deck sein, denn die Frau trägt ein überdimensional langes Seidentuch, das luftig exakt parallel zur Reling flattert, sogar um den Buchrücken herum bis auf die Rückseite.
»Das Cover ist etwas kitschig«, entschuldigt sich Günther, »aber das Buch soll gut sein, der Autor ist Argentinier, kennst du ihn?«
Ich schüttele den Kopf.
»Hab mich extra beraten lassen in der Buchhandlung, was man jemandem schenken kann, der eine Kreuzfahrt macht. Kannst mir ja dann danach erzählen, wie es dir gefallen hat.«
»Danke.« Ich muss schlucken und vermeide es, ihn anzusehen.
Warum ich so traurig sei, will Günther wissen. »Es sind doch nur ein paar Tage. Du hast eine schöne Zeit mit deiner Mutter, lässt dich verwöhnen, kriegst tolles Essen, entdeckst spannende Länder, und dann sehen wir uns ja bald schon wieder und haben noch den ganzen Sommer vor uns.« Er habe neulich einen tollen See entdeckt, eine halbe Stunde von hier, da könne man Tretboote ausleihen und rund um eine kleine, nur von Graureihern bewohnte Insel fahren, das könnten wir dann zusammen machen, sobald ich zurück sei, das sei dann quasi unsere eigene Miniaturkreuzfahrt, und neben dem See gebe...
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