Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Kapitel 2
DAS NAVI BERECHNET meine Ankunftszeit im Libellenweg 14c auf exakt siebzehn Uhr. Ich fahre raus aus der Stadt ins Neubaugebiet, das sich entlang eines weiten, sanft abfallenden Hangs erstreckt und im unteren Bereich an der Autobahn, im oberen am Waldrand endet. Um eine Bebauung des »Tals der glücklichen Familien« zu ermöglichen, wurde die A3 zuvor in diesem Bereich mit hohen Schallschutzwänden versehen.
Ich fahre den Rotkehlchenweg entlang, von dem der Marienkäferweg, der Schmetterlingsweg, der Eichhörnchenweg und der Blaumeisenweg abzweigen. Anscheinend hat man hier alle Straßen nach putzigen Wald- und Gartentieren benannt.
Eine Nacktschneckenstraße, Rattengasse oder einen Wespenweg gibt es nicht. An der Kreuzung Rotkehlchenweg/Libellenweg ragt hinter einer Hecke ein hoher Mast in die Höhe, an dem eine riesige schwarze Piratenflagge hängt. Es ist aber keine Wagenburg, sondern der Kindergarten Klabauterschiff, wie ein buntes Schild am Eingang verkündet.
Keine zwanzig Meter vom Klabauterschiff entfernt habe ich mein Ziel erreicht. Im Radio verebben gerade die letzten Klänge eines Whitney-Houston-Songs, in dessen Fade Out der Moderator platzt: »Hunderte Tonnen Müll liegen am Rand von Hessens Autobahnen! Wer soll das alles entfernen? Wir sprechen jetzt mit .«
Ich stelle den Motor ab. Jonas ist schon da, er steht an der Waschbetonbegrenzung einer Vorgartenrabatte und winkt mir zu. Ich steige aus, er kommt mir entgegen und gibt mir einen Kuss. »Na, hast du's gut gefunden? Ist ganz schön hier, oder? Als ich unter der Autobahn durchgefahren bin, dachte ich: Oje, das liegt ja direkt an der A3, aber hier sind wir fast ganz oben am Waldrand, und ich steh ja schon fünf Minuten, und man hört fast gar nichts, krass, hätte ich nicht gedacht, dass die das so gut abschirmen, die Lärmschutzwände, echt klasse.«
»Welches Haus ist es denn?«, frage ich, denn wir stehen jetzt vor drei wuchtigen, leicht versetzt aneinandergeklebten Hausklötzen mit identischen Vorgärten.
»Hier, das rechte. Reihenendhaus, das ist gut, besser als das in der Mitte, da hat man eine Seite frei und ist nicht so eingequetscht. Nach hinten raus ist ein Garten, den siehst du von hier nicht. Die Maklerin hat mich übrigens grad angerufen, die steht im Stau, wir müssen noch kurz warten.«
Wir stehen also da und warten. Die Autobahn hört man tatsächlich kaum, was aber auch daran liegt, dass im Klabauterschiff noch mächtig Betrieb herrscht. Hinter der Hecke hervor dringen anhaltende, schrille Schreie, durchsetzt mit dumpfen Schlägen. Wie kann man nur so laut und abscheulich spielen? War ich auch so? Es klingt nicht nach fröhlichem Reigentanz oder Turmbau mit Holzklötzchen, eher so, als würde jemand mit einer Machete durch den Garten laufen und die Kinder niedermetzeln.
Da Jonas die akustische Höllenkulisse nicht kommentiert, halte ich auch meinen Mund, anscheinend sind in Todesangst schreiende Kinder ein hinzunehmender Störfaktor in einem derart gebärfreudigen Neubaugebiet. Während wir vor dem Haus stehen, sind schon sechs Frauen mit Kinderwägen, jeweils paarweise und ins Gespräch vertieft, aber dennoch freundlich grüßend, an uns vorbeigegangen.
»Der Gehsteig ist so breit, dass zwei Kinderwägen nebeneinander draufpassen, das haben die Planer bestimmt extra so gemacht«, sagt Jonas völlig wertfrei.
Jonas hat ein schlimmes Oberteil an. Da er schon um sechs Uhr aufsteht und zur Arbeit fährt, wenn ich noch schlafe, kann ich seine Kleiderwahl an Werktagen nicht beeinflussen. Als er seine erste Stelle als IT-Berater in einer großen Werbeagentur antrat, kaufte seine Mutter ihm knallbunte T-Shirts mit blöden Witz-Aufdrucken. Wahrscheinlich dachte sie, in der Kreativbranche sei es üblich, mit platzenden Melonen, Sprechblasen-Pokémons oder einem säbelschwingenden Zeichentrick-Fakir auf der Brust im Meeting zu sitzen. Als er nach Frankfurt in seinen Bankenturm wechselte, wo er heute noch arbeitet, schaffte er es zumindest, ihr zu sagen, sie brauche ihm jetzt keine T-Shirts mehr zu kaufen, denn in seinem neuen Job als Computerfachmann im Bankensektor müsse er seriös aussehen. Stattdessen bekommt er seitdem bügelfreie kurzärmlige Karohemden geschenkt sowie andere Textilien, die seine Mutter als seriös empfindet.
Das Oberteil, das er heute anhat, ist ein besonders schillerndes Exemplar: Ein Marken-Polohemd mit langen Ärmeln, gefertigt aus schwerem, segeltuchartigem Stoff, mit extrem breiten schwarzen und dunkelgelben Querstreifen. Er sieht darin aus wie eine Hornisse. Oder wie ein Geisteskranker, der sich einbildet, eine Hornisse zu sein und der sich im Klinik-Kreativworkshop selbst ein schönes Hornissenkostüm geschneidert hat, das ihm die Psychiater zu tragen erlauben, da ein Verbot eine Trotzreaktion und eine noch intensivere Hornissenidentifikation des Patienten nach sich ziehen könnte.
»Wie war's auf der Arbeit«, frage ich, »heute war doch die Präsentation, oder?«
»Ja, war ganz gut. Die Ungarn wollen das Access-Office-Tool übernehmen, aber erst mal nur die Version 3.8, als Testballon quasi, aber immerhin. Die Kollegen sind mit denen noch nach Sachsenhausen in irgendeine Äppelwoi-Kneipe. Ich war ganz froh, dass wir jetzt die Besichtigung haben, da hatte ich ne gute Ausrede, ich hab keinen Bock auf das Gelaber. Die Ungarn saufen immer, bis sie unterm Tisch liegen, und dann muss man die zum Hotel bringen. Und wie war's in der Redaktion?«
»Och, ganz okay, alles ruhig.«
»Freitag, wart ihr beim Fettgriechen?«
»Nee, beim Altöl-Italiener. Dem Böhmann war noch schlecht von letztem Freitag. Er meint, die Dionysos-Platte steckt ihm immer noch im Dickdarm.«
»Ist ja ekelhaft.«
»Bist du auch am Blaumeisenweg vorbeigefahren?«, frage ich. »Fällt mir grad ein, vorhin in der Redaktion kam ne Polizeimeldung rein, dass Anfang der Woche jemand ein volles Aquarium an den Altglascontainern im Blaumeisenweg abgestellt hat. Und in dem Aquarium war ein Antennenwels.«
»Ein Antennenwels? Hab ich ja noch nie gehört.«
»Der ist jetzt im Tierheim.«
»Aha. Und solche Lappalien stehen dann in der Zeitung. Na ja, wenn sonst nix passiert, ist es ja gut.«
»Mir tut der Fisch leid«, sage ich.
»Du bist ja süß.« Jonas streichelt mir über die Haare.
»Überleg dir doch mal, du bist ein Antennenwels, schwimmst so in deinem Aquarium, und auf einmal hat der Besitzer keinen Bock mehr auf dich, packt das Aquarium in den Kofferraum und fährt zum Glascontainer. Und da stellt er dann fest, dass es nicht ins Loch passt, oder keine Ahnung, was er sich gedacht hat, und stellt das Aquarium samt Fisch einfach da ab. Und der schwimmt dann da die ganze Nacht einsam und allein vor sich hin. Na ja, besser als tot und vertrocknet im Altglascontainer.«
»Oh Mann, auf der A3 ist irgendein Unfall, die steckt immer noch im Stau«, sagt Jonas mit Blick auf sein Handy. Das Schicksal des Antennenwelses scheint ihn nicht zu interessieren.
Mir fällt ein ovales, hellblau schimmerndes Schild neben der Eingangstür des Reihenendhauses auf, das wir besichtigen wollen. »Casa Steigerwald« steht darauf. Auch neben der Tür des mittleren Reihenhauses hängt ein Schild, und ich gehe rüber, um zu lesen, wer neben der Casa Steigerwald wohnt.
»Wo willst du denn hin?«
»Gucken, wer unsere potenziellen Nachbarn sind.«
Das Schild der Nachbarn ist sehr farbenfroh und geschwätziger als das nüchtern-elitäre Casa-Steigerwald-Emblem: »Hier leben, lieben, lachen, weinen, streiten und versöhnen sich Tizian, Tabea, Timothy, Dorothee und Markus Rögel.«
Die Tür geht auf, und aus dem Reihenmittelhaus tritt eine Frau in meinem Alter, rote Backen, rosa Kopftuch über kurzen braunen Löckchen, eine Schüssel mit Bio-Abfällen in der Hand, auf der Hüfte ein haarloses Kleinkind.
»Hallo, nicht erschrecken«, ruft sie, »ich hab euch vom Küchenfenster aus gesehen, ihr seid bestimmt wegen der Casa Steigerwald hier?«
»Ja, wir hatten einen Termin um fünf, die Maklerin steht aber im Stau«, sage ich.
»Ich bin die Dorothee, ich stell mich einfach schon mal vor, vielleicht sind wir ja bald Nachbarn. Guck mal, Timothy, das sind vielleicht unsere neuen Nachbarn. Ich muss grad mal kurz den Biomüll auskippen.«
Während wir auch unsere Namen sagen, erscheint im Türrahmen ein zerzaustes Mädchen. Es ruckelt autistisch auf einem hölzernen Lauflernrad vor und zurück und sieht uns durchdringend und böse an, ganz im Kontrast zur Herzlichkeit seiner Mutter.
»Das ist ja doof, dass die euch so lang warten lässt. Wisst ihr was? Wenn ihr Lust habt, könnt ihr euch so lange unser Haus anschauen, innen ist es ja im Prinzip völlig identisch mit eurem, die sind alle baugleich!«
Während ich im Vorgarten der Familie Rögel einen unsicheren Blick mit Jonas austausche, hat Dorothee eine Bekannte erblickt, die gerade mit einem gelben Plastiktablett auf den Unterarmen den Gehsteig entlanggeht. Beim Näherkommen sehe ich, dass es sich bei der halben Kugel, die auf dem Tablett ruht, um einen Käse-Igel handelt. Mit straffer Wickelung befestigt, transportiert die Käse-Igel-Frau ein schlafendes Kleinkind auf dem Rücken, zudem führt sie noch einen hellblonden Labrador an einer Leine mit sich. Multitasking im Tal der glücklichen Familien.
»Huhu«, ruft Dorothee, »schau mal, Carmen, ich hab zwei Interessenten für die Casa Steigerwald kennengelernt, das sind Jonas und Katrin, die sehen nett aus, oder?«
Sie rafft Timothy etwas nach oben und lacht uns entschuldigend an: »Wir haben hier nen sehr offenen Umgang, sorry, aber ihr seht echt beide so...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.