Schweitzer Fachinformationen
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Durch die Fensterritzen meiner Unterkunft dringen schwüle Luft und ein schwerer süßlicher Geruch: eine Mischung aus Abgasen, Müll und exotischen Gewürzen. Ich kauere auf meinem schmalen Bett und starre in den kleinen Fernseher auf der abgenutzten Holzkommode an der Wand gegenüber. Sein durchdringendes Pfeifen konkurriert mit dem Straßenlärm draußen; das krisselige, tanzende Bild zeigt Herzogin Kate und Prinz William, wie sie sich in der Westminster Abbey das Ja-Wort geben. Ich bin nun wirklich kein Fan der Royals, ganz im Gegenteil, und habe mir bis dato keines ihrer Hochzeitsspektakel angesehen. Aber an diesem 29. April 2011 ist alles anders, hier in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch.
Ich wollte unbedingt hierherkommen, um die verheerenden Folgen des Mikrokreditsystems zu recherchieren. Ich habe nie daran geglaubt, dass sich ausgerechnet die Ärmsten aus ihrer Armut befreien könnten, indem sie sich verschulden. Aber die reichen Länder des Nordens waren von dieser Idee damals so begeistert, dass sie einem Banker den Friedensnobelpreis verliehen: Muhammad Yunus und seiner Grameen Bank. Dann folgte eine Suizidwelle in Indien, mindestens 100 Frauen nahmen sich auf grausame Weise das Leben, manche von ihnen tranken Pestizide. Für einen winzigen Moment gerieten Mikrokredite in die Kritik, doch die Aufregung legte sich erstaunlich schnell. Weil ich unabhängig von Banken und großen internationalen Hilfsorganisationen recherchieren wollte, nahm ich vor meiner Reise Kontakt zu einigen Graswurzelbewegungen und kritischen Wissenschaftlern in Bangladesch auf. Alle versprachen, mir bei meinen Recherchen zu helfen. »Komm einfach her«, sagten sie, »wenn du erst einmal da bist, sehen wir weiter.« Also hatte ich all meinen Mut zusammengenommen - und nun war ich also hier: mittendrin in Dhaka.
Nie zuvor war ich im Globalen Süden gewesen, geschweige denn in einem sogenannten Entwicklungsland. Nun saß ich in diesem kleinen Zimmer mit einfach verputzten Wänden, über 7000 Kilometer weit weg von zuhause, mitten in der Fremde. Vor mir: vier Wochen allein in einem der ärmsten Länder der Welt. Draußen wurde es dunkel. Der Mut verließ mich und meine Angst wurde immer größer. Was hatte ich mir denn da bloß in den Kopf gesetzt? So suchte ich also Trost im einzigen englischsprachigen Programm, das der uralte Fernseher hergab, und das war nun, the irony, ausgerechnet die Hochzeit im Vereinigten Königreich, das mit seiner fast 100-jährigen Kolonialherrschaft in Britisch-Indien erst die Strukturen für die manifeste Armut hier geschaffen hat. Währenddessen kreisten meine Gedanken: Was, wenn nichts von dem hinhaut, was ich mir vorgenommen habe? Wenn ich hier krank werde oder mitten in eine Naturkatastrophe gerate? Schließlich war das kleine Land am Flussdelta aus Brahmaputra, Ganges und Meghna damals schon eines der am meisten von der Klimakrise betroffenen, inklusive unvorhersagbarer Sturmfluten, Überschwemmungen und Unwetter. Welche schrecklichen Dinge würde ich sehen, welche furchtbaren Schicksale kennenlernen? Würde ich all das überhaupt verkraften können? Wäre ich nach diesen vier Wochen vielleicht nicht mehr dieselbe wie vorher?
Natürlich war ich danach nicht mehr dieselbe. Aber eine Hoffnungsvollere.
Denn am nächsten Abend traf ich Badrul Alam, der die Kleinbauern-Bewegung Krishok Federation leitet. Er und Shipra Rani von Kishani Soba, dem weiblichen Pendant, einer Bewegung von Kleinbäuerinnen, führten mich auf meinen Recherchen in zwei der ärmsten Regionen des Landes im Norden und im Süden. Ich sprach dort mit Frauen, die seit mehr als einem Vierteljahrhundert verschuldet und mittellos sind, besuchte ganze Schuldendörfer, deren Bewohnerinnen von den hiesigen Geldeintreibern und Banken erbarmungslos unter Druck gesetzt werden. Ich lernte Menschen kennen, denen nach einer jähen Sturmflut buchstäblich das Wasser bis zum Hals stand und die später ihre toten Freunde und Familien aus Bäumen bergen mussten. Ich besuchte Slums, in die viele Menschen aus den Küstengebieten des Südens geflohen waren, weil ihnen die Klimakrise dort Land und Lebensgrundlagen geraubt hatte. Seither sind sie gezwungen, zu Hungerlöhnen in einsturzgefährdeten Fabriken der Hauptstadt zu schuften. Ich sah in die angsterfüllten Augen arbeitender Kinder. Ich habe in Bangladesch das ganze Grauen der Klimakrise begriffen und verstanden, was existenzielle Armut und Hunger bedeuten - und was Ausbeutung und Unterdrückung mit Menschen machen. Als Journalistin aus dem reichen Norden habe ich mich oft schuldig und hilflos gefühlt, und manchmal verzweifelte ich fast ob des schieren Elends. All das werde ich nie vergessen.
Auf der anderen Seite habe ich in Bangladesch viele Menschen kennengelernt, die mich bis heute beeindrucken, die mich inspirieren und mir Mut machen. Die organisierten Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, die verlassenes Land besetzen, um sich dort selbst zu versorgen, die der Macht der Agrarkonzerne trotzen. Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, die gegen die ausbeuterischen Verhältnisse in Landwirtschaft und Industrie kämpfen, aktivistische Wissenschaftler und Studierende, die ihre Arbeit und ihren Intellekt in den Dienst einer besseren, gerechten Zukunft stellen. Allen Widrigkeiten zum Trotz. Als ich auf der Rückreise am Flughafen Dubai auf meinen Anschlussflug nach München wartete, sah ich noch einmal auf mein Handy. Viele meiner neuen Freundinnen und Freunde aus Bangladesch hatten mir Nachrichten geschickt, mir eine gute Reise gewünscht und geschrieben, ich möge doch bald wiederkommen. Ein Teil von mir wollte das, am liebsten sofort, denn tatsächlich hat diese Reise mein Leben verändert. Es mag absurd klingen, aber sie hat mich zuversichtlich gemacht. Denn sie hat mir eine gerechte Welt real und greifbar vor Augen geführt: Ich weiß seither, wie wunderschön sie aussieht.
Viele Menschen in den reichen Ländern des Nordens haben vermutlich sehr abstrakte Vorstellungen vom Globalen Süden. Wir hören von beunruhigenden Armutsquoten und lesen von in Zahlen gefasstem Hunger. Aus Spendenkampagnen sind uns grässliche Bilder von ausgemergelten, in Lumpen gekleideten Körpern vertraut, kennen wir von Dürre gezeichnete Landschaften und Fotos von Kindern mit aufgeblähten Hungerbäuchen. Wir wissen um die miserablen Arbeitsbedingungen in den Rohstoffminen, Textilfabriken und auf den Kakaoplantagen, und auch, dass für Soja- und Palmölmonokulturen Urwald vernichtet und Indigenen ihr Land gestohlen wird. Nach Überschwemmungen und Wirbelstürmen sehen wir erschreckende Bilder der Zerstörung in den Nachrichten. Auch nach Katastrophen wie dem Einsturz des maroden Gebäudes Rana Plaza in Bangladesch, bei dem mehr als 1100 Menschen ihr Leben verloren haben. Die meisten von ihnen Näherinnen, die unter ohnehin schon ausbeuterischen Bedingungen Kleider für Markenkonzerne fertigten. Wir fühlen uns dann macht- und mutlos und haben ein latent schlechtes Gewissen, weil wir ahnen, dass all das irgendwie auch etwas mit uns zu tun hat, weil unser Konsum, der Überfluss, in dem wir leben, und unsere Industrie, die auf maximalen Profit ausgerichtet ist, auf Kosten von Bevölkerung und Natur im Globalen Süden gehen. In den Nachrichten erscheinen uns die Menschen dort oft als anonyme und handlungsunfähige Opfer, die dringend Unterstützung aus dem reichen Norden brauchen - in Form von ökonomischer Entwicklungshilfe, Förderprogrammen von Milliardärsstiftungen, Nachhaltigkeitssiegeln, die Umweltverträglichkeit versprechen, sogenanntem ethischem Konsum, technologischen Scheinlösungen und Geschäftsmodellen, die zusichern, auf profitable Weise existenzielle Probleme zu lösen. Aber diese Vorstellung ist falsch. Denn sie tut so, als ob in einem per se ungerechten System einzelne Missstände einfach abgestellt werden könnten. Dann wäre - win-win! - die Weltrettung für die Profiteure der Ungerechtigkeit sogar noch ein zusätzliches lukratives Business.
Ich bezeichne solche Ideen als das »falsche Gute«. Es ignoriert die strukturellen Ursachen von Armut, Ungleichheit und Naturzerstörung nicht nur, es legitimiert und erhält sie. Es will beruhigen, indem es suggeriert, es gebe keine Schuldigen und alles könne so bleiben, wie es ist. Das falsche Gute ist deshalb der größte Bremsklotz für echte Veränderung. Denn in Wahrheit lässt es die Welt, so wie sie ist, als alternativlos erscheinen. Und nimmt uns damit die Zuversicht und den Glauben daran, dass wir wirklich etwas um- und neu gestalten und eine gerechte Welt schaffen können - und damit ein gutes Leben für alle.
Die allzu laute Erzählung des falschen Guten übertönt außerdem die Menschen vor Ort und wertet so ihren Mut, ihre Stärke und ihre Vorstellung von diesem anderen besseren Leben ab. Graswurzelbewegungen, die ökologische und soziale Fragen mit einer globalen Perspektive zusammenbringen, kommen in diesem Geschrei ebenso wenig vor wie die großen und kleinen Siege, für die sie gemeinsam gekämpft und damit das Leben so vieler Menschen verbessert haben. Die vielfältigen Formen solidarischer Alltagspraxis, die diese Bewegungen entwickeln und leben, mit denen sie zeigen, dass alles auch ganz anders sein kann - schöner, friedlicher, gerechter -, treten damit in den Hintergrund, werden unsichtbar.
Mit diesem Buch will ich genau diesen Menschen eine Stimme geben, eine Stimme, die klar, stark und selbstbewusst neben dem Lärm des falschen Guten steht und ihn zum Schweigen bringt.
Nach meiner ersten Bangladesch-Reise vor nun fast 15 Jahren hat es mich immer wieder zu Recherchen in Länder des Südens und an die Peripherie des europäischen...
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