Schweitzer Fachinformationen
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Ich glaube, es war 1927, als ich das erste Mal zu ihm nach Ballaigues fuhr, zu meinem Cousin Louis Soutter. Er war in Morges am Genfer See aufgewachsen, der Sohn der Schwester meines Vaters, die einen Apotheker geheiratet hatte. Unsere beiden Familien hatten kaum Kontakt. Nur selten vernahm ich etwas über ihn. Ich wusste lediglich, dass ihm die Karriere als Violinist nicht geglückt war und er nun mit kleinen Unterhaltungsorchestern in Schweizer Kurorten spielte. Als ich wieder einmal zu Besuch bei den Eltern in La Chaux-de-Fonds war, sagte mir die Mutter, Louis schlage nun endgültig aus der Art, er habe sich verschuldet, sei, obwohl erst fünfzig, zwangsweise in einem abgelegenen Altersheim im Jura untergebracht, dort zeichne er fremdartige und erschreckende Figuren. Er sei förmlich besessen davon, das habe sie über Bekannte erfahren, er sei Dorfgespräch wegen seiner Kleidung, die man für extravagant halte, und auch wegen der Nackten, die er zeichne. Louis hatte ich vor Jahren, da war ich noch ein Kind, bei einem unserer seltenen Familienfeste getroffen. Ich erinnerte mich schwach an ihn, nein, eigentlich überhaupt nicht, ich bin ja sechzehn Jahre jünger als er. Vermutlich hielt er sich abseits von der Jeanneret-Sippe, die da zusammenkam, und so nahm ich ihn kaum wahr, es gab auch andere extravagante Figuren, die meine Aufmerksamkeit fesselten. Was mir die Mutter über Louis erzählte, machte mich nun aber doch so neugierig, dass ich beschloss, bei meinem nächsten Aufenthalt in La Chaux-de-Fonds in den Weiler Ballaigues zu fahren und den verlorenen Cousin aufzusuchen.
Ich erinnere mich genau an diese erste Begegnung. Es war im März, ich fror, als ich das Auto verließ. Offenbar galt ich als wichtiger Besuch. Man holte die Leiterin herbei, eine unangenehme, vierschrötige Person, sie führte mich persönlich in den ersten Stock, wo Louis sein Zimmer hatte. Die Leiterin klopf?te kurz an, trat dann gleich ein. Der Geruch, der mir entgegenschlug, war abschreckend, aber immerhin vermischt mit dem von Farben und Tusche. Und man gewöhnte sich schnell daran. Der Mann, der in höf?licher Verwirrung von seinem mit Papier übersäten Arbeitstisch aufstand, war groß und hager, schlottrig gekleidet, er hatte reflexartig das Blatt, an dem er arbeitete, umgedreht. Er wirkte auf mich mit dem knochigen Gesicht irgendwie alterslos, seine auf?fallend großen und dunklen Augen musterten mich fragend, in ihnen lag ein Schrecken, den ich zu vertreiben versuchte, indem ich mich als sein Cousin Charles-Edouard Jeanneret zu erkennen gab. Da hellte sein Gesicht sich auf. Er stelzte auf seinen langen Beinen um den Tisch herum und reichte mir beide Hände, ließ sie gar nicht mehr los. »Ein Jeanneret? Du bist doch Architekt, oder?« Er lachte sogar kurz auf, während die Leiterin sich zurückzog und die Tür hinter sich schloss. Ich sah auf dem Tisch, neben den Blättern, Tintenfässer, Federhalter.
»Ich habe von dir gehört«, sagte ich und erwiderte sein Lachen, das ihn völlig verwandelte. »Ich wollte mir ansehen, was du zeichnest. Wenn du es erlaubst.« Ich deutete auf die Papierstapel, die blauen Schulhefte, die am Boden lagen.
Als er meine forschenden Blicke sah, wurde er verlegen. »Ach, das ist nicht viel wert.« Seine Stimme klang wieder unsicher, verlor sich beinahe in einem Flüstern. »Es ist so lange her, dass ich Kunst studierte, ich habe fast alles vergessen.«
»Manchmal tut es gut, von vorne anzufangen«, entgegnete ich (oder etwas in dieser Art).
Da nickte er mehrmals, mit großer Überzeugung. »Ja, ja, so ist es. Das Neue muss von innen kommen.«
Ich bemühte mich um ein ermunterndes Lächeln. »Zeigst du mir etwas von dem, was du geschaffen hast?«
Er zuckte zusammen und zog sich hinter seinen Maltisch zurück, setzte sich umständlich, in zunehmender Scheu, wie mir schien. Ich hatte einen Moment Zeit, das Zimmer zu mustern: Neben dem Bett stand ein Schemel, darauf ein Waschkrug, darunter ein Nachttopf mit Deckel, in der Ecke ein kleiner Ofen mit schiefem Rohr, spürbar erkaltet. Die Einrichtung war spartanisch; Louis schien die Einfachheit nicht zu stören, ebenso wenig die beinahe blinden Fensterscheiben, die die Außenwelt vernebelten.
Ich setzte mich fröstelnd auf den zweiten Stuhl, den ich zum Tisch hinschob. »Fang doch einfach mit irgendeinem Blatt an.«
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte er verlegen. »Es sind Hunderte. Und manchmal entwendet jemand vom Personal das eine oder andere zum Anfeuern.« Er machte eine resignierte Gebärde. »Ich darf nicht erwarten, dass sie in dem, was ich tue, einen Sinn sehen.«
Mir fiel auf, wie gewählt er redete, fast altväterisch, ohne Dialektfärbung; das kam bei den übrigen Insassen bestimmt nicht gut an. Ich rückte den Stuhl auf seine Seite, und er fing an, mir die Blätter vom ersten Stapel, der hinten auf dem Tisch lag, zu zeigen, es mochten fünfzig oder sechzig sein. Er hob beinahe mit Zärtlichkeit jedes Blatt mit zwei Fingern hoch und legte es direkt vor mich hin. Dann schob er es weg und schuf am Tischrand einen neuen Stapel.
Mir diese Werke so unvermittelt anzuschauen, war eine schockierende, eine völlig unerwartete Erfahrung. Man wird in diesen Liniengeflechten konfrontiert mit eigenen Phantasien, die, nie voraussehbar, Alpträumen gleichen oder paradiesischen Vorstellungen vom Nebeneinander nackter oder halbnackter Körper, man sieht das leere Kreuz und weiß nicht, vollführen die Gestalten ringsum einen Freudentanz oder trauern sie in allen Posen, mit flehend ausgestreckten, übergroßen Händen. Mit jedem Blatt, das er vor mich hinschob, wurde mir klarer, dass dieser Mann, mein Cousin, ein bedeutender Künstler war. Wenn auch ein völlig unbekannter. Mir verschlug es die Sprache. Ich nickte bloß, bedeutete ihm ab und zu mit einer Gebärde, das Blatt noch nicht gleich zu wenden, damit ich mich länger in den Anblick vertiefen konnte. Plötzlich fuhr er mit der freien Hand über den Ärmel meines Vestons. »Das ist ein feiner Stoff«, sagte er, der eine abgetragene Weste trug, darunter ein mehrfach geflicktes Hemd, dem man den guten Schnitt immer noch ansah. »Schurwolle, nicht wahr?«
Ich stimmte mit einem unbestimmten Laut zu.
Er stutzte, schwieg, fragte dann unsicher: »Was hältst du von meinem Gekritzel? Du bist doch ein Kunstverständiger. Wie nennst du dich, Le Corbusier, nicht wahr? Du malst selber, hat man mir gesagt.«
Auch später stellte sich immer wieder heraus, dass er über weit mehr Kenntnisse verfügte, als man ihm zutraute; er las Zeitungen, die ins Heim kamen, er war informiert über aktuelle politische Ereignisse, hatte seine eigene Meinung dazu, die ich oft nicht teilte. Aber diese Bilder, dieser Reichtum an Details und Sujets, diese kompositorische Sicherheit!
Eine Antwort fiel mir schwer: »Darauf war ich nicht gefasst, Louis . Das ist bemerkenswert. Man muss dich dringend bekannt machen, du verdienst größte Beachtung .« Ja, etwa so redete ich, ein wenig schwülstig, aber da war etwas in dieser Kunst, das mich tief berührte, ja erschütterte, dabei bin ich der Mann der reinen Linie, der klaren Proportionen. Heute glaube ich zu verstehen, dass es das Gegensätzliche war, was mich so unmittelbar traf, der Gegensatz zu dem, was ich zu leisten imstande war, genau das, wovon ich wusste, dass es mir fehlte, die Kraft des ganz und gar Intuitiven, denn aus diesen Bildern las ich, dass sie ohne Plan gewachsen waren, aus der Bewegung des Stifts heraus, dem die Finger folgten, denen der Verstand hinterherhinkte, der dann für das, was entstanden war, geheimnisvolle Titel fand, die Louis in steiler Schulschrift irgendwohin setzte, wo noch Platz war: Tanagra, Jungfrauen von Gruyère, Unter Nackten, Wir leiden unter der Liebe. Dieses letzte Bild - er habe es in der Vorwoche gezeichnet, erzählte Louis - zeigt Akte, Männer und Frauen, mit übergroßen Händen, voneinander abgewandt, sie möchten sich berühren, tun es aber nicht.
Er sagte, wieder fast unhörbar: »Wir haben Angst vor dem Begehren. Man verliert sich darin, nicht wahr?«
Die Nackte in der Bildmitte, verlockend üppig in ihren Formen, erinnerte mich an Yvonne mit ihrem mediterranen Charme und dem braunen Teint, aber Louis kannte meine Verlobte ja gar nicht. Ich deutete auf sie. »Eine, die ihr gleicht, wird schon bald meine Frau.«
Er musterte mich aus seinen viel zu großen Augen, sie wirkten so, als zwinge er sich, sie immer noch weiter zu öffnen und alles, was sie sahen, in sich hineinzutrinken. Aber was ist, dachte ich schon damals, wenn man den Andrang der Eindrücke nicht mehr aushält?
Vielleicht hatte ich laut gesprochen, denn er sagte: »Dann wendet man sich ab und ist allein wie stets.« Er überlegte eine Weile, wir schauten einander an.
»Ich war sieben Jahre mit Madge verheiratet«, fuhr er fort. »Es ist lange her. Wir haben uns geschlagen und zerkratzt, ich habe geschwiegen, sie hat mich angeschrien. So war das.«
»Warum denn?«, fragte ich, erneut aus der Fassung gebracht.
»Sie war zu schön für mich, zu begabt, zu reich. Das hat alles nicht zusammengepasst. Ich musste mich wehren, sie hat mich vertrieben. Verstehst du? Ein Kind hätte uns für eine Weile gerettet, ich wollte keines.«
Auch in den Jahren, die folgten, entdeckte ich auf Hunderten seiner Blätter keine Kinder. Es schien sie nicht zu geben in seiner Welt oder höchstens auf seinen eigenwilligen Kopien der italienischen Renaissance-Meister. Es gab ja keine Kinder im Heim von Ballaigues, ich hatte selbst auch keine. Und Yvonne auch nicht. Sie hatte eine Vergangenheit mit...
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