Schweitzer Fachinformationen
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Manche Geheimnisse überdauern Generationen, manche Liebe hält für immer
Die neunzigjährige Charlotte erfüllt sich einen großen Wunsch: Gemeinsam mit ihrer Enkelin Hannah reist sie noch einmal von London in die Heimat ihrer Kindheit, ein Dorf im Sauerland, das einst in den Fluten eines Stausees versunken und nun wieder aufgetaucht ist. Hier lernte sie Paul kennen, ihre große Liebe, die jäh vor fünfundsiebzig Jahren endete. Während für Charlotte im Schatten der alten Kirche Erinnerungen greifbar werden, macht Hannah Fotos vom Dorf. Dabei spricht sie ein junger Mann an und bittet sie, ihm einige der Bilder zuzusenden. Er möchte sie seinem Großvater zeigen. Als Hannah seinem Wunsch nachkommt, ahnt sie nicht, dass sie damit eine Tür in die Vergangenheit öffnet - und zu einem dunklen Geheimnis, dessen Auswirkungen bis in die Gegenwart reichen ...
Mit einem Seufzer der Erleichterung blickte Charlotte dem Omnibus nach. »Manchmal wünsche ich mich in unsere alte Dorfschule zurück«, sagte sie zu Ilse. »Rosi und Michael haben nur ein paar Minuten zu Fuß zu laufen, während wir uns jeden Tag in das stickige Gefährt setzen müssen.«
Zusammen mit ihrer Freundin schlenderte sie auf Hangeck zu. Das Beste an ihrem Heimweg war das Stück von der Bushaltestelle zu ihrem Haus. Ein sanfter Wind brachte den Geruch des nahen Waldes mit sich. Nach einigen kühleren Tagen verkündeten die Vögel in den Wipfeln zwitschernd ihre Freude über den Sonnenschein. Charlotte atmete tief durch. Ob sie sich jemals in einer Großstadt wohlfühlen könnte?
»Dafür haben wir in der Stadt nach Schulschluss etwas Interessanteres zu sehen als die immer gleichen Hangecker Gesichter.«
Charlotte musste lachen. Ilse spielte auf das Gymnasium für die Knaben an, das ihrem Lyzeum gegenüberlag. Ihre Freundin löste ihren Zopf meist, sobald sie das Schulgelände verließen. Sie hatte früh bemerkt, welche Wirkung ihre langen blonden Haare auf die jungen Männer hatten. Selbst diejenigen, die bereits kurz vor der Reifeprüfung standen, warfen ihr plötzlich interessierte Blicke zu. Zugegebenermaßen besaß Ilse schon weibliche Attribute, wo Charlotte noch flach wie die Soester Börde war.
»Dennoch wäre ich an Tagen wie heute lieber zeitiger zu Hause.« Charlotte reckte ihr Gesicht der Sonne entgegen. »Schau nur, welch herrliches Wetter uns entgeht.«
»Dann komm doch nachher mit. Paul und ich wollen an den See.«
Diesen Vorschlag hatte Charlotte gefürchtet. Seit über drei Wochen, seit sich Leopold bei ihnen versteckte, ging sie ihren Freunden nun schon aus dem Weg. Aus Angst, sich irgendwie zu verraten. Inzwischen fielen ihr kaum noch glaubhafte Ausreden ein, warum sie Paul und Ilse nicht mehr treffen konnte.
Beinahe einen Monat lang hatten ihre Eltern und sie es bereits geschafft, Leos Verbleib geheim zu halten - selbst vor Rosi. Der Preis dafür war, dass Charlotte ihre kleine Schwester ständig im Auge behalten musste. Sie hatte Rosi sogar bei ihrem Stelldichein mit Paul im Schlepptau gehabt, das unter diesen Umständen natürlich keines mehr gewesen war. Paul hatte seine Überraschung überspielt, war freundlich wie immer gewesen, hatte mit Rosi herumgealbert - und doch waren Charlotte seine enttäuschten Blicke nicht entgangen. Sie hatte sich jenen Nachmittag gewiss auch anders vorgestellt. Aber was sollte sie machen? Ihre Eltern und Leopold zählten auf ihre Hilfe. Also zog sie sich ohne Erklärung zurück. Paul die Wahrheit zu sagen war undenkbar, anlügen wollte sie ihren Freund jedoch erst recht nicht. Er merkte natürlich, dass sie ihm etwas verschwieg. Kein Wunder, dass er sich jetzt lieber mit der lebenslustigen Ilse traf, die kokett ihre Haare über die Schulter warf und ihre Rundungen in Szene setzte - sofern kein Erwachsener in der Nähe war.
»Ja, ich komme gern mit an den See«, antwortete sie spontan.
Schlimmstenfalls würde sie Rosi mitnehmen müssen. Aber sie vermisste die unbeschwerten Nachmittage. Und Paul. Sein Lachen hatte schon immer jeden Kummer vertrieben.
Vor ihrem Haus stand Charlottes Mutter auf einen Spaten gestützt und tupfte sich mit einem Tuch die Stirn ab.
»Guten Tag, Frau Gerber«, grüßte Ilse und erntete ein freundliches Nicken.
»Mutti, darf ich später mit an den See?«, platzte Charlotte sofort mit ihrer Bitte heraus.
Einen bangen Augenblick lang dachte sie, ihre Mutter würde es ihr verbieten, doch dann nickte sie. »Natürlich. Wenn wir im Garten fertig sind, kannst du dich mit deinen Freunden treffen.«
»Bis nachher.« Mit einem Winken verabschiedete sich Ilse, während Charlotte in Richtung Haustür ging.
»Lauf geschwind rein und bereite Brote zum Mittagessen. Nimm auch welche mit hoch. Rosi ist bis zum Abend bei Magda.«
Charlotte verstand, was ihre Mutter ihr damit auftrug. An Tagen, an denen Rosi bei ihrer Freundin zum Spielen war, durfte sich Leopold frei im Haus bewegen. Charlotte kümmerte sich dann um ihn und bemühte sich, ein wenig Freude in das Leben des verschreckten Kindes zu bringen. Meist vergeblich, denn aus dem einstigen Lausbuben mit dem charmanten Grinsen war ein blasser Knabe mit angstvollem Blick geworden.
Charlotte stellte ihre Schultasche neben die Treppe in der Diele. Auf der Kommode lag die Post von heute, zuoberst ein Brief, der mit dem Vermerk »Empfänger unbekannt verzogen« zurückgekommen war. Charlotte schüttelte traurig den Kopf. Es war eines der Schreiben ihres Vaters, gerichtet an Leopolds Verwandtschaft. Vor der Räumung der Wohnung war Charlottes Vater wie ein Dieb in der Nacht bei Rosenbergs eingebrochen und hatte einige von Leopolds Sachen und Dokumente an sich genommen, darunter auch ein Notizbuch mit Adressen von Verwandten. Voller Hoffnung hatte ihr Vater sich an jeden von Leopolds Angehörigen gewandt, aber eine Antwort stand bis heute aus. Von Leopolds Eltern gab es ebenso wenig Nachricht. Charlotte glaubte nicht mehr daran, dass sie Leopold rasch zu seiner Familie schicken konnten, und sie las in den Mienen ihrer Eltern, dass sie ähnlich dachten. Mit jedem dieser Briefe ohne Antwort gruben sich tiefere Falten in die Stirn ihres Vaters, und ihre Mutter war so voller Furcht, dass sie zusammenfuhr, sobald jemand an die Tür klopfte.
Mit einem beklommenen Gefühl richtete Charlotte mit Wurst und Käse belegte Brote auf einem Tablett an, deckte sie mit einem Tuch zu und machte sich auf den Weg zum Dachboden.
Die knarzende Treppe sorgte dafür, dass Leopold wusste, wenn jemand zu ihm hinaufkam. Wie ein Wiesel huschte er dann in sein Versteck. Als Charlotte die niedrige Tür aufstieß, lag daher ein leerer Raum vor ihr, in dem nur der Staub im Sonnenlicht tanzte, das durch ein kleines Dachfenster fiel.
Charlotte bewunderte die Umsicht, mit der ihr Vater die Kammer für Leopold gemauert hatte. Die Wand unterschied sich in nichts von der gegenüberliegenden Giebelwand. Nur bei genauem Hinsehen würde man merken, dass sie am Ende - dort, wo selbst ein Kind schon kriechen musste - nicht ganz mit der Dachschräge abschloss.
»Grüß dich, Leo.« Charlotte gab sich betont munter.
Durch die winzige Öffnung zwischen Mauer und Dach lugte nun ein strohblonder Schopf.
»Ich habe uns Brote gemacht. Wir können sie zusammen essen. Ein Picknick. Was hältst du davon?« Die Idee war Charlotte spontan gekommen. »Rosi ist nicht da, wir können uns in den Garten setzen.«
Leopold nickte schweigend. Als er aus dem Schatten hervortrat, sah Charlotte, dass er geweint hatte. Sofort schämte sie sich für ihre nichtigen Sorgen. Wie konnte sie sich darüber grämen, dass sie wegen Leopold ihre Freunde nicht treffen durfte, während dieser im selben Moment nicht wusste, ob er seine Eltern jemals wiedersah?
Sie strich Leopold über den Kopf. »Danach lese ich dir vor, wenn du möchtest.«
»Die Geschichte, von der du mir gestern erzählt hast?«, fragte er. »Von dem Kai?«
»Genau die«, bestätigte Charlotte, und endlich schlich sich die Andeutung eines Lächelns in Leos blasses Gesicht.
Zusammen liefen sie die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Auf dem Weg nach draußen zog Charlotte die Erzählung Kai aus der Kiste aus dem Bücherregal.
Der Garten hinter dem Haus war von einer hohen Hecke umgeben. Als zusätzlichen Sichtschutz hatte ihr Vater ein Regal mit Blumentöpfen und Kübeln so platziert, dass dahinter eine kleine Rasenfläche abgeteilt war, auf der Leo und sie sich niederließen. Charlottes Blick wanderte skeptisch an dem Gestell mit den Gartenbehältnissen entlang. Eine echte Versteckmöglichkeit bot es nicht. Trotzdem mussten sie Leo zumindest dieses bisschen an Freiheit und frischer Luft gestatten. Der Junge war erschreckend bleich. Charlotte konnte nur erahnen, wie schwer es ihm fallen musste, tagein, tagaus still auf dem Dachboden auszuharren, wo es nachts rasch auskühlte und tagsüber stickig war. Beklagt hatte er sich kein einziges Mal. Doch an der Art, wie er sich nun entspannt ins Gras legte und in die Sonne blinzelte, merkte Charlotte, wie sehr es ihm fehlte, draußen zu sein.
Charlotte breitete das Küchenhandtuch auf dem sonnenwarmen Rasen aus und stellte das Tablett darauf ab. »Bitte, greif zu!«
Dann holte sie aus der Küche Gläser und einen Krug mit Wasser. Als sie in den Garten zurückkehrte, saß Leo bereits in der Sonne und aß sein Brot mit mehr Appetit als in den vergangenen Tagen.
Charlotte gratulierte sich still zu ihrer Idee mit dem Picknick. Das gute Wetter weckte die Lebensgeister des Jungen, und kaum hatte er den letzten Bissen heruntergeschluckt, forderte er mit ungewohnt energischer Stimme: »Und jetzt die Geschichte!«
Lachend nahm Charlotte das Buch und schlug die erste Seite auf. »Eine Kiste, die >Danke< sagt«, begann sie, und es dauerte nicht lange, bis sie ebenso in der Erzählung versank wie Leopold.
Die Minuten verschmolzen, die Gegenwart verblasste, während sie mit Leopold im Geiste nach Berlin und in eine Zeit reiste, in der die Welt noch in Ordnung war. Erst als sich ihr Bein mit einem unangenehmen Kribbeln meldete, fiel ihr auf, dass sie schon eine Weile in dieser unbequemen Position mit dem Buch auf dem Schoß auf dem Rasen saß.
»Den Rest verwahren wir uns für morgen.« Sie merkte sich die Seite und klappte das Buch zu. »Ich habe die Zeit vergessen.«
Wie auf ein Stichwort hörte sie in diesem Moment die Stimme ihrer Mutter. »Charlotte, seid ihr . Bist du im Garten?...
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