Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Brachland
Die meisten Plätze sind noch nicht besetzt, als mein Vater und ich über die dunkle Wendeltreppe auf die Empore kommen. Aber Quack und Parre sind schon da; Quack sitzt in der Ecke an der Wand, und auf dem linken Ärmel seines schwarzen Anzugs sind verwischte weiße Streifen. An einem Haken in der Bank hängt sein Spazierstock. Parre thront wie ein Fürst gleich bei der wackligen Stufe am Anfang der Bank. In der Kirchenbank von Quack und Parre sind jetzt noch zwei Plätze, einer für meinen Vater neben Parre, einer für mich neben Quack. Wenn ein fremder Pastor predigt, Pastor Zelle zum Beispiel aus Den Briel, der die zehn Kilometer von seinem Haus bis zu unserer Kirche auf dem Rennrad zurücklegt, seinen Talar in Packpapier eingewickelt und mit Bindfaden an den Lenker gebunden, in kurzer Hose und offenem Sporthemd, das er auch während der Predigt unter seinem Talar anbehält, sitzen viele Menschen auf der Empore, auf den Klappstühlen im Gang und auch zwischen Quack und mir, weil ich mit meinen sieben Jahren nur wenig Platz einnehme.
Diesen Sonntag predigt unser Pastor. Ich blicke, sobald ich neben Quack sitze, zum Taufbecken. Zum Glück hängt kein Handtuch da, also keine Taufen. Auch der Abendmahlstisch ist säuberlich mit einem schwarzen Tuch abgedeckt. Ein Abendmahlsgottesdienst dauert länger als ein Predigtgottesdienst, und außerdem gehen Quack, Parre und mein Vater und alle anderen Männer und Frauen von der Empore nach unten, wenn Brot und Wein gereicht werden, so daß ich allein zurückbleibe und Angst habe, die Empore könnte einstürzen. Ich bin immer froh, wenn sie laut polternd die Wendeltreppe wieder heraufkommen.
Jetzt sitze ich neben dem schweigenden Quack. Mein Vater redet mit Parre. »Leusing ist gestorben«, sagt er, »das ist was! Ein Herzanfall. Einfach so tot.«
»Leusing? Dieser Alte aus der Sandelijnstraat?«
»Nein, sein Sohn. Der Alte lebt noch.«
»Sein Sohn? Aus dem Trödelladen in der Hoekerdwarsstraat? Der mit einer Frau von den Inseln verheiratet war, so ’ner Schwarzhaarigen?«
»Ja, den mein ich.«
»Wie alt ist er geworden?«
»Vierundfünfzig.«
»Zwanzig Jahre jünger als ich, und schon vor Gottes Angesicht. Na, er hat Gott und sein Gebot mit Füßen getreten, er hat gesoffen, er hat gehurt, er wird seiner gerechten Strafe nicht entgehen. Er taugte nichts, ich weiß noch, daß er mit achtzehn Jahren was mit der Frau von Lagrauw angefangen hat. Damals war ich Kirchenältester, und ich habe …«
»Bitvoorn ist auch tot.«
»Aus der Aagtenstraat. So, so, auch tot, großes Aufräumen mit diesem Gesindel, er war …«
Die Kirchenältesten kommen über den verschlissenen Teppich im Mittelgang zwischen den Kirchenbänken hereinmarschiert. Hinter ihnen schlurft der Pastor, der seinen Talar etwas anhebt. Er bleibt an der Treppe zur Kanzel stehen, er betet lange, steigt dann hinauf, und seine Stimme tönt durch die Kirche: »Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus in der Gemeinschaft des Heiligen Geistes, Amen. Wir singen Lied Nr. 138, Strophe 1.«
Ich singe nicht. Ich starre die Hände des alten Quack an, der sein Gesangbuch aufgeschlagen hat und zitternd, ohne Melodie, die Worte hervorbringt: »Lobsingen will ich dir, o Herr, und beugen mich, denn du, o Herr, mir ja verheißt den Weg zum ew’gen Paradeis, zu deinem Palast im Garten der Gärten.«
Die Hände sind krumm. Auf dem Handrücken sind dicke blaue Adern zu sehen. Die Finger zittern. Quack ist alt, älter als Parre. Mein Vater hat mir erzählt, daß Quack ein schlechter Mensch gewesen ist, er ist zur See gefahren, er hat den Herrn nicht gefürchtet, aber jetzt ist er bekehrt und sitzt zweimal jeden Sonntag an der weißen Wand, und die struppigen grauen Haare seines Schnurrbarts bewegen sich, wenn er singt. Niemals spricht Quack mit Parre und meinem Vater über den Tod anderer Leute: Er sitzt nur da, schweigend und vor sich hin murmelnd und mit seinen krummen, faltigen Händen in dem schwarzen Gesangbuch mit den gelben Seiten blätternd. Mit denselben Händen wird er mir gleich, wenn die Predigt beginnt, ein Pfefferminzbonbon geben, wie er es immer getan hat, und dann werde ich, zusammen mit den drei Pfefferminzbonbons, die ich von meiner Mutter bekommen habe, insgesamt vier Pfefferminzbonbons haben, um die Predigt durchzuhalten. Eine Predigt dauert ungefähr sechs Pfefferminzbonbons Lutschzeit. Wenn ich vier aufgelutscht habe, dauert es zum Glück nicht mehr so lange. Die drei Pfefferminzbonbons brennen schon jetzt in meiner Hosentasche neben dem Geld für die Kollekte, aber ein Pfefferminz nehmen, bevor die Predigt beginnt, ist Sünde, und Gott sieht alles.
Während der Pastor die Zehn Gebote verliest, denke ich an den Vers aus dem Gesangbuch. »Lobsingen will ich dir, o Herr, und beugen mich, denn du, o Herr, mir ja verheißt den Weg zum ew’gen Paradeis, zu deinem Palast im Garten der Gärten.« Ich sehe einen vereisten Weg vor mir, eine riesige Eisfläche, einen gefrorenen See, größer als das Bommeer, auf dem ich in diesem Winter Schlittschuhlaufen gelernt habe. In der Ferne liegt der Palast im Garten der Gärten. Ich beuge mich und laufe über das Eis. Es muß starker Gegenwind sein. Schlittschuhlaufen in Richtung Palast. Zu welchem Palast? Gottes Palast, dem Himmel. Also das geschieht, wenn man stirbt, man läuft Schlittschuh über einen großen See, zum Palast, zum Himmel. Aber weshalb ein Garten? Eden, das Paradies, war auch ein Garten. Und weshalb muß man auf Schlittschuhen über das Eis zu Gott laufen, weshalb kann man nicht im Sommer in einem Segelboot über den See fahren? Nein: Im Winter ist es besser, man hat Gegenwind, und dann würde man mit einem Segelboot nicht weit kommen. Also deshalb sind tote Menschen so kalt, es ist Winter, wenn sie sterben. Aber weshalb hat man Gegenwind?
Während ich über den Gegenwind nachdenke, wird der Klingelbeutel herumgereicht. Mein Vater gibt mir den schwarzen Beutel mit den gedruckten goldenen Buchstaben, ich werfe das Geld in den Beutel, der alte Quack übernimmt den Beutel von mir. Sogar sein Arm zittert jetzt, und er läßt den Beutel aus den Händen fallen. Ohne viel Lärm fällt der Beutel auf den Boden. Ich rutsche zwischen den Bänken nach unten und suche in der staubigen, dunklen Tiefe unter den Bänken nach dem Beutel, bringe ihn nach oben und gebe ihn meinem Vater, der ihn an die Leute in der Bank vor uns weiterreicht. Nach der Kollekte singen wir wieder aus dem Gesangbuch, und ich behalte nur das Wort »Gottesfrucht«. Nochmals sehe ich das Eis und den Garten des Palastes vor mir, in dem jetzt Bäume mit Gottesfrüchten wachsen. Die Früchte sind gelb, hellgelb wie Zitronen, aber größer. Sind es Äpfel? Ich weiß es nicht. Kann es Früchte im Winter geben? Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Es bereitet mir ein Gefühl der Befriedigung, weil ich das nun auch weiß: In dem Garten stehen Bäume mit Gottesfrüchten, die Zweige und Blätter bewegen sich heftig hin und her im Gegenwind.
Die Predigt beginnt. Ich warte auf das Pfefferminz von Quack, das kommt, sobald der Pastor sagen wird: »Geliebte, im Herrn versammelte Gemeinde.«
Quack sitzt in der Ecke, die Augen geschlossen. Er blickt diesmal nicht auf, als der Pastor mit seiner Predigt beginnt. Ist Quack mir etwa böse? Schämt er sich? Ist er böse, weil ich den Kollektenbeutel aufgehoben habe, den er hat fallen lassen? Weshalb gibt er mir das Pfefferminz nicht? Ich halte es nicht ohne dieses Pfefferminz aus, die Predigt dauert so lange, und wenn man nur drei hat, muß man die halbe Zeit ohne Pfefferminz auf den Schluß der Predigt warten, auf das erlösende Amen, und man weiß dann nicht, wie weit der Pastor ist, noch vor oder schon nach dem vierten Pfefferminzbonbon. Aber ich bekomme es nicht. Ich bin traurig, weil ich es nicht bekomme. Immer gibt Quack mir ein Pfefferminz, doch jetzt nicht. Warum nicht? Ich nehme das erste aus meinem eigenen Vorrat, ich lutsche geduldig und zähle die Orgelpfeifen. Ich weiß genau, wie viele Pfeifen es sind, ich habe sie schon so oft gezählt. Dennoch zähle ich sie jeden Sonntag wieder, um die Langeweile zu vertreiben, ich zähle auch die Buchstaben auf der Tafel über der Kanzel mit dem vornehmsten Gebot unseres Herrn aus dem Matthäus-Evangelium; ich zähle die kleinen, bleigefaßten Scheiben, aus denen ein Kirchenfenster zusammengesetzt ist; ich zähle die Lampen in der Kirche. Als ich das alles zweimal gezählt habe, bin ich müde. Ich habe mein erstes Pfefferminz aufgelutscht. Es dauert noch so lange! Ich schaue den Fliegen zu, die in der Kirche herumsummen und sich manchmal auf die glänzenden, kahlen Schädel der Kirchenältesten setzen. Manchmal höre ich den Worten des Pastors zu. Ich habe gut aufgepaßt, über welchen Text er predigt, mein Vater wird nach dem Gottesdienst danach fragen. Ein Text aus Jeremia. »Brecht, ihr Leute, brecht ein Brachland und säet nicht unter die Dornen.« Was ist das: ein Land brechen? Brechen ist ein anderes Wort dafür, wenn man sich übergeben muß, das weiß ich, aber Brachland, warum nicht Brechland, und wie soll ich mir das vorstellen? Ist es eine Grasfläche, worauf Menschen gebrochen haben?
Mein Vater tippt mir ungeduldig auf den Rücken.
»Zuhören«, sagt er, »nicht dösen.«
»Ja, Vater«, flüstere ich.
»Sind noch heilsbegierige Menschen unter uns«, sagt der Pastor, »so lautet für sie des Herren Wort an diesem Morgen: ›Brecht, ihr Leute, brecht ein Brachland‹, das ist ein Aufruf zur Umkehr, zur Bekehrung, das Brachland, aus dem ein Garten aufblühen wird, wie das Paradies, worin Adam mit Gott wandelte, ein Garten, in dem wir wandeln...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.