Schweitzer Fachinformationen
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»Glaub ja nicht«, sagte mein Vater, »man könnte einfach so, mir nichts dir nichts, einen Flieger zusammenbauen. Man muss sehr genau arbeiten.«
Er sah mich an, als hätte ich die kleinen Latten aus Eschenholz schon falsch gesägt und das weiche Packpapier zerschnitten.
»Auf deiner Stirn habe ich gesehen, was du gedacht hast: Ich mache aus zwei Latten ein Kreuz, spanne zwischen die vier Enden eine Schnur, schneide das Papier zurecht, falte es um die Schnur und leime es mit Tapetenkleister fest.«
»Das habe ich überhaupt nicht gedacht«, protestierte ich.
»Darauf lief es aber hinaus«, sagte er, »aber das Kreuz …«
Er rieb über die Narbe an seinem Kinn, die nach einem Sturz aufs Eis zurückgeblieben war.
»Du kannst die Latten zusammenbinden«, sagte er, »oder mit ein paar kleinen Nägeln befestigen, aber am besten ist es, mit einem kleinen Stecheisen in der Mitte eine Kreuzverbindung zu schneiden, sodass du die Längsstrebe und die Querstrebe ineinander verschränken kannst. Wenn du es wirklich gut machst, brauchst du weder Schnur noch Nägel, sondern klemmst sie einfach fest aneinander … eventuell noch mit ein wenig Holzleim … vielleicht ein kleines Schräubchen … na, Latten hast du genug, du kannst also anfangen …«
Er schwieg, fuhr mit dem Zeigefinger über die Narbe und murmelte: »Wie sie wohl auf Golgatha das Kreuz gemacht haben? Haben sie den Querbalken einfach auf den senkrechten Balken genagelt? Oder haben sie vorher auch in der Mitte eine Kreuzverbindung gemacht? Das wäre viel fachmännischer.«
Jemand klopfte kräftig an die Tür des Bahrhäuschens.
»Wer kommt denn da jetzt auf den bescheuerten Gedanken, uns hier zu stören?«, rief mein Vater entrüstet. Er ging zur Tür, öffnete sie vorsichtig und sagte: »Ach, du schon wieder. Was willst du? Was soll das?«
Auf dem weißen Kies stand bewegungslos ein großer blaugrauer Vogel.
Mein Vater sagte: »Wenn ich ab und zu auf einem Geburtstagsfest erzähle, dass hier bei mir auf dem Grab ein zahmer Reiher herumläuft, der dann und wann mit dem Schnabel an die Tür des Bahrhäuschens klopft, wenn er sich nach Unterhaltung sehnt, weil er kränkelt, dann sieht man sie denken: Schwager, du bist auch nicht an deiner ersten Lüge erstickt. Tja, du weißt ja, wie das ist: Du kannst lügen, dass sich die Balken biegen, und die Menschen glauben dir nicht nur, sondern sie fühlen auch mit dir mit, aber sag die Wahrheit, und sie zischen hinter deinem Rücken: Schwindler.«
Er wandte sich an den Reiher und sagte gutmütig: »Such dir doch ein handfestes Weibchen … es gibt genug … du kannst hier ein Nest bauen, wo du willst, Bäume im Überfluss, keiner stört dich, denn außer mir sind ja alle tot, tja, was willst du noch mehr … ja, ja, gut, ich weiß … Rampenne … der kann dich nicht ausstehen … aber der hat auch nicht das ewige Leben, hat heute oder morgen seinen letzten Satz gesagt … der wird bald ins Himmelreich berufen.«
Der Reiher hob seinen rechten Fuß und stellte ihn wieder auf den Boden. Dann hob er seinen linken Fuß und stellte auch den wieder auf den Boden.
»Ich mache mich gleich an die Arbeit«, sagte mein Vater, »gedulde dich noch einen Moment, ich wollte noch kurz mit meinem Sohn über seinen Flieger sprechen … ich muss ihm doch beibringen, wie man so ein Ding bastelt, das ist auch in deinem Interesse … bald steht hier ein Kamerad für dich am Himmel.«
Der Reiher schüttelte den Kopf, mein Vater sagte: »Oder setz dich doch einfach zu uns … nein, das willst du nicht, was … wie du meinst, ich lass einfach die Tür offen, dann kannst du hören, was wir sagen. Wir werden zuerst über die Bespannung sprechen.«
Er gab dem Reiher einen freundschaftlichen Klaps auf die linke Schulter und wandte sich dann wieder an mich.
»Glaub nicht, du könntest für die Bespannung das schöne Packpapier einfach mal schnell zurechtschneiden. Drachenpapier … am besten wäre es, wenn du das Papier erst einmal zerknüllen und dann wieder glattstreichen würdest. Aber es täte mir in der Seele weh, derart schönes Papier zu zerknüllen. Nun ja, was auch ganz gut funktioniert, ist, das Papier über Nacht zwischen zwei feuchte Handtücher zu legen. Das Problem ist nur: Ich habe hier keine feuchten Handtücher.«
Wieder fuhr er vorsichtig mit dem Finger über die Narbe.
»Ich glaube, wir kriegen schlechteres Wetter, mein Zierstreifen macht sich unangenehm bemerkbar … Handtücher … warte mal, ich hatte hier doch noch ein großes, altes Bahrtuch herumliegen. Wenn ich das kurz in den Friedhofsgraben tauche und auswringe, dann können wir es doppelt falten und das Papier darin übernachten lassen.«
Er öffnete einen hellblauen Schrank und nahm ein schwarzes Tuch vom untersten Brett. Obwohl er dabei behutsam zu Werke ging, wurde so viel Staub aufgewirbelt, dass er heftig zu husten begann. Der Reiher richtete sich auf, öffnete den Schnabel, schloss ihn wieder und trampelte ein paarmal mit den Füßen auf den Kies. Mein Vater ging an dem Vogel vorbei zu dem Graben, der an den Gleisen entlang führte. Er tauchte das Tuch ins Wasser, wrang es wieder aus und kam zurück ins Bahrhaus. Seine Augen tränten noch von dem Hustenanfall.
»Als ich das Tuch eingetaucht habe«, sagte mein Vater, »musste ich auf einmal an König Benhadad denken.«
»König Benhadad?«, fragte ich erstaunt.
»Ja, aus 2 Könige, Vers 8. Elisa verkündet ihm, dass er König von Syrien sein wird. Und was folgt dann? ›Des anderen Tages aber nahm er die Bettdecke und tauchte sie in Wasser und breitete sie über sein Angesicht; da starb er.‹ Er erfährt, dass er König werden wird, und bringt sich anschließend um! Verstehst du das? Und welch eine seltsame Methode, sich um die Ecke zu bringen. Ob man wirklich stirbt, wenn man sich eine nasse Decke übers Gesicht zieht? Und wie war das mit dem Propheten Elisa? Sagt was voraus, das am nächsten Tag schon nicht mehr stimmt. Was für eine verrückte Geschichte!«
Während seines Monologs hielt ich die eine Hälfte des Tuchs in die Höhe. Mein Vater drapierte das Papier auf der anderen Hälfte, die auf dem Boden des Bahrhäuschens lag. Dann deckte ich meine Hälfte darüber. Mein Vater sagte: »So, das hätten wir, und nun zuerst die beiden Latten. Wie groß sollen sie deiner Ansicht nach sein? Einen Meter zwanzig die senkrechte Strebe und die waagerechte neunzig Zentimeter? Ist das in Ordnung?«
»Ja, prima«, sagte ich auf gut Glück.
»Na, na, ein bisschen groß für dich, aber gut, es ist dein Flieger, und wenn du ihn so groß haben willst …«
»Er kann ruhig auch kleiner sein.«
»Nein, nein, wir haben hier eine perfekte Latte von einem Meter zwanzig Länge; es wäre Sünde, davon ein Stück abzusägen.«
Er nahm eine der Latten und bog vorsichtig das Holz.
»Schau nur«, sagte er, »wir haben es hier mit der allerbesten französischen Esche zu tun, die ist fast so geschmeidig wie eine Kranzschleife. Sollen wir die Querstrebe mit einer kräftigen Spannschnur etwas biegen? Dann steht der Flieger gleich ein wenig stabiler.«
»Meinetwegen«, erwiderte ich.
»Wenn ich schon mal schnell mit meinem Stecheisen für dich einen Anfang an der mittigen Kreuzverbindung mache, dann kannst du inzwischen zum großen Tor laufen und nachsehen, ob Rampenne zufällig angestiefelt kommt. Ich will nicht, dass er uns hier überrascht. Selbst wenn er dich mit eigenen Augen mit einem Stecheisen hantieren sieht, weiß morgen die ganze Stadt, dass der Grabmacher während der Arbeitszeit im Bahrhäuschen sitzt und Flieger bastelt.«
Als ich von meinem Gang zurückkam und berichten konnte, dass Rampenne weit und breit nicht zu sehen war, zeigte sich, dass die Arbeit an der Kreuzverbindung schon ziemlich weit fortgeschritten war.
»Mensch«, sagte ich, »du bist schon fast fertig.«
»Ja, ja, das könnte man meinen, aber worauf es ankommt, ist, dass die linke und die rechte Seite genau im Gleichgewicht sind. Wenn die Querstrebe auf der einen Seite auch nur ein bisschen schwerer ist als auf der anderen, dann steht der Flieger nicht gut in der Luft. Wie finden wir heraus, ob er links ebenso schwer ist wie rechts? … Am besten wäre es, wenn wir die Enden der Querstrebe irgendwo so auflegen könnten, dass sich das Kreuz um diese Achse drehen kann … dann würden wir sehen, ob die Querstrebe an einer Seite nach unten sinkt … wie machen wir das? … Warte … wenn ich den Deckel von dem Reihengrab in der zweiten Klasse abnehme und zwei Schnüre darüber spanne … ja, das ist eine Bombenidee.«
Mit dem Kreuz schlenderten wir über den stillen Friedhof zu den Reihengräbern der zweiten Klasse. Zusammen hoben wir den Deckel von dem halb gefüllten Grab. Mithilfe von vier Stöckchen spannte mein Vater zwei Schnüre über die tiefe Grube. Währenddessen kam der zahme Reiher angeflogen und landete auf einer schwarzen Marmorplatte. Ganz langsam, immer wieder kleine Schritte machend, kam er näher, bis er das offene Grab erreicht hatte. Andächtig schaute er in die Tiefe.
»Das ist seine ganze Lust und Seligkeit«, sagte mein Vater, »wie ein Standbild am Rande eines Grabes zu stehen und hineinzuschauen. Das kann er stundenlang. Er denkt dann: Ach, wenn ich doch später auch so ein schönes Menschengrab bekommen könnte.«
Mein Vater nickte dem Vogel zu.
»Sei unbesorgt, Reiher, wenn du stirbst, sorge ich dafür, dass du dein Grab kriegst. Mit etwas Glück gelingt es mir, dich in ein Familiengrab erster Klasse zu schmuggeln, das verspreche ich dir.«
Mein Vater legte das Lattenkreuz so auf die straff gespannten Schnüre, dass die Querstrebe sich frei...
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