Schweitzer Fachinformationen
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(BRACE BRACE HEADS DOWN STAY DOWN) 1990-1993
64 Poplar Street, Garden City, Nassau County, Long Island, New York. Amerika. Eine dörfliche Enklave auf knapp vierzehn Quadratkilometern im Herzen der Stadt Hempstead, mit drei Golfvereinen, von denen jeder der exklusivste sein wollte. Das ganze Jahr hindurch gepflegte Alleen und saubere Bürgersteige und mexikanische und puertoricanische Gärtner, die aus dem Nichts auftauchten und das Laub aus unseren Einfahrten bliesen, während sie Melodien pfiffen, die wir niemals lernen sollten.
Diese Erinnerung habe ich an uns, meine Eltern, meine Schwester und mich, hier, am ersten Tag in Amerika, einem Julitag im Jahr 1990, unserem allerersten Tag; viel zu warm angezogen, pendelten wir zwischen dem Umzugswagen an der Bordsteinkante und dem neuen Haus mit seinen noch unvertrauten Zimmern, in die wir einziehen sollten. Wir waren an einem kühlen Morgen in Stavanger aufgebrochen, und unser Anblick in dicken Wollpullovern mit skandinavischen Mustern muss die Vermutungen unserer neuen Nachbarn endgültig bestätigt haben, sie konnten einander vielsagend zunicken: Wir waren nicht vorbereitet. Und ich erinnere mich, wie der Nachmittag in den Abend überging, während mein Vater eigenhändig das riesige hellbraune Sofa über den Rasen zum Haus wuchtete. Er keuchte, ihm rann der Schweiß, und die Sofabeine hinterließen tiefe Furchen im Gras, doch er war fest entschlossen, er, und nur er, sollte unser wichtigstes Möbel an seinen Platz befördern, ich glaube, es hatte symbolische Bedeutung für ihn; erst wenn es drinnen am richtigen Ort stand, wären wir zu Hause. Dachte er. Als Einziger von uns. Mehrere neugierige Nachbarn hatten sich versammelt, um das eigenartige Manöver näher in Augenschein zu nehmen, und boten ihre Hilfe an, doch mein Vater schüttelte nur den Kopf.
«Nein, danke», sagte er mit einem tapferen Lächeln und kämpfte sich weiter voran. «Geht schon.»
Auf halbem Weg ließ er sich zu einer Verschnaufpause und einem Bier überreden, und das ist der Moment, der mir von diesem Tag am eindrücklichsten in Erinnerung geblieben ist: wie mein Vater auf dem frisch malträtierten Rasen vor unserem Sofa steht, umgeben von Nachbarn in luftigen Hemden und Sommerkleidern, während er selbst Wolle trägt, und wie er sich am Ende den Pullover auszieht und ihn auf das Sofa wirft. Und die neuen Nachbarn Beifall klatschen. Und ich meinen Pullover anbehalte. Und wie die letzten Sonnenstrahlen den Kopf meines Vaters erleuchten und ihn glühen und größer aussehen lassen, als er ist. Und wie meine Mutter aus dem Haus kommt und ihn umarmt und einen Schluck aus seiner Flasche nimmt und die neuen Nachbarn begrüßt, die ihr zuprosten.
Und ich friere und reingehe.
Wie wäre es gewesen, wenn wir uns stattdessen von Anfang an in Manhattan niedergelassen hätten, alles wäre anders gewesen, alles neu, nichts Wiedererkennbares, sondern ein gleichmäßiger Strom von Zerstreuungen und Geräuschen, die mich von dieser grässlichen, nicht nachlassenden Sehnsucht abgelenkt hätten. Denn das größte Problem an Garden City war nicht, dass es in Amerika lag, sondern dass es so sehr an zu Hause erinnerte, ohne zu Hause zu sein. Die Häuser hier sahen vielleicht nicht so aus wie die, in denen ich und meine Freunde aufgewachsen waren, und die Straßen und Alleen wirkten schöner, als ich es gewohnt war, gepflegter. Und trotzdem war es das Gleiche, die gleiche wellenartige Abwesenheit von Lärm; Autofahrer, die aus Rücksicht auf die spielenden Kinder langsam fuhren, Nachbarn, die sich morgens grüßten und abends den Rasensprenger ausschalteten, nachdem er den ganzen Nachmittag wie hypnotisch zwischen der Rasenfläche und dem Bürgersteig hin- und hergeschwenkt war; dasselbe Vorstadtgefühl, das uns zu verstehen gab, dass wir unter uns waren und glücklich darüber sein sollten. Die ganze Zeit bläute Garden City uns, mir, schmerzlich ein, dass wir nicht da waren, wo wir sein sollten. Jedes Mal, wenn ich in die Küche ging, um ein Glas Milch zu trinken, und für einen Moment vergaß, dass ich nicht in Stavanger war, nur um kurz darauf das Zucken in meiner Hand zu spüren, wenn ich die Milchtüte nahm, und die Nerven ein Signal an mein Gehirn sendeten, dass die Packung größer war als gewohnt und anders gehalten werden musste. Oder wenn ich mir an manchen Tagen einbildete, ich würde mich wohlfühlen, und in meinem neuen Zimmer Musik hörte und mitsang und von der Zukunft träumte und davon, wie ich irgendwann, früher oder später, aber ganz sicher irgendwann - vielleicht dann, wenn man mich längst aufgegeben und vergessen hätte - triumphierend nach Stavanger zurückkehren, mein Gepäck mitten auf die Straße stellen und sagen würde: Hier bin ich wieder. Und mich feiern ließe. Oder wenn ich meinen Fahrradschlauch flickte oder mich dabei ertappte, dass ich ein Lied im Radio mitsummte, oder ausgestreckt mit dem Gefühl auf dem Sofa lag, dass es gutgehen würde, das hier, dass es doch gutgehen könnte, bis meine Mutter hineinplatzte und mich darauf aufmerksam machte, dass sie unten an der Straße Jugendliche in meinem Alter gesehen hätte und ich vielleicht hergehen und ihnen hallo sagen, etwas unternehmen könnte, anstatt hier zu sitzen und zu grübeln, gammeln, zu prokrastinieren; sie hatte ein ganzes Arsenal an Wörtern für Nichtstun.
Dann war der Tag für mich ruiniert. Er ging kaputt, und wieder konnte ich unmöglich vergessen, wo ich herkam; unmöglich vergessen, dass ich an einem anderen Ort war. Er ließ sich nicht mehr in Ordnung bringen.
Vom Fenster aus sah ich die Jugendlichen, von denen meine Mutter gesprochen hatte. Drei Jungs und zwei Mädchen, eins davon hübsch, sie kamen in der glitzernden (und das war noch untertrieben) Nachmittagssonne daher, die Jungs kurvten langsam auf coolen BMX-Rädern im Zickzack um die Mädchen herum; sie lachten und schubsten sich gegenseitig, sie sahen völlig sorgenfrei aus, und ich hätte nichts lieber getan, als zu ihnen hinauszugehen. Aber noch lieber hätte ich zu ihnen gehört. Am liebsten wäre ich nach draußen gerannt und hätte mich ihnen angeschlossen, wohin sie auch unterwegs waren. Ihre Sprache wäre meine Sprache gewesen, ich hätte wie sie gesprochen, ganz instinktiv die Worte geformt und mich nicht auf die schwierigen th-Laute am Ende konzentrieren und jedes Mal schämen müssen, wenn ich es nicht richtig hinbekam. Ich ging aber nicht raus. So lief das einfach nicht mehr. Als Fünfjähriger, vielleicht noch als Zehnjähriger, konnte man einfach auf jeden zuspazieren, und wenn man ein paar Stunden später nach Hause kam, müde und glücklich und den Mund voller Erlebnisse, die einfach so heraussprudelten, hatte man neue Freunde.
Jetzt nicht mehr. Nicht als Dreizehnjähriger. Nicht jetzt, wo die Möglichkeit zu reden nicht mehr existierte.
All die Phrasen, Referenzen, haarfeinen Nuancen, Doppeldeutigkeiten und Unverblümtheiten; die Ortskenntnis und die Sicherheit, von der Sprache getragen zu werden, die seltsamen Witze, mit denen ich um mich geworfen, und die Dialekte, die ich nachgeahmt hatte, um meine Freunde in Forus zum Lachen zu bringen, all das war über Nacht unbrauchbar geworden, sobald ich das Haus verließ. Es gab nichts, was ich sagen konnte, ich war verstummt. Zwar hatte ich Englisch gelernt, bevor wir hergekommen waren, aber mir fehlten der Feinschliff der neuen Sprache, die subtilen Details. Schlimmer noch, Mund und Stimmbänder mussten einen Spagat zwischen zwei Kontinenten hinlegen: Tief im Rachen steckten die norwegischen Wörter und ließen mich langsam ersticken, ihrer Funktion beraubt, lösten sie sich auf und verfaulten, rannen die Speiseröhre hinab und ließen mich sauer aufstoßen; vorn auf der Zunge dagegen, mit einem ungewohnten, mehligen Geschmack, lag die englische Sprache in all ihrer Fülle und war bereit, jederzeit unkontrolliert aus meinem Mund zu strömen, wenn ich ihn nur aufmachte; um sie zu meistern, stopfte ich das amerikanische Englisch in so rauen Mengen in mich hinein, dass es mit großen Rülpsern wieder hochkam, ich lag stundenlang reglos auf dem Sofa vor dem Fernseher und ließ mich von Stimmen und Sätzen waterboarden, weil ich glaubte, mich auf diese Weise selbst auslöschen zu können, ich glaubte, es wäre die einzige Lösung, wenn ich alles Alte hinunterschluckte und verdaute, es durch den Verdauungstrakt zwang und ein für alle Mal loswurde, weil die Bauchschmerzen, die es mir bereitete, mit einer unbrauchbaren Sprache durch die Gegend zu laufen, fast unerträglich waren, nachts, aber auch morgens, in den ersten Sekunden nach dem Aufwachen, wenn mir klarwurde, wo ich immer noch war und nicht sein sollte. Ich wollte einfach nur, dass alles wieder gut war. Ich glaubte, es würde mir nie wieder gut gehen, und ich wollte, dass meine Eltern es sahen, dass es ihnen schmerzlich bewusst wurde, ich wollte ihnen ein unerträgliches, schlechtes Gewissen bereiten, sie persönlich verantwortlich machen für das Elend, dem sie mich aussetzten, und sie brutal für ihre Entscheidung bestrafen, indem ich in aller Öffentlichkeit litt und mich isolierte, abschottete, dichtmachte, allem Leben und allem Vorankommen eine Absage erteilte, ich kehrte Stalins Befehl Nr. 227 um: Nicht einen Schritt weiter! Ich freute mich darüber, dass die Anspannung bei meinen Eltern mit jedem Mal wuchs, das ich mich weigerte, vor die Tür zu gehen, obwohl ich es hasste, ein Stubenhocker zu sein, es hasste, keinen Ort zu haben,...
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