Schweitzer Fachinformationen
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Es ist der 27. Januar 1929 in Calw, Württemberg, der Heimatstadt Hermann Hesses. Es ist spät in der Nacht, 23:00 Uhr. Die Atmosphäre ist sehr frostig. Nach einem warmen Januaranfang ist nun, gegen Ende des Monats, das Thermometer auf fast minus 30 Grad gefallen. Eine kleine Frau, hochschwanger, quält sich in der Kälte alleine den Berg zum Calwer Krankenhaus empor. Es ist Sonntag. Ihr Mann, ein Methodistenpastor, ist irgendwo auf einer seiner Außenstationen unterwegs. Diese kleine Frau ist schon 42 Jahre alt, hat schon drei Geburten und eine Abtreibung hinter sich und ist gerade dabei, ihr viertes Kind zur Welt zu bringen, das sie gar nicht mehr wollte. Sie hat von den Männern genug, und wenn nun ein weiteres Kind kommt, dann soll es wenigstens ein Mädchen sein, weil die doch so viel leichter zu erziehen sind! Kälte, Anstrengung und Anspannung lassen sie zittern: Was wird das für ein Kind? Mit diesen sorgenvollen Gedanken und Erwartungen, was wohl jetzt aus ihrem Bauch herauskommen wird, steigt sie den Berg empor. Später wird sie erzählen, dass ihr in dieser Situation ein Bibelwort Halt gegeben hat, das sie auf ihrem Weg wie ein Mantra wiederholt: »Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht, denn der Herr, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.« (Josua 1,9)
In meiner psychotherapeutischen Praxis habe ich manches Mal gestaunt, wie sich vorgeburtliche Ereignisse prägend auf das spätere Leben auswirken. Und so auch hier! Dieses Bibel-Mantra war nicht nur meiner Mutter in ihrer Not und Anspannung ein Halt und eine Hilfe, sondern wurde sozusagen in utero ein Leitspruch für mein Leben. Gott ist in meinem Leben immer wieder auf sehr unterschiedliche Weise in Erscheinung getreten: In der äußeren Welt durch Menschen, die mir an Knoten- und Entscheidungspunkten meines Lebens hilfreich zur Seite standen. Und in meinem Inneren habe ich ihn als »Stimme« gehört, die mich innehalten hieß, wenn Gefahr drohte, oder die mir Mut machte, ganz neue und ungewohnte Wege zu gehen. Im Kreißsaal ist es eiskalt, die Heizungen im ganzen Haus sind eingefroren. Nur ein kleines elektrisches Heizöfchen brennt noch. Dann, nachts um 0:30 Uhr, wird das Kind geboren. Die Geburt verlief ohne Komplikationen. Aber es war sehr kühl, eine ziemlich kalte und abweisende Welt, nicht nur nach außen, sondern auch innerlich von den Gefühlen her: »Es ist ein Junge!«. Was ging da wohl in meiner Mutter vor, als ihr die Hebamme diese Botschaft brachte? Ich kann das nur ahnen und aus ihrem späteren Verhalten schließen.
Heute glaube ich, dass sie die Tatsache, dass ich als Junge zur Welt kam, gar nicht an sich herangelassen hat. Fotos aus meinen ersten Lebensjahren zeigen mich als Mädchen: Ich wurde entsprechend gekleidet und frisiert, erzogen und behandelt. Und ich selber wusste: Ich sollte eigentlich ein Mädchen sein! Und dann 14 Jahre später dieser Konfirmationsspruch: »Stehet fest im Glauben, seid männlich und seid stark!« (1. Korinther 16, 13-14) Den hatte mein Vater, der mich auch konfirmiert hat, ausgesucht, wohl in Absprache mit meiner Mutter. Ich war darüber nur wütend: Erst sollte ich ein Mädchen sein, dann aber doch ein Mann? Was denn nun? Wer oder was soll ich wirklich sein? Natürlich habe ich mit meinen Eltern darüber nicht gesprochen. Das tat man damals nicht, und bei uns erst recht nicht .
Familie Harsch, Helmut als Mädchen auf Mutters Schoß
Deshalb ist es vielleicht ganz gut, einen Blick zurückzuwerfen auf die kühle Atmosphäre in dieser Familie.
Meine Mutter hatte sich als Christin ganz bewusst vorgenommen, ihre Kinder gleichermaßen anzunehmen und zu lieben. Aber eine andere emotionale Botschaft war für mich deutlich spürbar: Zu mir gab es kein unbedingtes, uneingeschränktes »Ja« - sondern nur ein bedingtes: »Ja, du darfst leben, aber nicht als Mann!«
Das spürte ich zwar jeden Tag, hatte aber davon kein rechtes Bewusstsein, und ich hätte es auch nicht zum Ausdruck bringen können. Ich war vielmehr jahrelang überzeugt davon, ich hätte eine glückliche Kindheit gehabt. Das lag vor allem an der Wärme und Geborgenheit des kleinen, idyllischen Städtchens Calw im Nagoldtal am Ostrand des Schwarzwalds.
Sehr viel später lernte ich die Transaktionsanalyse kennen und erfuhr von Eric Berne. Dem war dieses Phänomen sehr wohl vertraut. Er prägte dafür den Begriff der »frühen Einschärfung« und den der diese korrigierende, späteren »Gegeneinschärfung« und untersuchte und beschrieb die schwerwiegenden Folgen dieser widersprüchlichen Botschaften für das spätere Leben.
Mein Vater war Pastor der Evangelisch-methodistischen Kirche. Schon das war in meiner Kindheit ein Punkt des Leidens, wenn andere Kinder fragten, was das denn sei: Methodisten! Und sie hatten die schlimmsten Vorstellungen von Sekte und Aberglauben oder sonst was. Also stellt sich die Frage, wer oder was diese Methodisten, die einen so seltsamen Namen tragen, eigentlich sind.
Die Methodisten entstanden im 18. Jahrhundert als eine Erweckungsbewegung innerhalb der anglikanischen Kirche in England. Ihr Gründer, John Wesley, betonte die persönliche Bekehrung und die Bedeutung von Glauben und Gnade. Die Methodisten predigten in der Arbeiterklasse und setzten sich für soziale Reformen ein. Sie entwickelten eine starke Gemeinschaft und organisierten sich in kleinen Gruppen, den sog. »Klassen«. John Wesley selbst trennte sich nicht von der anglikanischen Kirche. Die Bewegung breitete sich schnell aus, auch in die USA. Als seine Prediger dorthin gingen, ordinierte er für diese neue Kirche in Übersee einen eigenen Bischof. Dort heißt sie seitdem »bischöfliche Methodistenkirche«, wurde unabhängig und wuchs zu einer der größten protestantischen Denominationen heran. Nach Deutschland kam der Methodismus direkt aus England und aus den USA. Beide Richtungen vereinigten sich 1897 zur »evangelisch-bischöflichen Methodistenkirche in Deutschland«. Heute sind die Methodisten weltweit aktiv und engagieren sich in sozialen Projekten und missionarischer Arbeit.
Laut aktuellen Statistiken (2021) gibt es in Deutschland etwa 60.000 Mitglieder in der Evangelisch-methodistischen Kirche (EMK).
Zu meiner Familie zurück: Sie war also tief im Methodismus verankert. Schon meine Mutter Olga, geb. Rohner, stammte aus einer Pastorenfamilie. Ihr Vater war Schweizer und ihre Mutter stammte ebenso aus der Schweiz. Sie selbst ist aber in Deutschland geboren, und wir haben zu Hause nicht schweizerisch, sondern immer Hochdeutsch gesprochen. Mein Großvater war der älteste Sohn einer Witwe mit noch weiteren Kindern. Und er war sicher von daher schon in seinen Jugendjahren ein sehr besorgter und sorgfältiger junger Mann. Aber dann bekam er den inneren Ruf ins Predigtamt der Methodistenkirche und er ging in ein Seminar in der Schweiz, um sich ausbilden zu lassen. Dabei lernte er ein junges Mädchen namens Louise kennen, aus Rohrschach am Bodensee. Die beiden verliebten sich und beschlossen, gemeinsam nach Deutschland zu gehen. Meine Großmutter Louise lernte Krankenpf lege im Krankenhaus Bethanien, einem methodistischen Krankenhaus in Frankfurt am Main, und mein Großvater Emil ging in das methodistische Predigerseminar, auch in Frankfurt. Und als sie das abgeschlossen hatten, haben sie geheiratet.
Louises Eltern, ihr Vater war Fabrikbesitzer, haben sie in der Folge enterbt, weil der Partner nicht standesgemäß erschien. Daraufhin hat sie von ihrem Mann das Versprechen verlangt, nie wieder in die Schweiz zurückzukehren, sonders als Methodistenpastor in Deutschland zu arbeiten, was sicher eine hohe Zumutung war für alle Beteiligten. Somit wurde meine Mutter in Deutschland geboren, und wir haben deshalb auch immer nur Hochdeutsch zu Hause gesprochen. Sie hat auch einige Jahre das Lyzeum besucht. So konnte sie so etwas wie die Mittlere Reife erreichen. Um gutes Französisch zu lernen, ging sie für ein Jahr in die Schweiz nach Neuchâtel zu einer älteren Dame, wo sie bald an deren Sparsamkeit verhungert wäre. Aber sie hat's durchgehalten und hat perfekt Französisch gelernt - zum Ärger für uns Kinder. Denn wenn unsere Eltern etwas für sich besprechen wollten, dann sprachen sie einfach Französisch. Anschließend war meine Mutter dann als Gouvernante bei einem Professor und dessen Familie in Gießen für die Erziehung der Kinder zuständig. Sie war sehr beliebt in dieser Familie und sogar auch mit im Urlaub in Biarritz an der Biskaya gewesen. Wobei ich mir das schwer vorstellen kann: Meine Mutter am Strand beim Baden!
Schon meine Mutter stammte also aus einer Pastorenfamilie und lebte auch völlig in dem Geist, in den Liedern und den Gebetsformen dieser Familie. Mein Vater kam aus einer Methodistenfamilie in Ludwigshafen am Rhein. Er war der älteste Sohn dieser Familie und arbeitete bei der Firma Merck als Technischer Zeichner. Und als junger Mann bekam er dort den inneren Ruf, Methodisten-Pastor zu werden. Er machte ebenfalls in dem Predigerseminar in Frankfurt am Main seine Ausbildung.
Als mein Vater damit fertig und schon als zweiter Prediger in einer Gemeinde tätig war, hat er in Gießen in einer Versammlung, die er dort abhielt, eine junge Frau gesehen, eben diese Olga. Nun ja, die beiden trafen sich also in einem Gottesdienst in Gießen und meine Mutter hatte, als sie meinen Vater sah, sofort den Eindruck: Das ist der Mann, den ich heiraten werde. Und es kam auch...
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