Schweitzer Fachinformationen
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Die Kirschblüte ist vorbei, Narzissen welken. Weißdornknospen bersten.
Es war ein milder, klammer Aprilabend, als er aus der Stadt floh, aber die Wettervorhersage war gut. Es hatte früher am Tag ein wenig geregnet, und die feuchte Abendluft lockte Tausende unselige Schnecken auf die schmutzigen Londoner Gehsteige.
Er zog seinen uralten Armeemantel an, holte seinen Rucksack hinter der Tür hervor und füllte eine Plastikflasche mit Wasser aus dem Hahn in der Gemeinschaftsküche. Der Rucksack war voller Buttons und Anstecknadeln, drinnen steckten siebzehn zerfledderte Notizbücher, ein paar Kochutensilien und ein kleines Zelt. Sein alter brauner Schlafsack war auf den Rucksack gebunden, und an Gurten hingen verschiedene Kleidungsstücke herab wie Gebetsfahnen.
Er verließ das Hostel und warf den Schlüssel in den Briefkasten. Ging nach Norden. Wenigstens trug er diesmal keine Fußfessel, und er wusste, für die Mobilfunkmasten, an denen er vorbeikam, war er unsichtbar genauso wie für die Satelliten hoch über sich. Nach drei Monaten des Eingesperrtseins loszuziehen gab ihm ein Gefühl, wie ein Flugzeug vom Boden abzuheben, hinauf in die Höhe, weg von aller Erdenschwere.
Wer wollte, konnte in der Zeitung über Jack lesen. Er war bei den Protesten am Greenham Common dabei gewesen, bevor er von den Frauen dort vertrieben wurde. Er gab einem örtlichen Radioreporter in Newbury eine kurze Erklärung, und sein Gesicht ist auch auf Bildern von den Poll-Tax-Krawallen zu erkennen - allerdings ziemlich körnig, da muss man schon wissen, wonach man sucht. Zudem kursierte sein Name unter den zwangsgeräumten Travellern in Dale Farm, wobei es sich da auch um jemand anderen gehandelt haben mag.
Jack war ein Autodidakt und überzeugter Bibliotheksgänger, er wanderte von Stadt zu Stadt, über vergessene Wege und alte Pfade, die niemand mehr benutzte, blieb meist allein und lebte, wenn er konnte, vom Land. Er wurde immer wieder festgenommen, wegen Landstreicherei oder weil er Hasch verkaufte, dann wieder, weil er gegen Bewährungsauflagen verstieß, und so hatte er schon fast überall zwischen Brixton und Northumberland eingesessen, Knasttätowierungen gesammelt und die Vorzüge eines rasierten Schädels und selbstsicheren Auftretens kennengelernt. War er draußen, arbeitete er meist auf Farmen, pflückte Obst und half bei der Ernte. Er mied Städte, schlief unter freiem Himmel und vergaß nach und nach, dass er einmal ein Protestler gewesen war - vielleicht verkörperte er seinen Protest heute auch ganzheitlicher. Geboren war er, wie er sagte, in Canterbury, aber über sein Leben vor der Straße war kaum etwas bekannt.
Jack entfernte sich immer weiter von allem, was dem Rest von uns Halt zu geben scheint, wurde mit jeder Verhaftung sturer, sonderbarer und elliptischer in seinem Denken. Über die Jahrzehnte entwickelte er sich von einem Menschen unserer Zeit zunehmend zu so etwas wie einem flüchtigen Geist des englischen Bauernaufstandes. Oder, zumindest für manche, zu einem Verrückten.
Nicht lange nach der Jahrtausendwende spürte ihn ein wohlwollender Journalist in einem Wald bei Otmoor auf. Aber Jack hatte mittlerweile kaum noch etwas zu erzählen - ganz sicher nicht die große Geschichte von Protest und Ausgrenzung, auf die der Journalist gehofft hatte. Der Mann verbrachte zwei Tage mit Jack, unterbrochen von einer Nacht im Premier Inn, wo eine sehr betrunkene Hochzeitsgesellschaft ihn kaum schlafen ließ, und in seinem Artikel kam Jack am Ende kaum vor.
Fern von den Hauptstraßen war es nachts ruhig. Hier und da sah Jack jemanden mit einem Hund, ein paar Feiernde, Füchse, Taxis. Mitunter nickten ihm aus den Vorgärten Blumen zu, vom Licht der Laternen mit einer einheitlichen Blässe überzogen: Schwertlilien, Tulpen und Pfingstrosen, die ihre Blüten über die Mauern hängen ließen.
Er kam auf die Vauxhall Bridge und blieb einen Moment lang stehen, um hinunterzusehen ins schwarze Wasser voller Schiffsnägel, Tonrohre, zerbrochener Flaschen und Knochen. Kurz wünschte er sich, dass er die Schlüssel mitgenommen hätte, um sie hineinwerfen zu können, als eine Art Opfergabe oder Abschiedsgeschenk - wobei sie, noch bevor der Fluss sie hätte aufnehmen können, von der Dunkelheit verschluckt worden wären. Und von so weit oben hätte er sie auch nicht ins Wasser platschen hören können. Woher diese seltsamen Impulse kamen, war unmöglich zu sagen.
Durch die Stadtmitte zu finden war ein Leichtes. Pimlico war ruhig. Er machte einen Bogen um die geschäftige Victoria Station, und weiter ging es, Green Park hinter einer hohen Mauer zu seiner Rechten. Wie kam es, dass die Namen so viel mehr hermachten als die Straßen oder Straßenkreuzungen, die sie bezeichneten? Belgravia, Park Lane, Marble Arch, Marylebone: Man sollte nicht glauben, dass solche Orte so leicht hinter sich zu lassen waren, aber einer nach dem anderen blieb im Straßengewirr zurück.
In den frühen Morgenstunden machte er an einer Tankstelle in Hendon halt, ging über den erleuchteten Platz an das kleine Fenster vorn und gab einem Mann aus Bangladesch, der durch die schusssichere Scheibe zwischen ihnen umso verletzlicher wirkte, ein paar Münzen. Zwei Jungen und ein Mädchen mit riesigen Pupillen hockten auf dem Bordstein am Rand des Vorplatzes und redeten hastig und abgehackt aufeinander ein. Das Mädchen hatte Glitter an den Schläfen, und einer der Jungen knetete geradezu manisch seine Wange.
Jack aß die Chips und die Schokolade, die er gekauft hatte, und ging weiter. Lange Zeit waren kaum Passanten zu sehen, nur Schichtarbeiter, Taxifahrer und Müllmänner. Er blieb auf derselben nach Norden führenden Route, überquerte Straße um Straße, bog kein einziges Mal ab.
Als es hell wurde, sah er, dass er die Stadt langsam hinter sich brachte. Später, fast schon taub für den Lärm des Berufsverkehrs, kam er an Superstores, Produktionshallen, Fußballfeldern, Golfplätzen und Ödland vorbei. Schließlich, er vernahm vor ihm schon das Dröhnen der M1, machte die Straße zwischen Feldern eine Kurve nach Nordwesten.
Es reichte. Er verließ den Asphalt und durchquerte das Unterholz eines Waldstreifens, in dem sich der sonnengebleichte Müll vieler Jahre gesammelt hatte: Bierdosen, Beutel mit Hundedreck, Chipstüten und Radkappen. Etwa zwanzig Schritte weiter kam er auf ein Stück Grasland, von dem Karnickel flohen. Ihre weißen Stummelschwänze verschwanden hoppelnd zwischen ein paar Bäumen auf der anderen Seite. Er ließ sein Gepäck von der Schulter rutschen, sank zu Boden und lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Eiche.
Er lauschte dem Verkehr hinter sich, spürte, wie eine Brise mit den Haaren auf seinen Armen spielte, und sah langsam die Sonne aus einem fernen Wolkenriff aufsteigen. Da er den Blick nicht gleich abwandte, tanzte und zuckte ein blauer Fleck vor seinen Augen, und er schüttelte den Kopf wie ein Pferd, das eine lästige Fliege loszuwerden versucht, kniff die Augen zusammen und wartete, dass die Störung auf seiner Netzhaut verging. Als er die Augen wieder öffnete, war der Horizont einen Moment lang verschwommen, und das Licht schien sehr hell.
Einfach nur dahin gehen zu dürfen, wo ich sein mag, dachte er. Einfach zu leben, wie es mir beliebt. Ich tu doch weiß Gott keinem was, anders als viele da draußen. Lasst mich also bitte gehen, lasst mich in Ruhe.
Nach einer Weile begann eine Grasmücke, am struppigen Rand des Feldes zu singen, und die Morgensonne trocknete den Tau auf dem Gras. Jack nahm sein Bündel und sah sich nach einem Schlafplatz um.
Das Feld war öde und nichtssagend, ein trapezförmiges Stück Land mit verwilderten Hecken an den Seiten. Hier hatte schon lange kein Tier mehr gegrast und keine Mähmaschine mehr ihre Runden gedreht. Schösslinge - Eichengebüsch, Ahorn und Eschen - stahlen sich langsam vor. Es gab keinen Pfad, nur Spuren von Karnickeln und Füchsen, und auch keinen besonderen Blickfang, keine Orchideen oder seltenen Schmetterlinge. Aber im Sommer schäumte Mädesüß in den Ecken, und im Herbst sprossen Pilze wie blasse goldene Eier aus dem Boden.
Jack entschied sich für eine Stelle bei einer Hecke weit weg von der Straße, rollte seine Matte aus und holte ein Sandwich und eine Cola aus dem Rucksack, seinen letzten gekauften Proviant. Zum Essen setzte er sich mit dem Rücken zur Stadt.
Es war immer noch möglich, Arbeit auf dem Land zu finden, fast das ganze Jahr über. Das Narzissenpflücken begann im Februar, und die Bauern suchten oft Hilfe in der Ablammzeit. Im Sommer galt es, Heu zu machen und Obst zu pflücken, sosehr er die Folientunnel mit ihrer stickigen, abgestandenen Luft hasste. Im September gab es Arbeit bei der Apfelernte, und später beim Weihnachtsbaumschlagen. Einmal hatte er fast den ganzen Dezember mit dem Flechten von Stechpalmenkränzen zugebracht. Aber die Feldarbeit mochte er am liebsten, und jetzt war Frühling, fast schon Spargelsaison. Er dachte an die Farmen, die er kannte und auf denen man ihn kannte. Er wollte den Kopf unten halten und keine Papiere unterzeichnen, was die Möglichkeiten etwas einschränkte.
Im Januar war er in Devon aufgebrochen und grob nach Nordosten gewandert. Nach London hatte er gar nicht gewollt, aber die Festnahme und Verurteilung - weil er auf Privatbesitz gewandert war, dabei wollte er doch nur einen alten Feldweg zwischen zwei Dörfern nehmen - hatten ihn vom Kurs abgebracht.
Jetzt beschloss er, die alte Römerstraße hinaus aufs Land zu nehmen. Sie würde ihn nach Norden zu einem kleinen Dorf namens Lodeshill bringen, in dem es vier Farmen mit Spargelbeeten gab. Eine von ihnen hatte er gelobt, nie wieder zu betreten, doch er war sich sicher, dass ihn eine der anderen für ein paar Wochen...
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