Schweitzer Fachinformationen
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In den darauffolgenden Tagen arbeitete Manfred jede wache Minute, um die Zeit aufzuholen, die er durch den Umzug verloren hatte. Er hatte keine Ahnung, warum er den Drang verspürte, so hart zu arbeiten, doch als ihm schließlich klar wurde, dass er sich wie ein Eichhörnchen vor dem herannahenden Winter verhielt, legte er noch einen Zahn zu. Schließlich wusste er, dass es sich lohnte, derartige Warnungen ernst zu nehmen.
Nachdem er vollkommen in seiner Arbeit aufging und sich außerdem selbst das Versprechen gegeben hatte, jeden Abend drei Kartons auszupacken, hatte er nach dem ersten Mittagessen mit Bobo, Joe und Chuy keinen Kontakt mehr zu den anderen Bewohnern Midnights gehabt.
Er war allerdings einige Male nach Davy gefahren, um einzukaufen. Davy war eine staubige Verwaltungsstadt, die in etwa genauso schmucklos und karg war wie Midnight, in der aber um einiges mehr los war. In Davy gab es einen See, der vom Río Roca Fría gespeist wurde, einem trägen, schmalen Fluss, der etwa drei Kilometer nördlich des Pfandleihhauses von Nordwesten nach Südosten floss. Früher war der Fluss sehr viel breiter gewesen, und seine Ufer deuteten immer noch darauf hin. Mittlerweile fielen sie auf beiden Seiten mehrere Meter tief ab und bildeten so einen mehr als dramatischen Rahmen für das Wasser, das träge über die runden Steine im Flussbett floss.
Nördlich des Pfandleihhauses schrieb der Fluss eine Kurve und umschloss die Westseite Davys, bevor er sich zu einem See verbreiterte. Ein See bedeutete Badegäste, Bootsfahrer, Angler und Ferienhäuser, und daher herrschte in Davy das ganze Jahr über an den Wochenenden reges Treiben, und im Sommer auch unter der Woche. Das hatte Manfred zumindest in seinem Reiseführer über Texas gelesen.
Manfred hatte sich selbst das Versprechen gegeben, zum Roca Fría zu wandern und dort zu picknicken, sobald er das Gefühl hatte, sich ein paar Stunden freinehmen zu können. Laut seinem Reiseführer (und Bobo) konnte er sich auf einen angenehmen Ausflug freuen. Er hatte gelesen, dass man im Sommer im seichten Wasser des Flusses waten und sogar auf den Sandbänken picknicken konnte. Und das klang tatsächlich ziemlich cool.
Am Sonntagnachmittag rief Manfreds Mutter Rain an. Als er ihren Namen auf dem Display sah, wurde ihm bewusst, dass er ihren Anruf eigentlich hätte erwarten sollen.
»Hallo, Junge«, meinte sie fröhlich. »Wie gefällt es dir in deinem neuen Zuhause?«
»Gut, Mom. Ich habe beinahe alles ausgepackt«, erwiderte Manfred und sah sich um. Zu seiner Überraschung stimmte es sogar.
»Hast du deine Computer bereits aufgebaut und zum Laufen gebracht?«, fragte sie, als wollte sie sagen: »Hast du deine Transmogrifizierer schon eingerichtet?« Da war ständig diese kaum verhohlene Ehrfurcht. Obwohl Manfred mit Sicherheit wusste, dass Rain jeden Tag bei der Arbeit einen Computer benutzte, war seine Mutter der Meinung, seine Arbeit im Internet wäre hoch spezialisiert und kompliziert.
»Ja, alles bestens«, erwiderte er. »Geht es dir gut?«
»Ja, im Job läuft es ganz gut.« Eine Pause. »Und ich treffe mich immer noch mit Gary.«
»Das ist gut, Mom. Du brauchst jemanden.«
»Ich vermisse dich noch immer«, meinte sie plötzlich. »Ich meine, ich weiß, dass du schon eine Zeit lang fort bist . aber trotzdem.«
»Ich habe die letzten fünf Jahre bei Xylda gewohnt«, erwiderte Manfred emotionslos. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du mich noch immer wahnsinnig vermisst.« Er trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. Natürlich wusste er, dass er viel zu ungeduldig war, was die sentimentalen Ausbrüche seiner Mutter betraf, aber das hier war ein Gespräch, das sie schon mehr als einmal geführt hatten - und es hatte ihm schon beim ersten Mal nicht gefallen.
»Du wolltest zu ihr ziehen. Du meintest, sie würde dich brauchen!«, rief seine Mutter. Ihre verletzten Gefühle lauerten stets direkt unter der Oberfläche.
»Das hat sie auch. Mehr als du. Ich war seltsam, sie war seltsam. Ich dachte, es würde dir besser passen, wenn ich bei ihr wohne.«
Dann folgte ein langes Schweigen, und Manfred war versucht, einfach aufzulegen. Aber er wartete. Er liebte seine Mutter. Es war nur manchmal schwer, sich diese Tatsache in Erinnerung zu rufen.
»Ich verstehe«, meinte sie schließlich. Sie klang müde und resigniert. »Okay, dann ruf mich in einer Woche wieder an. Damit ich weiß, dass alles in Ordnung ist.«
»Wird gemacht«, erwiderte er erleichtert. »Bye, Mom. Mach's gut.« Manfred legte auf und machte sich wieder an die Arbeit. Er war froh, eine weitere E-Mail beantworten zu können. Die E-Mail einer Frau, die überzeugt war, dass er eine besondere Gabe hatte und außerdem zu einem eigenen Urteil fähig war. Einer Frau, die ihm nicht bis in alle Ewigkeit Vorwürfe machen würde, weil er das Naheliegendste getan hatte. In seinem Job war er beinahe allmächtig - er wurde ernst genommen, und seine Worte wurden kaum infrage gestellt.
Das echte Leben unterschied sich vollkommen von seinem Job - und nicht immer auf gute Art. Manfred zupfte gedankenverloren an seinem linken Ohr, in dem sich die meisten Piercings befanden. Es war seltsam, dass er selten Visionen hatte, in denen seine Mutter vorkam. Und noch seltsamer, dass es ihm bis jetzt nicht aufgefallen war. Das war vermutlich eine wichtige Erkenntnis, und er sollte ein wenig Zeit darauf verwenden, darüber nachzudenken. Aber nicht heute.
Heute musste er Geld verdienen.
Nachdem er eine weitere Stunde an seinem Schreibtisch verbracht hatte, erkannte Manfred, dass er Hunger hatte. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, als er sich fragte, was wohl heute Abend im Diner auf dem Menüplan stand. Er hatte sich das Schild angesehen und wusste, dass es auch sonntags geöffnet hatte. Ja, es wurde Zeit, mal essen zu gehen.
Er verschloss die Haustür hinter sich und fragte sich im selben Moment, ob er wohl der Einzige in Midnight war, der Türen versperrte.
Bevor er sich zur Abwechslung ein Essen gönnen konnte, das er nicht selbst gekocht hatte, musste er jedoch noch seine sozialen Pflichten erfüllen. An der Witch Light Road sah er zuerst nach links und rechts (und es kam wie üblich kein einziges Auto), bevor er die Straße überquerte und zu Fijis Haus ging. Er hatte ihren rosafarbenen, geblümten Teller und den Krug aus durchsichtigem Plastik gewaschen und seitdem immer wieder schuldbewusst beäugt. Die Plätzchen und die Limonade hatten ihm geschmeckt, und das Mindeste, was er tun konnte, war, die Straße zu überqueren und Fiji ihr Geschirr zurückzubringen.
Am vorangegangenen Donnerstagabend hatte er eine Arbeitspause eingelegt, um die kleine Gruppe von Frauen zu beobachten, die zu Fijis »Selbstfindungsabend« kamen. Manfred erkannte in ihnen seinen eigenen Kundenkreis wieder: Frauen, die ihr eintöniges Leben nicht mehr befriedigte; Frauen, die sich nach Macht und Abgrenzung sehnten. Es war nichts Falsches daran, nach diesen Dingen zu suchen - tatsächlich verdiente er sein Geld mit Menschen, die nach mehr als Eintönigkeit strebten -, aber Manfred bezweifelte, dass eine dieser Frauen die Gabe hatte, die er in Fiji gespürt hatte, als er die Tür geöffnet hatte und sie in Jeans und einer weiten bestickten Bluse mit einem Teller in der linken und einem Krug in der rechten Hand vor ihm gestanden hatte.
Fiji entsprach nicht dem, was er als seinen »Typ« bezeichnete. Es machte ihm zwar absolut nichts aus, dass sie älter war als er - tatsächlich passte ihm das generell sogar sehr gut -, aber Fiji war zu kurvig und weich. Manfred neigte dazu, sich eher in harte, sportliche Frauen zu verlieben - taffe Bräute eben. Trotzdem wusste er das Zuhause zu schätzen, das Fiji sich selbst erschaffen hatte. Je näher man dem Häuschen mit der Ziegelfassade kam, desto bezaubernder wurde es. Er bewunderte die Blumen, die noch immer aus den Töpfen und Fässern in Fijis Vorgarten wucherten, obwohl es bereits Ende September war. Ihr rot getigerter Kater Mr. Snuggly posierte formschön unter einer Glanzmispel. Selbst die unregelmäßigen Pflastersteine, die zur Veranda führten, schienen kunstvoll angeordnet.
Manfred klopfte, da Fijis Laden am Sonntag geschlossen hatte.
»Komm rein!«, rief sie. »Es ist offen.«
Die Glocke über der Tür klingelte sanft, und ein ungebändigter Haarschopf tauchte über dem Ladentisch auf.
»Hallo Nachbarin«, sagte er. »Ich bringe dir deine Sachen wieder. Danke noch mal für die Plätzchen und die Limo.« Er streckte den Teller und den Krug von sich, als müsste er beweisen, dass er mit guten Absichten gekommen war. Dabei versuchte er, nicht zu offensichtlich auf die Regale im Laden zu starren, deren Inhalt seiner Meinung nach absoluter Schrott war: Bücher über das Übernatürliche, Geistergeschichten und Anleitungen zum Kartenlegen und zur Traumdeutung. Von der Decke hingen zahllose Windspiele und Traumfänger, und außerdem entdeckte er noch zwei Stößel mit dazugehöriger Schale, die eigentlich ziemlich hübsch waren, einige Ratgeber über Kräuter und Gartenbau sowie vermeintliche Zeremonienmesser, Tarotkarten, Hexenbretter und andere Ausrüstungsgegenstände für New-Age-Okkultisten.
Im Gegensatz dazu gefielen Manfred die beiden bequemen geblümten Lehnstühle, die einander in der Mitte des Raumes gegenüberstanden und zwischen denen ein kleiner Tisch mit mehreren Magazinen stand. Fiji erhob sich, und sein Blick fiel auf ihr gerötetes Gesicht. Man musste kein Hellseher sein, um zu wissen, dass sie sich gerade über etwas geärgert hatte.
»Was ist denn los?«, fragte...
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