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2. Kapitel - Ginny
Ein beachtlicher Teil ihrer Zukunft hing an dem Zucken eines Augenlides.
Ginny Rose faltete die Hände im Schoß. In dem kleinen Büro, in dem sie Reginald Brown gegenübersaß, war es trotz der kühlen Maitemperaturen draußen stickig. Ein kleiner Schweißtropfen rann ihr über die Schläfe. Vielleicht hätte sie ihre langen braunen Haare zu einem Knoten hochstecken sollen, wie ihre Mutter es getan hätte. Aber wenn möglich vermied sie es mittlerweile, irgendetwas so zu machen wie Mariah Bentley.
Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte, wie professionell und erwachsen sie aussah. Zwar hatten die Menschen in Port Willis sie vor fünf Jahren als eine der Ihren aufgenommen, als sie Garrett Rose von Amerika nach Cornwall gefolgt war, aber dies war eine Kleinstadt. Mr Brown kannte ihre Situation, egal, wie positiv sie die Lage darzustellen versuchte.
Er räusperte sich, während er ihren Kreditantrag studierte, den er vor sich liegen hatte. »Es tut mir leid, dass ich nicht die Gelegenheit hatte, den Antrag früher zu prüfen. Meine Sekretärin hat Sie aus Kulanz noch in letzter Minute dazwischengeschoben.«
»Das verstehe ich. Und danke. Noch mal.«
Seine langen knochigen Finger trommelten auf dem Rand des mehrseitigen Dokuments, dann rückte er seine Brille zurecht und seine nach unten gerichteten Mundwinkel verzogen sich zu einem kritischen Ausdruck.
Hauptsache, sein Lid zuckte nicht. Ihrem Schwager William zufolge - der hier aufgewachsen war und Mr Brown schon sein Leben lang kannte - konnte sie einpacken, wenn das geschah. Und an diese Möglichkeit wollte sie nicht einmal denken. Wie sollte Rosebud Books ohne diesen Kredit überleben?
Obwohl die eigentliche Frage lauten sollte, wie es überhaupt zu der Misere hatte kommen können. Wie viel davon war ihre eigene Schuld - und wie viel ging auf Garretts Konto? Er war immer für die Finanzen zuständig gewesen, trotz der Wirtschaftskurse, die Ginny drei Jahre lang absolviert hatte, bevor sie Harvard verlassen hatte. Zahlen waren noch nie ihre Leidenschaft gewesen, deshalb hatte sie überhaupt nichts dagegen gehabt, diesen Organisationsbereich der Buchhandlung ihm zu überlassen. Vielleicht war das ein Fehler gewesen. Oder vielleicht hatte sie in den sechs Monaten, die er bereits fort war, einfach zu viel ausgegeben.
Wie peinlich ihren Eltern das wäre, wenn sie davon wüssten. Nicht, dass sie überhaupt etwas hätte tun können, um sie noch mehr zu »demütigen«, wie ihre Mom es formulierte. Sie hatte sich längst entschieden, die Dinge anders zu machen als ihre Geschwister Sarah und Benjamin, die in die Fußstapfen ihrer Eltern getreten waren - sie als gut verdienende Anwältin, er als Vizepräsident einer Tochtergesellschaft des väterlichen Unternehmens.
Ginny hatte unbewusst mit dem Bein zu wippen begonnen. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem Panoramafenster hinter Mr Brown zu. Von hier aus konnte sie die High Street sehen. Die vorhin noch ruhige Hauptstraße war jetzt von dem geschäftigen Neun-Uhr-Treiben erfasst worden. Nebenan schlug das urige Holzschild der Bäckerei gegen die geweißte Verkleidung. Offenbar zog mal wieder ein Wind von den Klippen herauf. Sie stellte sich vor, wie er durch die schmalen Gassen pfiff.
Das Schweigen wurde allmählich so drückend wie die Luft in diesem Büro.
»Mr Trengrouse hat heute etwas Neues gebacken.« Ginny konnte die Worte einfach nicht zurückhalten. Sie brachen aus ihr heraus, als hätte sich ihre Zunge verselbständigt. »Eine Art Rosinencroissant mit Zuckerguss. Ich kann nach nebenan gehen und Ihnen eins holen, wenn Sie möchten.«
Die Antwort bestand in einer hochgezogenen Braue. Aber kein Augenlidzucken. Noch nicht. »Nein danke, Mrs Rose. Ich brauche nichts.« Mr Brown widmete sich wieder ihrem Antrag.
Das Dokument wirkte auf Ginny irgendwie verletzlich, wie es dort strahlend weiß auf dem dunklen Braun seines Schreibtischs lag, den sie als einen Huntington identifizierte. Ihr Vater hatte in seinem Arbeitszimmer in Boston so einen.
Die Geschäfte der Bank mussten angesichts der jüngsten Rezession in Port Willis und vielen anderen Dörfern an der Nordküste Cornwalls gut laufen. Sie konnte unmöglich die einzige Geschäftsinhaberin sein, die dringend einen Kredit brauchte. Aber vielleicht war sie die Einzige, die so dumm war, nicht aufzugeben, obwohl die Lage praktisch aussichtslos war.
Ginny strich über den Saum des Shirts, das sie unter ihrem Blazer trug, ein Geschenk ihrer Mutter, das seinen Weg in den Koffer gefunden hatte, als sie Garrett in diese winzige Stadt gefolgt war. Eine Falte in dem dunkelgrünen Stoff war geblieben, obwohl sie schon dreimal versucht hatte, sie wegzubügeln. Ihre Mutter hätte das Haus nie in einem solchen »Zustand der Unordnung« verlassen.
Ginnys Bein wippte immer schneller, und als ihr Knie an die Schreibtischkante stieß, unterdrückte sie ein Stöhnen.
Mr Brown sah sie an. »Ist alles in Ordnung, Mrs Rose?«
Sie hatte das Gefühl, dass er nicht nur nach ihrem Knie fragte.
»Ja, alles gut.« Ginnys Grinsen geriet wahrscheinlich eher zu einer Grimasse. »Ich bin nur besorgt, wie Ihr Urteil ausfällt.«
»Ich bin doch kein Richter.«
War ihm nicht klar, dass er genau das war? Sein Ja oder Nein hatte nicht nur Folgen für Ginny. Immerhin war es auch Garretts Buchhandlung - ihr gemeinsamer Traum. Na ja, eigentlich eher seiner, aber sie hatte sich ganz in die Sache hineingestürzt und der Laden war ihr gemeinsames Baby geworden, was ein Segen war, weil sie noch keine eigenen Kinder hatten bekommen können.
Wenn sie die Buchhandlung aufgab, was sagte das dann über den Zustand ihrer Ehe aus? Garrett hatte um etwas Zeit zum Nachdenken gebeten, und wenn er aus London zurückkam, bereit, an ihrer Seite nach vorn zu sehen, würde er nicht begeistert sein, wenn sie in der Zwischenzeit ihren gemeinsamen Traum hatte sterben lassen.
Natürlich wäre es hilfreich gewesen, wenn er nicht die Hälfte ihrer Konten leer geräumt hätte, bevor er gegangen war. Aber er würde einsehen, dass das ein Fehler gewesen war. Das musste er. Ihre Mutter konnte nicht recht haben, was ihn betraf.
»Hm.« Mr Browns tiefes Brummen zerkratzte die Stille im Raum.
Endlich nahm er seine Brille ab und seufzte. »Mrs Rose, wieso glauben Sie, dass dieser Kredit Sie weiterbringen würde? Ja, er könnte kurzfristig einige Ihrer Kosten decken, aber wie sieht Ihr langfristiger Plan für die Sanierung Ihres Unternehmens aus? Ich weiß, dass Sie die Unterlagen hier eingereicht haben, aber ich möchte es von Ihnen selbst hören.«
»Ich habe mir überlegt, wie ich zusätzlichen Gewinn machen und Schwung für einen zukünftigen Erfolg holen kann.« Sie skizzierte ihre Ideen, was leider nicht sehr lange dauerte. »Ich brauche nur eine kleine Starthilfe«, schloss sie. »Ein bisschen Spielraum, um die Wirtschaftsflaute zu überstehen, die uns alle getroffen hat. Ich habe mir die Zahlen angesehen und bin zuversichtlich, dass wir durch die zusätzlichen Einkünfte aus den geplanten Veränderungen den Kredit in Rekordzeit zurückzahlen können.«
Sie glaubte es beinahe selbst.
Mr Brown faltete die Hände auf dem Schreibtisch und beugte sich vor. Sein Stuhl quietschte bei der Bewegung. »Ich bin nicht sicher, was für Zahlen Sie durchgegangen sind, um zu diesem Schluss zu gelangen, aber ich muss die Fakten betrachten, die mir vorliegen.«
Sein rechtes Lid - war das das Zucken? Ginny unterdrückte ein Stöhnen.
»Den Unterlagen zufolge sind die Gewinne von Rosebud Books in den letzten sechs Monaten drastisch zurückgegangen. Das ist sicher teilweise eine Folge davon, dass Port Willis in letzter Zeit weniger Touristen zu verzeichnen hat, aber .«
Oh, das war eindeutig ein Zucken.
Ginny drückte ihren Rücken gegen die Stuhllehne. »Aber was?«
»Nun, meine Liebe, der Zeitraum entspricht dem, in dem Sie die Buchhandlung allein geführt haben.«
Sie stöhnte innerlich auf. »Er kommt zurück.«
Hatte sie diese Worte wirklich laut ausgesprochen? Sie wünschte, sie könnte sich unter dem Tisch verstecken, im Erdboden versinken, sich mit einem Zauberwort in Luft auflösen. Nur weg hier, egal wie. »Ich meine, selbstverständlich war ich etwas . überrascht von den Umständen, in denen ich mich plötzlich wiedergefunden habe. Aber ich weiß, dass ein Kredit genau das ist, was ich brauche, um weitermachen zu können.«
Mensch, klang das verzweifelt! Dieser Mann hatte keinen Grund, ihr zu helfen. Obwohl sie seit fünf Jahren in dieser Stadt lebte, hielten manche Leute sie zurzeit merklich auf Abstand, nachdem Garrett vorübergehend nach London gezogen war. Immerhin war er der Liebling des Orts und natürlich zog manch einer die Schlussfolgerung, dass sie ihn in die Flucht geschlagen hatte. Vielleicht gehörte Mr Brown zu diesen Personen.
»Hören Sie.« Mr Browns graue Augenbrauen zogen sich zusammen und er sog die Unterlippe ein wenig ein. Mehr brachte er an mitfühlendem Ausdruck nicht zustande. »Ich weiß, dass es für Sie nicht leicht ist. Aber ich führe ein Unternehmen und kann kein Geld verschenken. Ich fürchte, ich kann Ihnen diesen Kredit nicht geben.«
Das Stöhnen entwich Ginnys Lippen; es hörte sich roh und erbärmlich und peinlich an. »Was kann ich sagen, damit Sie Ihre Meinung ändern?«
Mr Browns Lid zuckte schneller. Aber Moment mal . zuckte das linke jetzt auch noch? Das war schlecht. Ganz schlecht.
»Es tut mir leid, Mrs Rose. Ich habe mich entschieden. Vielleicht sollten Sie aufgeben und nach Hause zurückgehen, wo Sie...
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