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Die Wurzeln der christlich-abendländischen Kultur sind, wie die aller Hochkulturen, in den älteren, schon ausgebrannten benachbarten Kulturen zu finden. Von dort übernommene Elemente werden mit ganz neuen Augen gesehen und umgeformt, sie werden zum völlig neuen echten geistigen Besitz der jungen aufstrebenden Kräfte. Ich möchte, soweit dies möglich ist, alle Randgebiete ausklammern und mich jetzt ausschließlich mit der abendländischen Musik befassen, mit ihrem Ursprung, ihrer Besonderheit und mit ihrer jahrhundertelangen vielen Wechselbeziehung zu asiatischen und afrikanischen Kulturen.
Das Besondere, Einmalige, was die abendländische Musik von jeder anderen Musik auch der hochstehendsten Kulturen unterscheidet, ist die Mehrstimmigkeit. Auch die reich instrumentierten chinesischen, japanischen, indischen Instrumentalwerke, so bunt und vielfältig sie klingen mögen, sind im Grunde einstimmig. Alle Stimmen bewegen sich parallel zur Melodie in Oktaven, manchmal auch in anderen Intervallen; eine scheinbare Mehrstimmigkeit entsteht manchmal dadurch, daß manche Musiker die Melodie nur ganz einfach wiedergeben, andere mit anderen Instrumenten dieselbe Melodie zugleich reich verziert ausführen, das ändert aber nichts an der Tatsache, daß es sich eben nur um einstimmige Musik handelt.
Wieso es gerade in Europa, wahrscheinlich in irgendeinem spanischen oder französischen Kloster des 11. Jahrhunderts dazu kam, daß mehrere Musiker ganz verschiedene Stimmen zugleich musizierten - verschiedene Stimmen, die aber durch ein kompliziertes Ordnungssystem in eine geistig und gehörmäßig erfaßbare Beziehung zueinander gebracht werden mußten -, das wird wohl für alle Zeiten ungeklärt sein, ist aber nichtsdestoweniger eine unvorstellbare geistig-künstlerische Leistung. - Ich kann mir vorstellen, daß diese Andersartigkeit gegenüber allen anderen Kulturen ihre tiefste Wurzel im christlichen Gottesbegriff hat, der sich von allen anderen ganz wesentlich unterscheidet. Der persönliche, aber allgegenwärtige Gott, der dreifaltige Gott, der Gottessohn Christus, der barmherzige und liebende Gott - diese Durchdringung des gesamten Lebens mit diesem Gottesbegriff kann in der abstraktesten aller Künste ihren Ausdruck gefunden haben, in der Aufspaltung des bisher nur in zwei Dimensionen, in Tonhöhe und Zeit bestehenden Klanges in die dritte Dimension der Vielstimmigkeit. Alles, was Odem hat, lobet den Herrn. Ich kann mir vorstellen, daß das erste Erlebnis der Vielstimmigkeit einen religiösen Rausch ausgelöst haben kann oder auch einer Ekstase entsprungen ist.
Was war nun das musikalische Material, das die unverbrauchten Kräfte der Mitteleuropäer am Beginn der christlich-abendländischen Kultur vorfanden? Einmal auf kirchlichem Boden der Choralgesang. Der frühchristliche Choralgesang ist keine christliche Neuschöpfung. Viele Quellen, besonders der hebräische Tempelgesang, aber auch griechische, strömten hier zusammen. An den verschiedenen Hauptkirchen entstanden verschiedene Schulen und Singweisen, bis nach den Reformen Papst Gregors des Großen der römische Choralgesang für die ganze Kirche verbindlich wurde. Nun ist ein wesentliches Element des Choralgesanges, auch des gregorianischen, wohl für alle Zeiten in Vergessenheit geraten: nämlich der Rhythmus. Das liegt an der äußerst ungenauen Aufzeichnung durch die frühen Notenzeichen, die keinen Rhythmus ausdrücken. So vererbt sich die rhythmische Singweise von einer Generation auf die andere, bis sie schließlich in Vergessenheit geriet. Alle heute praktizierten Arten, gregorianischen Choral zu singen, basieren, was den Rhythmus betrifft, auf Hypothesen.
Als aber, inspiriert von der Melodik des Chorals, die Mehrstimmigkeit geschaffen worden war, mußte man die Notation reformieren und genauer festlegen, da ja die Gleichzeitigkeit mehrerer Stimmen einen genauen zeitlichen Ablauf erfordert. - Und die hier fast plötzlich auftretenden Rhythmen waren von einer Kompliziertheit und einer Raffinesse, daß es einem schwerfällt, sich hier eine völlige Neuschöpfung vorzustellen ohne Vorbilder, ohne Tradition. - Und diese Tradition wird wohl im zweiten Hauptgebiet der Musik liegen, in der weltlichen Musik, was damals gleichbedeutend war mit Tanzmusik. So groß und befruchtend immer wieder der Einfluß dieser niedrigen Musik auf die hohe Kunstmusik war, so waren doch, beinahe das ganze Mittelalter hindurch, diese Musiker, die übrigens nach den Beschreibungen in der damaligen Literatur über ein enormes Können verfügt haben müssen, gesellschaftlich und religiös geächtet. Sie waren im Kirchenbann, hatten keine rechtlichen Möglichkeiten, waren also vogelfrei. - Das dürfte wohl seinen Grund darin haben, daß wenigstens anfangs ein Großteil dieser Musiker, Gaukler, Feuerfresser und was sie nicht alles gewesen sein mochten, Asiaten und Afrikaner und gar keine Christen waren. Das ist auch die plausibelste Erklärung für die Tatsache, daß sämtliche abendländischen Musikinstrumente orientalischen oder maurischen Ursprungs sind.
Was diese Musiker mit ihren Lauten, Flöten, Fiedeln, Trommeln und anderen Instrumenten spielten, wissen wir nicht. Diese Melodien vererbten sich von einem auf den anderen und wurden niemals aufgezeichnet - einmal, weil diese Musiker über keine Notenschrift verfügten, aber auch, weil das dem improvisatorischen Charakter dieser Musik widerspricht. Eine Ahnung von dieser Musik kann uns vielleicht heute noch die Volksmusik in Katalonien, in Nordafrika, in Ägypten, in Kleinasien oder auf dem Balkan geben. Der jahrhundertelange kulturelle Stillstand in diesen Ländern hat gewisse Formen des Lebens, besonders aber die Musik und die Musikinstrumente in völlig unveränderter Form erhalten. So kann man dort heute die Urformen der abendländischen Musikinstrumente ebenso studieren wie die Urformen so mancher musikalischer Praktiken. - Jedenfalls kann man mit Sicherheit annehmen, daß die einstimmigen Tänze, die die wandernden Gaukler im Mittelalter spielten und zu denen sie ihre grotesken Tänze machten, rhythmisch ebenso raffiniert und synkopenreich waren, wie es heute die nordafrikanischen und kleinasiatischen Tänze sind und wie es auch die frühe mehrstimmige Musik ist. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß für die mehrstimmige Musik von Anfang an Instrumente herangezogen wurden, während das beim Choralgesang nicht der Fall war.
Eine der radikalsten Umwälzungen in der Musikgeschichte vollzog sich um 1600. Hier wurde plötzlich die geheiligte Ordnung der abendländischen Musik durch einen bizarren Kreis von einflußreichen Altertumsforschern oder, besser gesagt, vermeintlichen Altertumserneuerern in Frage gestellt. Bis dahin war die geistliche und weltliche Musik, waren die Motetten und Madrigale prinzipiell mehrstimmig, gelegentlich homophon, in der Hauptsache aber polyphon in durch imitierendem kontrapunktischen Stil geschrieben. Der Text war meist unverständlich, weil die Worte von den verschiedenen Stimmen nicht gleichzeitig erklangen. Er war auch keineswegs die Hauptsache; das eigentliche Kunstwerk war die raffinierte Relation der einzelnen selbständigen Stimmen zueinander, das komplizierte polyphone Gebilde.
Nun wurde plötzlich, von einem primär historisch orientierten Kreis in Florenz, der »Camerata« der Grafen Bardi und Corsi, behauptet, man habe die einzig wahre Musik entdeckt. Das griechische Drama, Zentrum der »Forschungsarbeit« jenes Kreises, sei im Altertum melodramatisch, gesungen, aufgeführt worden, und weil ja alles, was die alten Griechen kulturell gemacht hatten, als unübertreffbares Vorbild betrachtet wurde, behauptete man radikal, das »Melodramma«, die Monodie, sei die einzig richtige Musik. Doch damit nicht genug, man stellte sofort strenge Regeln auf (etwa Caccinis »Le Nuove Musiche«), nach denen einzig die Poesie Herrin der Musik sei, nach denen nur bestimmte Texte - die den klassischen Dramen und Hirtenspielen nachgebildet waren - würdig zur Komposition waren, und schließlich verdammte man die gesamte damals gültige polyphone Musik als barbarisch und textzerstörend. Im ganzen war es die radikale Zerstörung dessen, was man bis dahin Musik nannte - vergleichbar, aber noch viel radikaler, der Auslöschung der Tonalität durch die Zwölftonmusik Schönbergs im 20. Jahrhundert.
Heute muß es uns aufs höchste erstaunen, wie man eine hochentwickelte, reiche und in höchster Blüte stehende Musik, wie es die Madrigal- und Motettenkunst damals war, einfach wegwerfen, zerstören wollte, um das Phantom des rezitierenden Gesanges als einzig wahre Musik zu etablieren. Die Propagandaschriften der Camerata und ihrer bald zahlreichen Anhänger zeigen uns, mit welch revolutionärem Elan man am Werk war. Die Dogmen der neuen Richtung waren bei weitem strenger als die strengsten Regeln des traditionellen Kontrapunktes. Die »Neue Musik« sei prinzipiell einstimmig, die Sprachmelodie bestimme das...
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