Schweitzer Fachinformationen
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Shepherd's Bush
Freitag, 7.48 Uhr
Draußen ist die Luft kalt und klar - diese grässliche Zeit Mitte November, in der die Uhren bereits zurückgestellt sind, die Weihnachtsfeiern aber noch in weiter Ferne liegen.
Dylan rennt vor mir her aus der Haustür. Sein Rucksack schlackert locker von seiner Schulter. Unser Nachbar, Mr. Foster - der oben erwähnte Aluminiumdoku-Fanboy -, steht vor seinem Reihenhaus und sortiert Konservengläser in die entsprechende Tone. Dylan winkt aufgeregt. Ich winde mich innerlich. Dass ein sechsundsiebzigjähriger Recyclingprediger derzeit der beste Freund meines Sohnes ist, gefällt mir nicht. Und noch viel weniger gefällt mir, dass er Heimchen züchtet, damit Dylan seine Schildkröte füttern kann. Aber dieses Thema muss warten.
»Ach, Florence?«, ruft Mr. Foster, der von seiner Glassammlung aufblickt. »Haben Sie schon gesehen, dass .«
»Wir haben es leider ein bisschen eilig«, rufe ich über die Schulter, ohne dabei langsamer zu werden. Wenn Dylan den Bus verpasst, ist die Hölle los.
Grummelnd wendet Mr. Foster sich wieder seinen Mülltonnen zu. »Natürlich. Lassen Sie sich nicht aufhalten.«
Aus unserem Lieblingshähnchengrill und den Wettbüros werden nach und nach Biometzgereien und Biovinotheken - wir nähern uns Dylans Schule. Dylan und ich laufen an den weißen Prachtbauten vorbei, in denen die usbekische Botschaft und Familie Beckham residieren. Dylans Schule liegt nur ein paar Straßenzüge weiter in einer schmalen Sackgasse.
Die St. Angeles ist seit einhundertfünfzig Jahren Privatschule für Jungen und in einem großen viktorianischen Stadtpalais untergebracht, das direkt aus einem Dickens-Roman stammen könnte. Das einzige Zugeständnis an die Moderne ist die Eingangstür, die vor einigen Jahren überstürzt und unpassend fröhlich blau lackiert wurde, als eine Kapitalgesellschaft die Immobilie übernahm und ins 21. Jahrhundert überführen wollte.
Das Abliefern der Kinder morgens vor der Schule folgt einer Choreografie, die an Präzision einer nordkoreanischen Militärparade gleicht. Müttertaxis sind streng verboten, was dazu führt, dass sich sämtliche Eltern - egal, wie schwer beschäftigt und wichtig sie sind - ein paar Straßen weiter um Parkplätze streiten, nur um anschließend wie Pilger nach Mekka zu Fuß auf das hohe schmiedeeiserne Tor zuzuströmen.
Ein Stück vor uns zieht die Prozession bereits um den Block. Wir sind spät dran, allerdings nicht zu spät. Dylan schafft seinen Bus noch und ich meinen nächsten, alles entscheidenden Termin. Jetzt muss ich nur noch Miss Dobbins aus dem Weg gehen, die neuerdings Vertrauenslehrerin ist. Seit Wochen versucht sie, mich zu erreichen, und was immer sie von mir will - es kann nichts Gutes sein.
Dylan und ich reihen uns hinter Allegra Armstrong-Johnson und ihrem bleichgesichtigen Sohn Wolfie ein. Ich halte Sicherheitsabstand und hoffe nur, sie dreht sich nicht um. Allegra als meine Todfeindin zu bezeichnen, wäre nicht ganz fair - diese Ehre gebührt Hope Grüber -, und abgesehen davon kenne ich Allegra nicht gut genug, um sie zu hassen. Trotzdem gehört sie zu jenen St.-Angeles-Müttern, um die ich lieber einen großen Bogen mache, die Sorte mit schimmernden braunen Haaren, einer Hurlingham-Club-Mitgliedschaft und einem Achtzig-Hektar-Gestüt in Norfolk. Rupert, ihr Ehemann, schreibt Churchill-Biografien, was anscheinend nicht nur ein richtiger Job zu sein scheint, sondern ihnen auch eine großkotzige Stadtresidenz in South Kensington beschert hat.
»Na, wieder spät dran, Florence?«, gurrt Allegra beschwingt und pseudofreundlich.
Ich blicke zu ihr auf. Heute trägt sie butterweiche Hermès-Lederreitstiefel, eine grüne Barbour-Jacke und eine alles überstrahlende Selbstgerechtigkeit zur Schau. Ihr anorektischer Whippet läuft in einem Steppjäckchen ohne Leine neben ihr her.
Als ich nicht reagiere, schürzt sie die Lippen und sagt übertrieben laut: »Du siehst heute so glamourös aus! Später noch Pläne?«
Irgendwas an ihrem Tonfall sorgt dafür, dass ich mich fühle wie ein kleines Kind, das zum Direktor zitiert wurde, was sicher auch daran liegt, dass ich zehn Jahre jünger bin als die meisten anderen St.-Angeles-Mütter. Von denen ist keine mit zwanzig ungeplant schwanger geworden.
Ich höre über Allegras Frage hinweg und tätschele ihrem hässlichen Hund den Kopf. »Braver Wolfie.«
Sie verzieht das Gesicht. »Wolfie heißt unser Sohn«, presst sie hervor, »nicht der Hund!«
Ich summe leise das Intro von »You're So Vain« in mich hinein. Als ich beim Refrain ankomme, wirft Dylan mir einen Todesblick zu.
»Mum«, faucht er, »hör auf damit!«
»Was denn?« Ich tue unschuldig. »Carly Simon ist ein echter Klassiker.«
Ich sollte netter zu Allegra sein. Immerhin ist sie hier eine vom Aussterben bedrohte Spezies - eine waschechte Engländerin! An der St. Angeles! Die meisten anderen ihrer Art - die mit den Adelstiteln und Hedgefonds-Ehemännern - haben sich inzwischen nach Surrey zurückgezogen, was unsere kleine Londoner Enklave umso kurioser macht - samt der exotischen Mischung aus Leuten aus aller Welt mit mysteriösen Einkommensquellen. Hier stößt man eher mit einem bahrainischen Prinzen oder der Erbin eines griechischen Reedereiunternehmens zusammen als mit jemandem, der, sagen wir, aus Yorkshire stammt. Vor einer Weile ging das Gerücht um, die St. Angeles würde für die wenigen letzten britischen Schüler keine Gebühren mehr verlangen, fast wie eine Art Stipendium für notdürftige Familien. Es hätte mich kein bisschen überrascht. Ausländische Eltern wollen schließlich glauben, dass sie das »authentische« England erleben, indem sie ihre Kinder in Kniestrümpfen und mit Stroh-Boaterhut in die Schule schicken, aber dieses ganze nostalgisch-britische Cosplay ergibt letztlich überhaupt keinen Sinn, wenn sämtliche Mitschüler ebenfalls aus Melbourne oder Paris, Hongkong oder Helsinki stammen.
Ich persönlich finde die englische Obsession mit Schulen ehrlich gestanden lächerlich. Wo ich aufgewachsen bin - in einer vollgestellten Dreizimmerwohnung an einer sonnenverwöhnten Straße am Stadtrand von Orlando, Florida -, besuchen Kinder eben die Schule, die am nächsten liegt. Und Erwachsene verbringen garantiert nicht ganze Dinnerpartys damit, herauszufinden, wo ihr Gastgeber denn nun sein kleines Einmaleins gelernt hat.
Wenn es nach mir ginge, würde Dylan die Schule besuchen, die nur eine Straße weiter von unserer Wohnung liegt, und ich könnte jeden Morgen fünfundzwanzig Minuten länger schlafen. Auf meinen Vorschlag hin reagierte Will, mein Ex-Mann, als hätte ich beschlossen, Dylan komplett aus der Schule zu nehmen und ihn stattdessen für die nächsten zehn Jahre auf einer Farm Schwerstarbeit leisten zu lassen. Dazu muss man wissen: Will war selbst St.-Angeles-Schüler. Und natürlich musste Dylan auch dorthin.
»Meinetwegen«, sagte ich achselzuckend, »wenn du bezahlst.«
Und die Schuluniform ist tatsächlich niedlich.
Als wir das Eingangstor erreicht haben, bedenkt mich die stellvertretende Schulleiterin, ein alter Brontosaurus namens Miss Schulz, mit einem verkniffenen Lächeln.
»Morgen, Dylan«, sagt sie spitz und späht unter ihrem grauen Dauerwellenhelm zu mir hoch. Sie hat exakt die gleichen Klamotten an wie Mrs. Doubtfire und müffelt nach Mottenkugeln.
»Viel Spaß heute, Kiddo!«, rufe ich Dylan nach, als er durchs Tor läuft und zwischen lauter identisch gekleideten Jungs untertaucht. »Hau sie alle um!«
Miss Schulz zuckt sichtlich zusammen. »Mrs. Palmer«, sagt sie und nickt in meine Richtung.
»Ich heiße Grimes«, rufe ich ihr ins Gedächtnis, »auch wenn Dylan mit Nachnamen Palmer heißt. Wie sein Vater.«
Hinter ihrer Eulenbrille blinzelt sie hektisch. »Natürlich.« Als würden wir uns nicht schon seit fünf Jahren an jedem einzelnen Schultag begegnen. »Verzeihen Sie. Einen schönen Tag.«
Ich mache eilig kehrt und hoffe inständig, dass Miss Dobbins nicht noch auftaucht. Ein paar Meter weiter lässt Hope Grüber, Vorsitzende des Elternbeirats, Farzanah Khan und Cleo Risby an der fesselnden Schilderung teilhaben, wie einer ihrer Drillinge bei einem Übungstest für die Aufnahme an der St. Paul's die volle Punktzahl erreicht hat.
»Wir haben nicht mal geübt!«, trillert sie und klimpert mit ihren Wimpern-Extensions.
Hope stammt aus Brisbane und ist eine brutal ehrgeizige soziale Aufsteigerin. Bevor sie ihren Mann kennenlernte, einen dreißig Jahre älteren österreichischen Immobilien-Tycoon, war sie mäßig erfolgreiches Katalogmodel und wohnte über einer Pommesbude an der Goldhawk Road. Nachdem ich bei Girls' Night ausgestiegen war, bewegten wir uns eine Zeit lang in denselben Kreisen. Freundinnen waren wir nie, allerdings hatten wir doch einiges gemeinsam, gingen beide bei Primark einkaufen, im Fabric feiern, hielten ständig Ausschau nach der nächsten Gelegenheit, die man sich nicht entgehen...
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