Mariella fröstelte. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit man sie hier in dieser Zelle zurückgelassen hatte, aber es war lange genug gewesen, um sich die schlimmsten Szenarien auszumalen. Der nackte Beton in ihrem Rücken ließ sie schaudern. Obwohl die Sonne Italiens ihr Bestes gab, schien sie diese Mauern nicht erwärmen zu können. Mariella rieb sich die Arme. Die Stimmen aus den anderen Zellen zerrten an ihren Nerven, und sie hoffte, ihre Eltern würden sie hier rausholen. Doch dafür müsste schon ein Wunder geschehen. Sie kannte das Protokoll, sie kannte die Gesetze. Ohne Ausweis galt man als Aufständischer, ein Feind des Regimes. Nur die Begnadigung durch die Präsidentin würde sie retten können, doch seit der Gründung der U.N.E. war es nicht einmal vorgekommen, dass Präsidentin Ziegler jemanden begnadigt hatte. Mariella kauerte sich zusammen, formte sich zu einer Kugel. Sie erinnerte sich daran, dass ihre Schwester ihr dazu geraten hatte, als das Heizöl knapp und ihr Vater damit beschäftigt war, sich zurück an die Spitze des Familienunternehmens zu arbeiten. Die Umverteilung des Vermögens, das Gleichstellungsgesetz, hatte vor allem die Reichen und Mächtigen getroffen, und ihr Großvater war noch immer nicht darüber hinweg. Damals war alles besser gewesen - für ihre Familie.
Ein Schrei ertönte. Mariella drückte sich enger an die Wand. Was auch immer hier vorging, sie wollte es nicht wissen. Furcht hatte sich in ihrem Herzen festgesetzt. Sie wollte nach Hause. Sie wollte diesen Tag vergessen. Und doch wusste sie, dass es nichts gab, was sie all das vergessen lassen könnte. Mariella zog die Schultern hoch. Die Kälte der Mauern, die seltsame Beschaffenheit des Bungalows - sie wollte nur noch aus diesem Albtraum erwachen. Was würde ihre Schwester tun? Was würde Elena machen? Mariella schnaubte. Elena würde kämpfen. Elena würde einen Ausweg suchen - und finden. Elena würde nicht weinen, würde sich nicht fürchten. Mit steifen Gliedern richtete sie sich auf. Sollte sie diesen Weg beschreiten? Ihrer Schwester folgen? Ein plötzlicher Aufruhr ließ sie zusammenzucken, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie spitzte die Ohren, wagte nicht, sich der Zellentür zu nähern. Die Angst, erneut in etwas hineingezogen zu werden, war zu groß. Vielleicht würde man sie nicht ganz so hart behandeln, wenn sie kooperativ war.
Feigling!
Mariella schüttelte den Kopf. Jetzt bildete sie sich in ihrer Panik schon ein, die Stimme ihrer Schwester zu hören. Doch bevor sie weiter darüber nachdenken und sich wundern konnte, ertönte ein ohrenbetäubender Knall. Die Wände wackelten. Staub rieselte auf sie herab. Schreie drangen zu ihr durch. Stimmen schrien durcheinander. Schüsse knallten.
»Hier ist auch noch eine. Los, holt sie raus.« Die Stimme war nah, als befände sich der Sprecher vor ihrer Tür. »Die sieht ja völlig verängstigt aus! Die Schweine! Was haben sie ihr nur angetan?« Licht fiel herein, als die Tür geöffnet wurde. Mariella blinzelte, bedeckte ihre Augen. Ein großer Mann kam auf sie zu, die Hände beschwichtigend vor sich haltend. »Keine Angst, ich tu dir nichts. Du bist jetzt in Sicherheit.« Er ging vor ihr in die Hocke. »Fürchte dich nicht. Wir sind nicht deine Feinde.« Er streckte ihr die Hand entgegen. Mariella zögerte. Blinzelte. Der Mann erinnerte sie an ihren Vater. An ihren Vater aus sorglosen Tagen. Aus Tagen, an denen er mit ihr und ihrer Schwester gespielt und gelacht hatte. Er schien geduldig zu warten, seine Augen strahlten eine Wärme und ein Verständnis aus, die im Gegensatz zur Hektik auf dem Gang stand. Wenn sie seine Hand ergriff und mit ihm ging, dann gab es kein Zurück mehr. Dann war sie eine von ihnen. Eine Aufständische.
Ein Schuss. Ein Schrei.
Mariella griff nach der Hand, ließ sich auf die Füße ziehen und folgte dem Mann. Sie rannten durch den Korridor, sprangen über die Trümmer von Zellentüren, über stöhnende Körper, die sich vor Schmerzen wanden. Blut, so viel Blut. Und Staub. Mariella war sich sicher, dieses Bild nie wieder vergessen zu können.
»Komm. Sie dürfen uns nicht erwischen. Beeil dich.« Er ließ ihre Hand nicht los, zog sie mit sich. »Sind sie abgelenkt?«, fragte er einen jungen Mann, dem Schweiß und dünne Rinnsale aus Blut über das Gesicht strömten und der auf sie gewartet zu haben schien. Er hatte sich an einem Loch in der Wand abgestützt, das wohl auch der Eingang der Aufständischen gewesen war.
»Ja. Die meisten der Wachen hier sind an der Engelskirche. Die anderen suchen gerade die anderen Sprengladungen, von denen wir ihnen erzählt haben. Ramos hat sich bereit erklärt, sich gefangen nehmen zu lassen. Er hat die Schlüssel zu den unteren Zellen.« Sein Blick glitt über sie. »Er hat Ibuprofen Forte Extrazu sich genommen, er wird also nichts spüren.«
»Gut. Ich verstehe immer noch nicht, warum sie die Zellen im Erdgeschoss haben, aber vielleicht glauben sie, so würde man sich weniger trauen, die Insassen zu befreien. Idioten.« Er lächelte Mariella an. »Du siehst verwirrt aus. Keine Sorge, wir erklären dir alles. Nun komm. Bevor sie entdecken, dass es keine weiteren Bomben gibt.« Zu dritt kletterten sie aus dem Loch, schlichen aus dem Wachhäuschen, hinüber zur Mauer. Ihr Befreier schien an der Mauer etwas zu suchen, und Mariella versuchte neugierig herauszufinden, was es war. Doch was immer er suchte, es blieb ihr verborgen. Die Mauer war gepflegt, der Rasen getrimmt - was also war es, was er suchte?
»Ah, hier ist es.« Der ältere Mann kniete sich hin, sah sich um. Kein Soldat war ihnen gefolgt. Kein Passant schenkte ihnen Aufmerksamkeit. Was immer im Wachhäuschen vorging, hatte dafür gesorgt, dass alle so schnell wie möglich in den Häusern verschwunden waren. Mariella kniete sich ebenfalls hin, musterte den Boden, an dem der Mann herumnestelte. Das Stück Rasen löste sich unter seinen Fingern. Wie ein Pflaster zog er es ab, und eine Falltür kam zum Vorschein. »Nach euch. Jemand muss das hier ja wieder verdecken.« Er lachte.
Mariella schluckte, kletterte aber als erste durch die Öffnung, hinab in die Dunkelheit. Der junge Mann folgte ihr. Ihr Herz überschlug sich beinahe, doch sie bemühte sich, sich nicht von ihrer Angst überwältigen zu lassen. Mit Bedacht kletterte sie die Leiter hinunter, ertastete vorsichtig Sprosse für Sprosse. Über sich konnte sie den jungen Mann schnauben hören.
»Lass gut sein, Giovanni. Sie benutzt diese Leiter zum ersten Mal und ist völlig verängstigt. Wer weiß, was sie durchgemacht hat.« Der ältere Mann klang streng. Sie sah, wie er den Rasen wieder über die Öffnung legte und die Falltüren schloss, deren Flügel nach innen aufgegangen war. Mit einem Mal verstand Mariella, wie die Aufständischen so schnell an einem Ort auftauchen konnten, ohne durch die Checkpoints gehen zu müssen und aufzufliegen. Wahrscheinlich war diese Art von Türen über die ganze Stadt verteilt. Gegen ihren Willen war Mariella beeindruckt. Sie spürte Boden unter ihren Füßen und ließ sich mit einem Seufzer der Erleichterung fallen. Zwar wurden sie noch immer von der Dunkelheit verschluckt, allerdings fühlte sie sich nun sicherer, weit weg von den Soldaten. Der junge Mann, Giovanni, pfiff. Es klang wie eine Melodie, schien aber ein spezielles Erkennungszeichen zu sein, denn kurze Zeit später flammten Lampen auf. Halogenlampen, wie sie verblüfft feststellte. Diese Lampen galten schon lange als verboten, weil sie nicht den Umweltbestimmungen entsprachen, die die U.N.E. erlassen hatte. Immer noch etwas außer Atem und fasziniert von dem weißen Licht der Halogenleuchten musste sie an ein weiteres Thema denken, das sie erst vor wenigen Tagen wieder im Geschichtsunterricht behandelt hatte: Wegen der verschärften Umweltgesetze der U.N.E. war es damals zu einem verheerenden Krieg mit China gekommen, wobei die Umweltbestimmungen nicht allein ausschlaggebend gewesen waren. Mariella erinnerte sich an die Gerüchte, dass auch der Herrschaftsanspruch der U.N.E. über alle europäischen Nationen ein Grund gewesen sein sollte. Dass die Präsidentin des Parlaments die uneingeschränkte Macht hatte, Gesetze erlassen konnte und die Regierungen der anderen Nationen nur noch zum Schein existierten. Andere Länder wie Amerika und Russland hatten das nicht unbedingt mit großer Begeisterung aufgenommen, aber sie alle hatten zu viel Angst vor einem Embargo gehabt. Naja, alle bis auf China. Produkte aus diesem Land waren verboten, galten als minderwertig und schädigend für Mensch, Tier, Land .
»Was ist? Willst du hier Wurzeln schlagen?«, fuhr Giovanni sie an. Beschämt bemerkte sie, dass die beiden Männer offensichtlich nur auf sie gewartet hatten und bereit waren, tiefer in die Tunnel vorzudringen.
»Tut mir leid«, murmelte sie und setzte sich mit ihnen in Bewegung. Giovanni und ihr Befreier redeten in einer ihr fremden Sprache miteinander, und sie wurde das Gefühl nicht los, dass Giovanni über sie sprach. Der Weg durch den Tunnel schien ihr ewig vorzukommen, sie konnte sich beim besten Willen nicht merken, wann sie in welche Richtung abbogen, und langsam spürte sie, wie Müdigkeit sie übermannte. Der heutige Tag, auch wenn er noch nicht vorbei war, war doch etwas viel für sie gewesen. Mariella gab in einem Moment der Schwäche nach, lehnte sich gegen die kühle Wand des Tunnels und schloss die Augen. Sie würde sich nur ganz kurz ausruhen, sagte sie sich. Nur ganz kurz rasten, um wieder zu Kräften zu kommen.
Plötzlich verlor sie den festen Boden unter ihren Füßen. Jemand hob sie in die Luft. Starke Arme hatten sich um sie geschlungen, trugen sie.
»Die Ärmste ist völlig erschöpft. Ich möchte nicht wissen, was sie durchlitten hat. So verängstigt wie sie war, als ich sie in ihrer...