Schweitzer Fachinformationen
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Sophey steht da wie ein Prophet mit Stab, den Besen in der Hand. Sie streckt ihn Lisbet hin.
»Die Kammer muss gefegt werden.«
Lisbet braucht nicht nachzufragen, welche sie meint. Es gibt Hennes Kammer, Sopheys Kammer, die Küche und die Kammer. Agnethes Kammer. Diese wurde verschlossen wie ein Grab. Lisbet hat in ihrem halben Jahrzehnt im Haus nur ein paarmal mitbekommen, wie die Tür geöffnet wurde. Einmal, um eine Amsel zu befreien, die durch die Fensterläden hereingeflogen war und sich anscheinend das Genick brechen wollte, und ein anderes Mal, als Plater kam, um Steuern auf ihre Türen und Fenster zu erheben, und sie so langsam zählte, dass sie sich fragte, ob er minutenweise bezahlt wurde. Sie können den Platz eigentlich nicht entbehren, haben aber die unausgesprochene Vereinbarung, dass Agnethes Kammer gemieden werden soll - ganz so, als wäre die Tür eine undurchdringliche Wand -, bis die Bewohnerin aus den Bergen zurückkehrt.
Unsicher nimmt Lisbet den Besen entgegen.
»Ich kümmere mich um die Brote«, sagt Sophey und wendet sich bereits ab. »Vergiss nicht, die Laken auszuklopfen.«
Als sie so auf der Schwelle steht und die abgestandene Luft riecht, während der Staub durch einen Spalt in den Fensterläden wirbelt, kommt es Lisbet vor, als wäre Agnethe bloß einen Moment weggegangen. Die Laken sind zerknittert, das Kissen ist eingedrückt, der Hocker in der Zimmerecke etwas verschoben, fast so, als wäre er leicht angestoßen worden, als seine Benutzerin sich erhob. Daneben steht eine breite Schale. So eine musste Lisbet in den ersten Monaten nach ihrer Ankunft für Sophey auf dem Markt erstehen. Vielleicht ist alles von Agnethes Sünde befleckt, und jeder einzelne Gegenstand muss die siebenjährige Buße abwarten, bevor auch er angefasst und reingewaschen werden kann.
Die Schale ist von einer feinen Staubschicht überzogen, das Wasser darin längst eingetrocknet. Doch als Lisbet sie anhebt, glaubt sie, den Geist eines Duftes einzufangen, kräuterig und süß wie Idas Atem. Daneben liegt ein Kamm aus vergilbtem Knochen, mit dick verfilzten, langen blonden Haaren, glänzend und brüchig. Lisbet wischt die Schale aus und stellt sie wieder an ihren Platz, zupft die Haare aus dem Kamm und öffnet die Fensterläden, um das grobe Gewirr nach draußen fallen zu lassen. Lisbet und Henne teilen ihre Aussicht mit Agnethe: Sie sehen direkt nach Osten, wo einige Bäume stehen. Vom Licht erhellt, verliert der Raum seine sorglose Verlassenheit und wirkt ein wenig trauriger.
Mit staubigen Fingern zieht Lisbet die Laken ab und fegt den Boden, findet kleine weiche Federn der Amsel sowie leere Schneckenhäuser, deren glitzernde Spuren durch die trockene Hitze nunmehr ein stumpfes Glänzen sind. Sie wischt sie weg, steckt Federn und Schneckenhäuser ein. Sie legt das Kissen zurück, dreht es so, dass der Abdruck unten liegt. Dabei verschiebt sich etwas unter dem Stoff und raschelt. Lisbet betrachtet die Nähte des Kissenbezugs, aber sie sind mit feinen Stichen gefertigt; weder sie noch Sophey, die beide unter geschwollenen Fingern leiden, können da im Moment etwas ausrichten.
Sie kann Sophey und Henne in der Küche sprechen hören. Sie schiebt ihren Fingernagel gegen den Faden, aber er schließt bündig mit dem Stoff. Lisbet zieht erst sanft, dann fester, und der ordentlich vernähte Faden gibt nach. Sie hakt ihren Finger in das Kissen hinein und durchsucht das Stroh, bis sie etwas Raues spürt, verknotet mit etwas Weichem. Sie zieht es heraus, und auf das Laken fällt eine blonde Haarlocke, die mit einem ungefärbten Seidenband zusammengebunden ist.
Lisbet hält sie in ihrer Handfläche, die Sonne spaltet sie in Licht und Schatten. Sie ist fast schwerelos, wirkt so grob wie die Strähnen, die sie aus dem Kamm gezogen hat. Die Farbe passt zwar zu diesem Gewirr und sogar zu Hennes Haar, doch Lisbet ist sich sicher, dass die Locke nicht von einem der Wiler-Geschwister stammt. Die Art, wie sie zusammengebunden, aufgehoben, verborgen wurde: alles zärtlich und unerlaubt wie die Bänder, die Lisbet am Tanzbaum angebracht hat.
»Lisbet?«
Sie erschrickt, lässt das Andenken fast fallen und faltet es sorgfältig in ihren Rock hinein, als sie sich zu Henne umdreht, der am Türpfosten lehnt und den Rahmen fast vollständig ausfüllt.
»Ich habe Hunger«, sagt er und gähnt, was seine Stimme seltsam verzerrt. Er hat gute Zähne, gerade aufgereiht und fest wie Grabsteine. Lisbet betastet die Lücken in ihrem Zahnfleisch mit der Zunge, zehn schwarze Löcher. Bei fast jedem verlorenen Baby hat sich ein Backenzahn gelöst und wurde dann von dem Wundarzt gezogen.
»Ich komme«, sagt sie und lauscht seinem schweren Schritt, dem leisen Kratzen der Bank auf alten Binsen. In ihrer Eile hat sie das feine Arrangement des Andenkens durcheinandergebracht, und sie richtet es so ordentlich wie möglich wieder her, bevor sie es an seinen Platz zurückschiebt. Agnethe soll alles so vorfinden, wie sie es verlassen hat.
Die heimkehrende Büßerin trifft am frühen Nachmittag ein. Sie ist ähnlich groß wie ihr Bruder, groß wie das gebückte Pferd, auf dem sie seit der Morgendämmerung von der Abtei auf dem Kamm des Odilienbergs hierhergeritten ist. Die ist nur dreimal so weit von ihrem Hof entfernt wie Straßburg, aber von einem solchen Ruf umweht, dass Lisbet das Gefühl hat, sich in der Gegenwart eines Wesens aus einer anderen Welt zu befinden.
Agnethe Wilers Auftritt ändert wenig an dieser Fantasie. Abgesehen von ihrer Größe, die sie ohne jede Rechtfertigung vor sich herträgt, ist da noch die Sache mit ihrem Kopf, der glatt rasiert ist wie eine geschälte Zwiebel und mit vielen Kerben und Narben vom wiederholten Scheren bedeckt. Farblich changiert die Haut vom Braun der älteren Partien bis hin zu neuem Rosa. Am groben Kragen ihres Gewandes blüht sogar frisches Rot. Als sie absteigt, den Kopf vor ihrer Mutter senkt und die Hände vor dem Körper faltet, erkennt Lisbet, dass sie ähnlich vernarbt sind wie die Kopfhaut. Sophey fasst ihre Tochter mit verkrümmten Fingern am Kinn und hebt ihren Kopf an. Agnethes Gesicht ist hohl an den Wangen, als wären sie hineingeschnitzt.
Und trotzdem sieht sie gut aus, das kann Lisbet nicht leugnen. Hennes Gesichtszüge wirken glatter an ihr, und selbst die Augen mit den ausgezupften Wimpern, den rosafarbenen und verkrusteten Lidern, dienen nur dazu, ihr Blau reiner zu zeigen, wie Perlen, die sich auf der dicken Zunge einer Auster präsentieren. Hätte sie so blondes und langes Haar wie Ida, könnte sie es vielleicht mit ihrer Schönheit aufnehmen. So aber fällt sie in eine eigene Kategorie, die seltsamste Frau, die Lisbet je gesehen hat.
»Hast du Hunger?«, fragt Sophey zur Begrüßung der Tochter, die sie seit über einem halben Jahrzehnt nicht mehr gesehen hat. Agnethe nickt, demütig in jeder Geste, doch Lisbet hält sie nicht für unterwürfig. Sie strahlt Stärke aus, obwohl sie versucht, sie zu unterdrücken.
Nichts ist verborgen, was nicht offenbar werden soll.
Es war eine von Geilers Lieblingspassagen, die von Sophey nachgeplappert und wie ein Speer auf Lisbet geschleudert wurde, etwa, wenn ein Fuchs ein Huhn schnappte oder als die Hofkatze krampfte und in Lisbets Armen starb. Doch als Lisbet Agnethe betrachtet, erkennt sie darin eine neue Bedeutung: keine Anklage, sondern eine Absichtserklärung.
Ohne ein weiteres Wort dreht Sophey sich um und geht hinein. Henne tritt vor und umarmt seine Schwester kurz, stößt sein Kinn an ihre hohle Wange, bevor er die Zügel des erschöpften Pferdes nimmt und es in den Schatten des Stalls führt, zu dem langen Trog, an dem auch das alte Maultier trinkt. Lisbet und Agnethe beobachten Henne, keine von beiden ist bereit, die Stille zu brechen, die sich über sie gelegt hat. Lisbet nimmt an, dass das Maultier nun zum Schlachter gebracht werden wird, jetzt, da sie das Pferd zurückhaben. Das uralte Tier hat geschwollene Knie und Wunden auf dem Rücken, die sich nicht mehr schließen wollen, sooft Lisbet sie auch mit Honig behandelt.
Sie wirft einen Blick auf ihre Schwägerin. Ihre Augen wirken aus der Nähe noch verblüffender, und ihr Blick ist klar und direkt. Lisbets Zunge regt sich in ihrem trockenen Mund.
»Hallo, Schwägerin«, sagt Agnethe. Ihre Stimme ist leise und heiser vom Nichtgebrauch. »Ich hoffe, es geht dir gut.«
Lisbet nickt. Sie weiß, dass sie die Frage erwidern sollte, aber angesichts von Agnethes vernarbtem und nacktem Kopf und ihren eingefallenen Wangen fühlt sie sich ohnmächtig. Dann tritt Henne zwischen sie, und sie folgen ihm hinein.
Auf dem blank gescheuerten Holz des Tisches dampfen Eier, ihre Schalen sind gesprenkelt. Lisbets Magen knurrt bei diesem Anblick und beim Duft des Brotes. Sophey hat es am Vormittag mit Idas Geschenk gebacken, zuvor ist der Teig in der Sonne schnell aufgegangen. Henne nimmt Platz, und Lisbet lässt sich dankbar auf die Bank fallen, bevor ihr einfällt, dass sie und Agnethe sich die Sitzgelegenheit jetzt teilen müssen.
Sie rutscht ein Stück, ihr Rock verfängt sich an den Splittern, die von den Kratzspuren der längst verendeten Tigerkatze stammen. Sie löst ihn, und Agnethe setzt sich vorsichtig neben sie, den Rücken kerzengerade. Lisbets Bauch bringt es mit sich, dass zwischen ihnen und dem Tisch fast ein halber Meter Luft liegt, aber Agnethe scheint das nichts auszumachen. Sie beugt ihren langen, sehnigen Hals, um zu beten. Lisbet entdeckt ältere, tiefere Narben, die unter der Rückseite ihres Gewandes verschwinden und wie abgeschnittene Flügel von ihrer Wirbelsäule ausgehen. Henne hüstelt, dann faltet auch Lisbet die Hände. Sophey spricht das Gebet, und alle...
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