Schweitzer Fachinformationen
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In der Hauptstadt flackern die Kerzen des zweiten Advents auf den Altären der Kirchen, doch für Mary sind alle Tage gleich. Gestern war ihr Geburtstag, aber das weiß sie nicht, denn sie hat weder Mutter noch Vater, die es ihr sagen könnten. Ihr Bruder Abel ist älter, jedoch nur ein paar Jahre, sodass auch er sich nicht erinnern kann. Die Geschwister haben Glück, dass sie zusammen sein können; das bekommen sie oft zu hören auf der Insel, wo Äste eines Familienstammbaums nicht selten so abgebrochen sind, dass sie bluten.
Zwischen zwei Wasserwegen ist es gelegen, das Elendsviertel Jacob's Island. Sie wurden auf die Straße gesetzt, Abel und Mary, vor drei Jahren vom Armenhaus in Whitechapel hineingeworfen in diese Freiheit, die keine ist, und fanden in der Edwards Street eine Bleibe über einem Bordell, tagsüber getarnt als Gemüseladen durch den Verkauf von schlaffem Kohl und unansehnlichen Kartoffeln, während sich nachts auf den schmutzigen Tischen erschlaffte Frauen unter unansehnlichen Männern winden.
Mary ist mit der Insel vertraut und weiß, wo sie ihre Röcke heben kann, wo sie in der Mitte der Straße bleiben muss, um die Kloaken zu meiden, wo sich die übelsten Diebe herumtreiben, die sogar ein Kind überfallen würden, aber jetzt verfolgt sie etwas, als sie mit frisch gegerbten Häuten in den Händen auf das Dock zusteuert, von dem aus Boote die wertvolle Ware in vornehme Viertel liefern. Sie sieht nicht, was ihr folgt, riecht es nicht, aber es kennt sie auf eine knochentiefe, seelenzehrende Weise und ist so erbarmungslos wie Hunger oder Begehren - ja, es ist hungrig und begierig -, und so gibt es kein Entkommen. Arme Mary mit dem tief gesenkten Kopf. Würde sie nicht so sehr wie Beute wirken, hätte sie vielleicht mehr Glück.
Doch nicht alles ist trostlos. Weihnachten ist ein Lichtblick, wenn die Reichen jenseits des Flusses ihr Gewissen entdecken und Spenden an die heruntergekommene Kirche schicken, das einstige Leprahospital. Einige dieser Spenden erreichen sogar diejenigen, für die sie bestimmt sind, und so werden bei den Adventsgottesdiensten Clementinen verteilt, leuchtend orange wie glühende Kohlen und mit Nelken gespickt. Letztes Jahr erhielt Mary zum ersten Mal solch eine Frucht, und die Erinnerung an die betörende Süße sucht sie immer wieder heim, wie Phantomschmerzen.
Daran denkt sie auch jetzt, mehr, als gut für sie ist, während sie dem Dock entgegeneilt. Sie hätte lieber auf ihre Umgebung achten sollen. Dann hätte sie vielleicht bemerkt, dass der Mann, der sie verfolgt, glänzende, blank polierte Lederstiefel trägt, die so gar nicht zu seinem abgewetzten, geflickten Mantel und den Bartstoppeln passen.
Die Gassen speien Mary aus, hinaus an den Pier, einst aus verrottendem Holz, nun aus glattem Stein, breit genug für mehrere Boote und deshalb zu jeder Tageszeit der geschäftigste Teil der Insel. Teirneys Kahn liegt immer an derselben Stelle. Der Mann lässt sich zurückfallen und beobachtet, wie Mary der rauchenden Frau an Deck die Häute übergibt. Das ruft ihm in Erinnerung, dass auch er rauchen könnte, die Pfeife, die er eigens erstanden hat, um Hände und Gesicht zu beschäftigen, sollte er zum Warten gezwungen sein. Er stopft Tabak in die Pfeife, zündet ihn an und pafft unbeholfen, während das Mädchen mit Ma Teirney spricht.
»Wie geht's denn so?«
»Gut, Ma.«
»Hat euch die Seuche nicht erwischt, dich und deinen Bruder?«
»Nein.«
»Das ist gut, Mädchen.« Ma Teirney begutachtet die Häute, hat wie stets etwas zu bemängeln, zahlt aber dennoch den vollen Preis. Das würde sie niemandem gestehen, nicht einmal sich selbst, aber sie kommt nur wegen Mary auf diese elende Insel, um Häute zu kaufen. Das Mädchen hat dichtes schwarzes Haar, schneeweiße Haut und schimmernde dunkle Augen. Eine sanfte Seele.
»Das Gleiche nächste Woche wieder, Ma?«
»Nicht über Weihnachten.«
»Ach, ist nächste Woche Weihnachten, Ma?«
»So ist es. Und hier hab ich was für dich.«
Ma bringt aus ihrer Tasche eine kleine hölzerne Kegelpuppe zum Vorschein, gekleidet in einen Stoffrest von ihren Näharbeiten, ein schimmerndes Stück Taft. Pfauenblau ist er, und Ma hat mit ihren geschickten Fingern ein Kleid mit schmaler Taille und weitem Rock nach der neuesten Mode daraus geschneidert und sogar Saum und Ärmelmanschetten mit Spitze versehen. Das Gesicht ist schon ein bisschen abgenutzt, aber immerhin aus schönem Kiefernholz.
»Ma.« Kaum mehr als ein Hauchen. Ein richtiges Geschenk hat Mary noch nie im Leben bekommen. Sie wagt es nicht einmal, danach zu greifen, weil sie fürchtet, es würde ihr wieder entrissen. »Die ist doch nicht für mich?«
»Warum nicht, mein Kind? Nimm sie nur.«
Zittrig kommt Mary der Aufforderung nach, schämt sich ihrer schmutzigen Hände auf dem azurblauen Rock, doch die Scham ist schnell vergessen, denn der Stoff fühlt sich wundersam weich und zugleich so fest an, als wolle er ihren Fingern für immer Halt geben. Überglücklich drückt sie die Puppe an die Brust.
Als sie sich verabschieden, ist Ma traurig und froh zugleich und Mary restlos verliebt in ihr erstes Spielzeug. Der Mann löst sich von der Wand und folgt Mary erneut ins Gewirr der Gassen.
In der nächsten Woche fegt der blaue Tod über die Insel, und als am dritten Advent die Kerzen angezündet werden, sind die Kirchenbänke halb leer, und zahlreiche Leichen werden zu Armengräbern verschifft. Cholera ist nichts Neues an Orten, die so überfüllt und schmutzig sind, aber diese ist besonders bösartig, zumal sie der Grippewelle dieses Winters auf dem Fuße folgt.
Abel und Mary verlassen das Haus nicht, wie Ma Teirney es ihnen in solchen Zeiten geraten hat, und ernähren sich von gekochten Kartoffelschalen vom Gemüsehändler. Mary macht das nicht viel aus. Es hat schon Zeiten gegeben, in denen sie mehr hungerten, und sie mag ihren Bruder und liebt ihre Puppe, die sie Clementine genannt hat. Mit Clementine geht sie zu festlichen Bällen, und beide drücken ihre Lippen an Maserungen im Holz der alten Tür, die, wenn man die Augen zusammenkneift, Männern mit Bart und gütigem Blick ähneln. Abel klagt, weil er betteln gehen will, hört aber auf die Bitten seiner Schwester und bleibt zu Hause.
Niemand stört sie, auch nicht der Mann mit den Lederstiefeln und den gepflegten Fingernägeln, der die Aufgabe hat, sie zu beobachten und abzuwarten, bis Mary wieder auftaucht. Erst abends verlässt er die Insel, wird mit dem gemieteten Boot zur Waterloo Bridge gebracht, wo sein Kutscher ihn abholt und durch die lebhaften Straßen fährt, vorbei an St. Giles und Soho, wo der Mann einst in Etablissements verkehrte, und durch Bloomsbury, wo er in einem Haus mit hohen Zimmern und Kristalllüstern geboren wurde, bis hin zu ihrer stillen Villa am Regent's Park, der sich in die Nacht erstreckt wie ein dunkles Meer.
Die Straßen sind menschenleer, die Laternenanzünder längst verschwunden, nur hie und da wartet ein Kutscher vor Häusern, aus denen warmes gelbes Licht von zahllosen Kerzen strahlt und das lebhafte Stimmengewirr einer Abendgesellschaft zu vernehmen ist. Solche Soireen haben der Mann und seine Gemahlin früher auch gegeben in ihrem Speisezimmer mit den Wandbehängen aus Damast, zwölf Gänge wurden serviert, kreiert von dem Koch, den sie einem berühmten Luxushotel abgeworben hatten. Nun hat dieser Raum kahle Wände, und der große Tisch mit dem Schnitzwerk ist ebenso verkauft wie die zwölf hochlehnigen Stühle mit Seidenbezug. Die schweren Vorhänge sind stets zugezogen, das Zimmer wird nur von Kerzenlicht erhellt; nichts ist geblieben außer einem runden Tisch mit spindeldürren Beinen aus der Küche, in der es kein Personal mehr gibt. An jenem Tisch wartet die Gattin des Mannes auf Neuigkeiten, in Anwesenheit einer Frau, die mit den Toten spricht.
Durch ein ausgeklügeltes Schattenspiel zwischen den Gaslaternen in der vornehmen Straße und einem winzigen Spalt in den Vorhängen vor den Bleiglasfenstern kann Mrs Flints Gehilfin Violet ihrer Herrin mitteilen, wann sich die Kutsche von Mr Ezra Griffiths nähert. Das ist für Mrs Flint das Zeichen, aus ihrer Trance zu erwachen, die grünen Augen auf ihr Opfer zu richten und zu sagen: »Er ist zu Hause.« Daraufhin tritt Mrs Edith Griffiths, Edie, ans Fenster, erstaunt ob dieser Genauigkeit und fügt sie jenem Gewebe aus hauchzarten Gewissheiten hinzu, mit denen sie sich beweisen will, dass sie das Richtige tun, dass diese Frau, die in ihrem Zuhause hockt, recht hat mit ihren Verheißungen. Dann fällt es Edie leichter, ihr Unbehagen ob ihres Vorhabens beiseitezuschieben.
Sie öffnet die Haustür, deren Anstrich stets makellos ist, um den Schein zu wahren und Klatsch in der Nachbarschaft zu unterbinden, nimmt Ezra den stinkenden Mantel und die Schirmmütze ab, küsst ihren Mann, der erschöpft aussieht, auf die stoppelige Wange und hält den Atem an, um die Ausdünstung der Armut nicht einzuatmen. Edie weiß das nicht, aber Ezra empfindet das Haus als ebenso übel riechend: Es verströmt den Gestank von angestautem Leid und endlosem Warten.
»Und?«, fragt Edie.
»Hat noch immer nicht ihre Unterkunft verlassen«, antwortet ihr Mann.
Edie wendet sich ab, hängt Mantel und Mütze sorgsam neben Ezras guten Umhang und geht ins Esszimmer zurück. Ezra folgt ihr widerwillig, reibt sich die Augen und unterdrückt ein Gähnen.
»Hat immer noch nicht ihre Unterkunft verlassen«, teilt Edie Mrs Flint mit, und beide Frauen sehen Ezra an, als er den Raum betritt. Wie immer empfindet er einen Anflug von Abscheu, wenn die ältere Frau ihn fixiert. Sie ist von robuster Statur, die grünen Augen sind so tief...
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