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Lieber Gott, mach, dass mich niemand sieht, dachte Alice, als sie mit tauben Beinen über die Kiesel stapfte. Sie schnappte sich ihre Kleidung, versuchte sich damit halbwegs abzutrocknen und stolperte dann zu dem eingedeichten Weg hinüber, der zu der Abkürzung durch das Moor und über die Felder mit den Winterrüben führte.
In den Hecken klammerten sich die ersten Blüten an die kahlen, stacheligen Zweige. Obwohl sie sich verzweifelt nach Wärme sehnte, war sie versucht, kurz zu verweilen. Alles, bloß nicht nach Hause gehen.
Aber sie war schon seit mehr als drei Stunden fort. Sie konnte es nicht länger hinauszögern, also bog sie in den Weg zurück nach Oakbourne Hall ein. »Ich mache nur einen kurzen Spaziergang«, hatte sie zu ihrem Mann gesagt, als sie aufgebrochen war. »Kommst du mit?« Er antwortete nicht. Das hatte sie auch nicht erwartet.
Sie verlangsamte ihren Schritt und schaute auf. Sie konnte die Gänse hören, bevor sie sie sah. Dann füllten Hunderte und Aberhunderte von stahlgrauen Vögeln den Himmel, zogen in V-Formation Richtung Norden - das deutlichste Zeichen dafür, dass der Winter vorbei war. Für einen kurzen Augenblick hob sich ihre Stimmung: Es würde nach sieben Jahren der erste Frühling in Friedenszeiten sein.
Die ganze Woche über hatte sie schon zauberhafte Hinweise wahrgenommen: goldene Winterlinge rund um die verlassenen Nissenhütten, Narzissen, die durch das ungemähte Gras stießen, ein Zaunkönig, der sein Nest in dem Efeu rund um ihr Schlafzimmerfenster gebaut hatte. Sie verfügte über ein riesiges Schlafzimmer, rief sie sich mahnend in Erinnerung, während Millionen anderer Menschen nichts hatten. Bei der Zeitungslektüre kam es ihr so vor, als sei die gesamte Landmasse Europas noch immer in Bewegung, Kilometer um Kilometer erschöpfter Männer und Frauen, die ihre Sprösslinge im Arm trugen, Kinderwagen und voll beladene Karren vor sich herschoben, auf der Flucht vor Schrecken, die man sich nicht ausmalen konnte.
Sie jedoch genoss das Privileg, in einem Gebäude zu wohnen, das in der Gegend als das Big House bekannt war. Es spielte keine Rolle, dass das Kriegsministerium es für ein Bataillon kanadischer Soldaten beschlagnahmt hatte und das Gebäude stark mitgenommen war. »Manche Leute haben einfach immer Glück«, hatte sie die Frau des Metzgers in der Kirche sagen hören, als Stephen, Alice' Mann, aus dem Krieg zurückkam, und zwar »in einem Stück«. Er war als Allerletzter aus dem Dorf zurückgekehrt. Woher er kam, wollte er nicht sagen. Geschweige denn, was er getan hatte. Aber er war am Leben.
Und du bist auch am Leben, dachte Alice und hielt den Rücken gerade, während sie an den Stümpfen jahrhundertealter Kastanienbäume vorbeiging, die zu Beginn des Krieges gefällt worden waren, um . was? Waffen herzustellen? Särge zu zimmern? Aber solche Überlegungen waren sinnlos.
Jetzt konnte man neue Bäume pflanzen. Die Welt war befriedet.
Wir haben gewonnen.
Wir haben tatsächlich gewonnen.
Doch ein kalter Schauer, noch unbarmherziger als das Meer, durchfuhr sie. Ganz so, als hätte es keinen Sieg gegeben. All die Schlager über »Liebe und Lachen und ewigen Frieden« waren so entrückt, so wenig greifbar wie das Ende eines Regenbogens. Wenn sie an den Siegestag vor fast einem Jahr zurückdachte, daran, wie das ganze Land ausgelassen auf den Straßen getanzt hatte, kam es ihr vor, als wären sie in Käfige eingesperrte Kreaturen, denen man einen Tag der Freiheit gegönnt hatte und die in dem Augenblick, in dem sich ihre Euphorie erschöpft hatte, sofort wieder in die alles verzehrende Tristesse zurückfielen.
Aber jetzt war es Zeit für die Wiedergeburt.
Auf den Feldern um sie herum forderten die Lämmer ungestüm die Milch ihrer Mütter ein, spitze Weizenhalme bohrten sich durch die harte Erde und über ihr kämpften die Krähen brutal um ihr Revier. Sie zwang sich, um den Betonunterstand herumzugehen, der von üppigen Rhododendren überwuchert wurde.
Ihre Frostbeulen brannten jetzt. Sie würde bald dreißig werden und schon jetzt waren ihre Füße hässliche, krumme Dinger, ihre Hände noch schlimmer. In der geröteten, rauen Haut traten die Adern hervor, und ihr Verlobungsring - ein diamantbesetztes Schmuckstück, das sich seit zwei Jahrhunderten in Stephens Familie befand - drehte sich locker um ihren Finger.
Wieder hielt sie inne. Allzu oft wurde sie sich eines gewissen Unbehagens bewusst. Doch sie dachte nicht an den Schrecken, den sie gerade bekämpft hatten, sondern an eine neue Gefahr, die sie noch nicht recht erkennen konnte. Vielleicht hatte sie auch zu viel Angst davor, genauer darüber nachzudenken.
Sie steckte die Hände in die Taschen und hielt den Kopf gesenkt, als der blaue Rover des Dorfarztes vor dem Haus vorfuhr, in dem Mrs. Martin ihr drittes Kind erwartete. Ein Siegesbaby, dachte Alice. Es wurden noch zwei weitere im Ort erwartet.
Alice hörte, wie der Arzt stöhnte und fluchte, als er sich mühsam aus dem Auto quälte. Er hatte sein Bein verloren, nachdem er in Dünkirchen in Gefangenschaft geraten war. Ein Anflug von Selbstvorwürfen - jammere nicht über deine Frostbeulen - trieb sie weiter zum Pförtnerhaus, von wo aus sie auf Oakbourne Hall, erbaut auf dem einzigen geschützten Fleckchen weit und breit, blickte.
In der Abenddämmerung zeichneten sich die feinen Umrisse des ursprünglichen Tudor-Anwesens und seiner jakobinischen, georgianischen und viktorianischen Anbauten über dem See ab: der Uhrenturm, die riesigen Erker, die Marmorsäulenreihen, der Westflügel mit seinen Mauerzinnen, der Ostflügel mit seiner Kuppel. Einige Augenblicke lang konnte sie sich beinahe einreden, es hätte keinen Krieg gegeben. Die zunehmende Dunkelheit verdeckte die leeren Ölfässer, die im Gebüsch entsorgt worden waren, die aufgerissenen und durchnässten Sandsäcke, die sich über die Terrassen verteilten, das zerbrochene Glas.
Im Arbeitszimmer ihres Mannes ging ein Licht an.
In all den Nächten der erzwungenen Verdunkelung und der schrecklichen Angst hatte sie sich danach gesehnt, nach Hause zu ihrem Mann zu kommen, der wohlbehalten an seinem Schreibtisch saß und auf sie wartete. Doch sie zögerte noch eine Weile, stand zitternd neben der bröckelnden Portalsäule, einem Opfer der Armeelastwagen, die fünf Jahre lang ständig durch das beschlagnahmte Anwesen gerollt waren.
Auch im Pförtnerhaus brannte Licht. Sie konnte in die Küche hineinsehen, wo Mrs. Harris an der Spüle stand, mit ihrem Mann an ihrer Seite, der ihr beim Abtrocknen half. Ihr einziger Sohn war nach drei Jahren auf den Nordmeergeleitzügen endlich zurückgekehrt. Aber er fühlte sich sehr schlecht, das hatte Alice' Haushälterin ihr verraten. »Er sitzt nur vor dem Feuer und klagt, dass ihm nicht warm wird.«
Drei Jahre, dachte Alice. Drei Jahre voller Verzweiflung und Sorgen, die seine Eltern um ihn ausgestanden hatten, drei Jahre, in denen sie ihren zum Mann heranwachsenden Jungen vermisst, in denen sie sich nach ihm verzehrt hatten, und nun . Sie hielt mitten im Gedanken inne.
Am selben Morgen hatte sie in der Times Bilder von Dutzenden aufgefundener Kinder gesehen, Waisen mit glasigen und hungrigen Augen in einem Kloster in Frankreich, und in dem Moment, in dem sie daran dachte, wie es sich wohl anfühlen musste, seinen Ehemann oder sein Kind oder sein Zuhause zu verlieren, wurde sie von einem intensiven, beinahe unerträglichen Gefühl des Elends gepackt. Ich muss nach Hause zu meinem Mann, mahnte sie sich selbst. Ich muss mich beeilen.
Dann beobachtete sie durch das Fenster, wie Mrs. Harris die Hand vor die Augen hob, als wollte sie eine Träne wegwischen. Und beim Anblick dieses Kummers verharrte Alice. Sie konnte sehen, wie Mr. Harris das Geschirrtuch ablegte und die Hände seiner Frau aus dem Waschbecken nahm. Nacheinander trocknete er sie ganz langsam ab. Alice stand vollkommen still und verfolgte fasziniert, wie er den gesenkten Kopf seiner Frau anhob und seine Lippen auf ihre drückte.
Abrupt wich Alice zurück. Sie wollte nicht über die Zärtlichkeit dieser Geste nachdenken. Ein Zweig knackte unter ihrem Fuß. Ein Reh bellte. Im Gebüsch rührte sich etwas. Ein Sturm zog auf. Heute Nacht würden noch mehr Ziegel vom Dach fliegen.
»Denk an meine Worte«, hatte ihr Vater bei ihrer Hochzeit gesagt. »An der Küste von Suffolk wirst du erfrieren. Dort ist nichts mehr zwischen dir und dem Ural.«
Sie drehte sich um, um den Wind in sich aufzunehmen, füllte ihre Lunge mit der kilometerlangen Weite jenseits der Felder und Deiche, die sich über die stürmische graue See erstreckte, über riesige Seen und Wälder, bis nach Sibirien, und dann ertönte unten am Haus ein Schrei, wie das Schluchzen eines verzweifelten Kindes.
Dieser Schrei war der eines Hasen und sie wusste genau, welches Drama sich dort unten abspielte. In der vorigen Nacht, als sie nicht schlafen konnte, hatte sie drei Fuchswelpen beobachtet, die mit ihrer Mutter über den Rasen tobten. Alle mussten fressen und sich von einem anderen Lebewesen ernähren. Sie verdrängte die Vorstellung von einem jungen Häschen - leichte Beute - in den Fängen einer Füchsin. So war eben die Natur, redete sie sich ein, schön und grausam. Dann sah sie zu ihrem Erstaunen, wie sich das Fenster des Arbeitszimmers ihres Mannes öffnete und Stephen über die Fensterbank kletterte, hinuntersprang und über den Kies sprintete.
Seit seiner Rückkehr hatte er sich von Stunde zu Stunde gequält und kaum die Kraft zum Sprechen aufgebracht, geschweige denn dazu, aus dem Fenster zu springen. Jetzt stürmte er in die...
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