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Bei mir hing vieles am Großvater, dem legendären. Der Vater war im Krieg, sechs Jahre lang, und hat ihn heil überstanden, mit viel Glück. Nach einigen Monaten als Artillerist an der Kanalküste war er als Physiker beim Wetterdienst eingesetzt, hinter der Front oder mit dem Messen von Daten im Flugzeug beschäftigt. Es startete einmal zufällig ohne ihn und wurde abgeschossen. Als die Bombennächte in München zu bedrohlich wurden, beschloss die Familie, in den Bauernhof bei Reit im Winkl umzuziehen, den der Großvater 1932 gekauft hatte.
Dieser Vater meiner Mutter war ein bemerkenswerter Mann. Er wurde 1879 in Passau als Sohn eines Amtsrichters und der Tochter des Hotelier-Ehepaars Niederleuthner geboren. Nach einer steilen Karriere als Jurist in der Ministerialbürokratie avancierte er im Juni 1919 zum Staatsminister für Handel, Gewerbe und Industrie in Bayern. 1922 wechselte er als Staatssekretär in die Reichskanzlei, 1924 amtierte er als Reichswirtschaftsminister. Auch nachdem er anschließend Geschäftsführender Vorstand des Deutschen Industrie- und Handelstages geworden war, spielte er noch eine gewisse Rolle in der Innen-, Wirtschafts- und Handelspolitik der Weimarer Republik. Nach der Machtübertragung an Hitler sah er sich im Mai 1933 zum Rücktritt gezwungen. Als scharfer Kritiker des Nationalsozialismus schloss er sich 1934 dem oppositionellen Kreis um den ehemaligen bayerischen Generalstabsoffiziers Franz Sperr an. Diese liberal-konservative, bürgerliche Gruppierung arbeitete seit 1939 und verstärkt seit 1943 am Aufbau einer "Auffangorganisation" für den Fall des erhofften Endes der NS-Diktatur. Dabei trat sie auch in Kontakt mit dem "Kreisauer Kreis" um James Helmuth Graf Moltke und mit dem Attentäter vom 20. Juli 1944, Graf Schenk zu Stauffenberg.
Am 13. November 1944, drei Tage nach meiner Geburt, schrieb meine Mutter aus dem Krankenhaus Reit im Winkl folgenden Brief an Theodor Heuss, den späteren ersten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, mit dem ihr Vater politisch und persönlich befreundet gewesen war:
"Sehr verehrter lieber Herr Heuss! Aus der Tatsache, dass vor ein paar Tagen eine weitere Sendung von Ihnen an den Vater gekommen ist, entnehme ich, dass Sie noch nicht wissen, was bei uns geschehen ist.
Im Auftrag der Mutter, die sich zum Schreiben noch nicht recht aufraffen kann, teile ich Ihnen doch das Wesentliche kurz mit: am 2. Sept. wurde der Vater innerhalb kürzester Zeit vom Hof weggeholt und, wie wir später erfuhren nach Berlin gebracht. Wir blieben bis Mitte Oktober ohne Nachricht über sein Ergehen. Schließlich fragte ein jüngerer Bruder des Vaters, der als Kapitän z.S. nicht eher von Holland abkommen konnte, in Berlin persönlich nach, und erhielt den Bescheid, der Vater habe sich nach 3 Wochen [.] Haft im Sept. das Leben genommen. Wir selbst sind bis heute ohne jede Nachricht. Es ist [für] uns sehr schwer, das Ganze zu verstehen. Schreiben kann man ja nicht darüber. Mir persönlich hilft nur der absolute Glaube an den Vater darüber weg [.].
Ihre Dr. Gertrud Hardtwig-Hamm"
Der Großvater hatte sich während eines Verhörs aus dem dritten Stock einer Gestapo-Dependence des Gefängnisses Lehrter Straße aus dem Fenster gestürzt - so jedenfalls die bis heute nicht abschließend verifizierte Lesart des zuständigen Gestapomannes gegenüber meinem Großonkel Max. Wahrscheinlich hatte er befürchtet, den Verhör-Methoden bei der Forderung nach Preisgabe der Namen von Mitverschworenen nicht mehr standhalten zu können. Urne und Uhr wurden der Familie einige Wochen später per Post zugestellt.
Das Schicksal des Großvaters und die Trauer um ihn lasteten auf der Familie wie ein Albtraum, zunächst als Verlust, später als Mythos. Die Großmutter lebte noch elf Jahre; ich sah sie, solange sie morgens noch aufstehen konnte, nie anders als in tiefem Schwarz. Der Vater, von den Amerikanern interniert, kam im Sommer 1945 im nahen Bad Aibling auf eine nicht ganz legale Weise frei und wanderte, zur Tarnung mit einer gestohlenen Schaufel über der Schulter, auf direktem Weg über die Berge nach Reit. Seine Berufslaufbahn konnte er nur in einer Universitätsstadt fortsetzen. Die Mutter kümmerte sich um mich und meine knapp zwei Jahre ältere Schwester und pflegte fünf Jahre lang die Großmutter, nachdem diese schwer krank und nach mehreren Operationen bettlägerig geworden war. Nach dem Tod ihrer Mutter im März 1955 geriet sie in eine tiefe Erschöpfung, der Arzt verschrieb ihr einen dreiwöchigen Erholungsurlaub im Berchtesgadener Land, die erste Ruhepause in diesem Leben seit dem Ausbruch des Krieges. Jetzt hätte Normalität einkehren können, und das tat es auch ein Stück weit, aber die Lebensumstände der Familie blieben doch einigermaßen ungewöhnlich.
Der Hof in Reit im Winkl war nunmehr der Hauptwohnsitz der Familie. In den turbulenten und materiell schwierigen Nachkriegsjahren bot er eine gediegene Bleibe und ermöglichte den Kindern das Aufwachsen in einer ruhigen und landschaftlich ungemein reizvollen Umgebung. Vater und Mutter hatten beruflich keinen dringenden Anlass, in die Stadt zurückzuziehen. Die Mutter, Studienrätin für Englisch und Französisch, hatte ihre Berufslaufbahn mit der Geburt der Kinder für lange Zeit aufgegeben. Der Vater hatte sich noch als Wehrmachtsoffizier kurz vor Kriegsende an der Technischen Hochschule Stuttgart als Physiker habilitiert, stand aber als österreichischer Newcomer in Deutschland nach Kriegsende ohne akademischen Anschluss da und lehrte - anfangs noch fundiert mit einem Industrieauftrag, später so gut wie ohne Einkommen - als Privatdozent zuerst in Stuttgart und dann an der LMU München Geophysik. Während der Woche wohnte er, zusammen mit zwei oder drei Untermietern, in der großbürgerlichen Wohnung, die der Großvater 1936 in der Münchner Friedrichstraße gemietet hatte, und unternahm meist nur an den Wochenenden, in den Nachkriegsjahren noch ohne Auto, die aufwändige, mehr als vierstündige Reise zu seiner Familie. Man konnte dieses Leben in den prekären Nachkriegsverhältnissen als passabel betrachten, wären da nicht der Schatten gewesen, der das tragische Ende des Großvaters über die Familie warf, sowie die finanzielle Krisenlage, die, je länger desto mehr, die Familienharmonie bedrohte.
Der Baierhof mit Geigelstein
Der Reit im Winkler Bauernhof bot Platz für zwei fünfköpfige Familien. Die meine bewohnte die eine Hälfte, in der anderen, jenseits des Flurs, lebte die Familie der Baumeister - so nannte man damals den bäuerlichen Wirtschafter, der nicht in einem Pacht-, sondern in einem Lohnverhältnis die Landwirtschaft betrieb. 1947 bis zu ihrer Heirat 1951 betrieb die jüngere Schwester meiner Mutter, Tante Fride, die eine landwirtschaftliche Ausbildung durchlaufen hatte, zusammen mit einer Freundin und einem Knecht die Bauernwirtschaft.
Das Leben auf dem Hof stellt sich für mich heute überwiegend als ein großes Abenteuer dar. Es bot manche Härten, aber auch das Aufwachsen in einer Erlebniswelt, die heute sehr fern und fast exotisch anmutet, aber tiefe Eindrücke in meiner Erinnerung hinterlassen hat.
Baierhof (links) und Widhölzlhof (rechts) mit Kaisergebirge
Von ihr zu erzählen, erscheint mir auch deshalb sinnvoll, weil diese Welt inzwischen so gut wie vollständig untergegangen ist und - so scheint es mir - manches aus ihr lohnt, festgehalten zu werden.
Erzählen lässt sich auf verschiedene Weise: als bloßer Bericht über die Abfolge von Ereignissen; als breite Schilderung des Lebens und seiner Buntheit; als Gespinst von Reflexionen, die mehr oder weniger fest an zwei Angelpunkten in der Zeit, Anfang und Ende, befestigt sind; schließlich als diskursives Erzählen, das nach Ursachen und Wirkungen fragt. Es gibt den auktorialen Bericht von Erzählern, die vorgeben, das Ganze der erzählten Vergangenheit zu überschauen und die wahren Ursachen und Verflechtungen des Geschehens aus dem Verborgenen freizulegen; es gibt das bewusst perspektivische Erzählen von Autoren, die die Gebundenheit ihrer persönlichen Sicht auf die Vergangenheit literarisch einzuholen wissen; und es gibt die Erzähler, die die Fragmentiertheit ihres Wissens und Berichtens systematisch reflektieren und dieser Fragmentiertheit auch literarische Form geben. In der Realität wird die Erzählung immer eine Kombination aus diesen Idealtypen sein und das Schreiben seine eigene Logik entwickeln.
Der Autor sollte sich der Zugänge, die sich ihm jeweils aufdrängen, bewusst sein. Rein auktoriales Erzählen verbietet sich beim Niederschreiben von Erinnerungsskizzen von selbst, da sich der Autor der Verlässlichkeit seines Gedächtnisses nie sicher sein, aber auch aus dem Horizont seiner aktuellen Selbstbewusstheit und seines heutigen Wissens über die damaligen Vorgänge nicht herausspringen kann. Ein...
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