Schweitzer Fachinformationen
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Ostpreußen ist gestorben. Land der dunklen Wälder und der kristall'nen Seen. 1933 unheilbar erkrankt. Land der Bauern und der Fischer. Und die Meere rauschen den Choral der Zeit. Die Symptome ignoriert. Land der Ordensburgen und Ritterschlösser. Elche stehen und lauschen in die Ewigkeit. 1939 dem Untergang geweiht. Land des Pferdes, Kornkammer des Reiches. Land des endlosen Kampfes zwischen Ost und West. 1944 in Trümmern versunken, 1945 nicht mehr aufgestanden. Land der Opferplätze und der heiligen Haine, umschlossen von Memel und Weichsel. Königsberg, Stadt der Klopse, des Marzipans und der reinen Vernunft, dem Erdboden gleichgemacht, alles Leben ausgelöscht. Vergessenes, fernes Land.
Ursula Dorn wird am 19. April 1935 als erstes Kind ihrer Eltern Fritz und Martha Buttgereit in Königsberg geboren. Ostpreußens Hauptstadt am Fluss Pregel, der sieben Kilometer hinter Königsberg ins Frische Haff der Ostsee mündet, blickt zu diesem Zeitpunkt auf eine fast 700-jährige bewegte Geschichte zurück. 1255 als Trutzburg des Deutschen Ordens zwischen endlosen Seen und Mooren erbaut, entwickelt sich aus der mittelalterlichen Hansestadt, die Berühmtheit erlangt für ihre erlesene Goldschmiede- und Bernsteinkunst, ab 1457 die Residenz der Hochmeister des Deutschritterordens. Später ist Königsberg Hauptsitz der preußischen Herzöge von Hohenzollern und ab 1724 die königliche Haupt- und Residenzstadt des Staates Preußen. Im selben Jahr kommt ihr wohl angesehenster Sohn zur Welt: Immanuel Kant, der mit anderen Philosophen und Aufklärern wesentlich zum Ruf der Stadt als geistiges Zentrum beiträgt, das weit über die deutschen Grenzen hinaus strahlt. Nach Kants Hauptwerk wird Königsberg fortan auch als »Stadt der reinen Vernunft« bezeichnet. Ab 1815 bildet Königsberg die Hauptstadt sowie die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Mitte der Provinz Ostpreußen und gilt als Hochburg des Liberalismus. Bei Reichsgründung 1871 zählt die Soldaten- und Garnisonsstadt, die an ihren Außenbezirken durch massive Festungsbauten charakteristisch geprägt ist, 110 000 Bürger. Durch großflächige Eingemeindungen steigt die Einwohnerzahl bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 auf 250 000 an. Bei der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 ist die Bevölkerung der durch Gebietsabtretungen nach dem Versailler Vertrag zur deutschen Enklave geformten Stadt noch einmal auf 316 000 Bürger angewachsen, die logistisch und wirtschaftlich mit dem Kern-Reich verbunden bleiben wollen. Um den entstandenen sogenannten polnischen Korridor zu umgehen, der seit 1919 Ostpreußen vom restlichen Deutschland abtrennt und zu einem ernsten Streitfall zwischen den Regierungen Deutschlands und Polens wird, verkehrt von 1922 bis 1939 der Seedienst Ostpreußen. Passagier- und Frachtschiffe fahren rege zwischen Königsberg und westdeutschen Häfen wie Swinemünde, Travemünde und Kiel hin und her. Herz der Wirtschaft und Sitz der Börse ist der Königsberger Hafen, wo See- und Flussschifffahrt aufeinandertreffen. Während vor dem prachtvollen Hintergrund des hohen Schlosses die Ufer der schmalen Kais des Innenhafens gesäumt sind mit malerischen Fachwerkhausfassaden, ragen rund um den Außenhafen mit lebhaftem Dampfschiffverkehr riesenhafte Lagerhäuser, Kräne und Kornspeicher hervor.
Schon wenige Stunden nachdem Ursula im katholischen Krankenhaus Katharinenstift im Stadtteil Haberberg das Licht Königsbergs erblickt, nimmt sie die Mutter mit zum Magnet der Stadt - zum Hafen. Für den Wohnkahn Hans, der ihrem Großvater, dem selbstständigen 75-jährigen Haff-Schiffer Theodor Ferdinand Haffke und seiner Frau Emma gehört, bleibt keine Zeit, länger auf dem Festland zu verweilen. Das tonnenschwere Schiff liegt voll beladen mit Getreide, Kohle, Holz und Ziegeln am Frachthafen und muss auslaufen, um die Waren pünktlich über die Binnenwasserstraßen, die Königsberg mit dem zentraldeutschen Kanalnetz verbinden, zu ihren Zielhäfen zu transportieren.
Bis zu ihrem sechsten Lebensjahr wächst Ursula hier auf dem Schleppkahn mit ihren drei jüngeren Geschwistern auf. Während der gemächlichen Fahrt übers Wasser tobt sie mit ihren beiden Brüdern Heinz und Fritz zwischen den Ladeluken herum und lässt sich den frischen Wind, der vom Kurischen Haff kommend über die sandigen Dünen der Nehrung und die grünen Felder des Samlandes bläst, durch die blond gelockten Haare wehen. Am liebsten liegt Ursula vor Anker in Königsberg und beobachtet das geschäftige Treiben auf der Kneiphofschen Insel, dem Zentrum der Altstadt, die von den Einwohnern nur liebevoll »die Pracht« genannt wird. Oder sie sieht den krakeelenden Frauen mit Kopftuch und schwarzer Strickjacke auf dem Fischmarkt zu, die ihre aufgebahrten Dorsche, Flundern und Aale feilbieten und aufdringliche Möwen mit ihren Besen von den Ständen verjagen. Ursula riecht den frischen Duft des Heus, das sich mit dem süßlichen Geruch schweißnasser Pferde mischt; sie ziehen die hohen Wagen mit den Getreidesäcken durch schmale Gassen zu den Altstadtspeichern in den turmhohen Fachwerkhäusern.
Wenn sich die Familie längere Zeit an Land aufhält, verdingt sich Ursulas Vater als Hafenarbeiter und füllt die großen Mehlsilos am Hafen auf. Seine zwei ältesten Kinder Ursula und Heinz nimmt er gerne auf dem Lkw mit, wenn er die Mühlen der Umgebung ansteuert. Seine knappe Freizeit widmet der 1906 geborene Fritz Buttgereit vor allem den Kindern. Ursula bringt er mit drei Jahren schon vom Kahn aus das Schwimmen bei, indem er sie in einem an einen Haken gebundenen Rettungsring zu Wasser lässt, damit sie so über die seichten Wellen gleiten kann.
Wie im gesamten Deutschen Reich begünstigt auch in Ostpreußen die wirtschaftliche Notlage den Aufstieg des Nationalsozialismus. Im Jahr 1932 leben ein Viertel aller Einwohner von öffentlicher Unterstützung. Über 100 000 Menschen sind arbeitslos. Wie überall im Reich werden nach der Machtergreifung sämtliche Organe der politischen Gegner zerschlagen. Der Staatsapparat wird gleichgeschaltet, und antisemitische Gesetze werden umgesetzt. Wie jede deutsche Stadt profitiert Königsberg vom wirtschaftlichen Aufschwung bedingt durch die Nationalsozialisten. Der seit 1928 als Gauleiter der NSDAP in Ostpreußen fungierende und von der Propaganda als »Vater der Provinz« inszenierte Erich Koch schafft es, durch großspurig von Hitler initiierte staatliche Gewerbeförderungen die Arbeitslosenzahl in seinem Gau innerhalb von drei Jahren auf 18 200 im Jahr 1936 zu reduzieren. Ganz nebenbei häuft der ehemalige Eisenbahnarbeiter aus dem Rheinland sein Privatvermögen über eine nach ihm benannte, vermeintlich gemeinnützige Stiftung auf Millionenhöhe an. Schleichend wird am Ostseehafen auf Kriegswirtschaft umgestellt. Am ehesten zu bemerken ist das für die Königsberger an der massiven Truppenverschiebung in ihre Stadt und an der Vollbeschäftigung der Schichau-Schiffswerft, wo U-Boote instand gesetzt und Minensuchboote gebaut werden. Mit dem Stellungsbau des sogenannten Heilsberger Dreiecks legt sich die Wehrmacht in einem ausgedehnten 40 bis 70 Kilometer breiten Halbkreis auf insgesamt 200 Kilometer Länge zwischen Kurischem Haff und Frischem Haff außerdem einen Festungsgürtel mit über 800 Gefechtsbunkern an. Letztendlich wird Ostpreußen zum Aufmarschgebiet für den Angriff auf Polen aufgerüstet und Königsberg als Nachschubhafen flottgemacht.
Nachdem im September 1938 ihr Opa Theodor Ferdinand gestorben, ein Jahr später der Krieg ausgebrochen ist und ihr Vater seit Frühjahr 1940 als Soldat in Frankreich kämpft, übernehmen die beiden Onkel von Ursula zunehmend die Geschäfte auf den zwei Schleppkähnen der Familie Buttgereit. Mutter Martha, die im November 1939 ihr viertes Kind - Erika - zur Welt bringt, und Oma Emma orientieren sich um; sie beschließen, an Land sesshaft zu werden, und beenden im Sommer 1941 endgültig das Leben auf dem Wasser. Während Ursula, die im selben Jahr eingeschult wird, mit ihrer Mutter und den drei Geschwistern eine Etagenwohnung an der Vorstädtischen Langgasse Nummer 139 bezieht, bevorzugt Emma Haffke ein ruhiges Leben in einer Schrebergartensiedlung am Contiener Weg. Auf dem weitläufigen Areal zwischen Schichau-Werft und Berliner Straße, das von dem kleinen Flüsschen Beek durchflossen wird, erwirbt die Großmutter eine bescheidene hölzerne Wohnlaube mit Garten. In den meisten Baracken der ärmlichen Siedlung leben Arbeiter der Werft, auch ein Obdachlosenasyl und Lagerräume des Heereszeugamtes sind hier untergebracht. Bewohnbare Gartenanlagen sind beliebt und zahlreich in und an den Randbezirken von Königsberg. Martha mietet ebenfalls eine einfache Laube in einer Heimgartenanlage, die in der Nähe ihrer neuen Wohnung liegt und in der seit Kriegsbeginn junge deutsche Soldaten Quartier bezogen haben. Was Ursula zu diesem Zeitpunkt nicht weiß und nicht ahnt, ist, dass ihre Mutter sich mehr zu den adretten Armeeangehörigen hingezogen fühlt als zu ihren...
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