Schweitzer Fachinformationen
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Eine Familie zerrieben zwischen den Fronten, zerrissen durch die Grenze, verbunden durch die Liebe
Sommer 1987, in einer Hinterhauswohnung in Prenzlauer Berg: Die achtjährige Ella wohnt mit ihren beiden kleinen Brüdern, den Eltern und Großeltern nah an der Grenze, doch davon bekommt sie wenig mit. Ihr Leben besteht aus orangenen Ziehbadewannen, Sommertagen an der Datsche und Balkonen, die von Häusern fallen. Bis ein Urlaub an der ungarisch-österreichischen Grenze ihrer Kindheit ein jähes Ende setzt und die Familie für immer zerreißt.
Zwanzig Jahre später führt das Tagebuch ihrer Mutter Ella zurück nach Berlin. Mithilfe der Notizen und Akten aus dem Stasiarchiv versucht sie zu rekonstruieren, warum die Flucht damals so verheerend gescheitert ist. Und was mit ihrem kleinen Bruder Heiko geschehen ist, den sie in all den Jahren niemals vergessen hat.
Schmerzlich schön erzählt Unser geteilter Sommer von Sehnsucht und Verlust und davon, was eine Familie im Kern zusammenhält.
Berlin 2010
AARON MOCHTE DAS GEFÜHL von zerhäckseltem Papier. Leicht, fast ohne Gewicht, und weich, wenn man nicht gerade die Hand zu schnell aus dem Sack zog und sich dabei schnitt. Eine dünne rote Linie auf seiner linken Hand hatte er davon und zwei weitere auf der rechten. Er trug sie mit Stolz: der Wissenschaftler als Krieger. An seinem Schreibtisch konnte er das Summen der Scanner nebenan hören, die plötzliche Stille eines Papierstaus, dann das Fluchen von Bernd bei einem weiteren Neustart.
Auf der Fensterbank hatte er einige hübsche Stempel aufgereiht, angefangen beim ebenso kurzen und bündigen wie befriedigenden »Erledigt«, mit dem er die fertigen Stapel markierte, bis hin zu jenem mit dem entzückend langen Namen seines Arbeitgebers: »Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU)«. Manche kürzten es auch ab mit »Die Behörde« oder »Das Stasiarchiv«, aber für Aaron und seinen engsten Kollegenkreis war es immer einfach nur Das Archiv.
Er war der einzige ausländische Mitarbeiter, was ihm zunächst einiges an Misstrauen und Skepsis eingetragen hatte. Es kam vor, dass jemand offen bezweifelte, dass sein Deutsch überhaupt gut genug sei für diese Arbeit an komplexen historischen Dokumenten. Hin und wieder passierte es, dass ihn jemand unterbrach und einen Fall oder ein Pronomen korrigierte. Es half jedoch, dass er an seiner Promotion arbeitete. Akademische Titel hatten hier einen Wert, die Menschen hatten großen Respekt davor, und schon die bloße Erwähnung eines vagen Vorhabens in diese Richtung konnte die eigene Position deutlich verbessern. Noch wichtiger war vielleicht, dass er aufgrund seiner Doktorarbeit über archivarische Rekonstruktionen im Nachwendedeutschland schon mit einem soliden Wissen über den Stasijargon in Berlin angekommen war, diese Mischung aus kryptischen Abkürzungen, langen Monsterwörtern und beschönigenden Umschreibungen. Seinen Durchbruch in Sachen sozialer Akzeptanz verdankte er dem Scherz eines anderen Praktikanten, der ihn zur Klärung eines Sachverhaltes zum Mitkommen aufforderte, was er korrekt als Stasiwitz einordnen konnte; es war die Standardphrase bei Festnahmen gewesen.
Mittlerweile bescherte ihm sein Status als Ausländer sogar eine privilegierte Position. Bei Diskussionen zwischen älteren und jüngeren Archivaren, zwischen Ost- und Westdeutschen, Berlinern und Provinzlern fiel ihm oft eine Vermittlerrolle zu: »Du als Engländer, was meinst du denn zu .«, sagte dann jemand, oder: »Aaron, als jemand von der Insel, würdest du sagen, dass .«, bevor ihm eine Debatte über Wolfsjagd oder staatliche Kinderbetreuung oder irgendein anderes Thema unterbreitet wurde, das zu beurteilen ihm niemals einfallen würde.
Vorsichtig zog Aaron ein Knäuel von Papierstreifen aus dem Sack neben seinem Schreibtisch und breitete sie auf der weißen Fläche aus.
Aktuelle Sachlage in den Be-
Wie angenehm. Ein Satzanfang war wie das Eckteil bei einem Puzzle, es erleichterte, den Rest zusammenzufügen, und die Chancen standen gut, dass er bis zum Mittag das gesamte Dokument fertig haben könnte. Vom restlichen Satz war so etwas zu erwarten wie ». Sachlage in der Betriebsgewerkschaftsleitung« oder ». Sachlage in den Berufsschulen«.
Anfangs waren ihm all die ineinander verhedderten Papierstreifen als unauflösbares Gewirr aus halb zerstörtem Beweismaterial erschienen, Millionen von Puzzleteilen, unwiederbringlich verteilt auf Tausende brauner Papiertüten, aber mittlerweile konnte er ein verdecktes Muster ausmachen. Man konnte eine Handvoll herausfischen und sich einigermaßen sicher sein, dass alles zum selben Dokument gehörte, zu einem Brief an einen Minister vielleicht, zum handschriftlichen Loyalitätsversprechen eines neu rekrutierten IM oder zu der Abschrift eines Verhörs. Das Archiv befand sich im ehemaligen Hauptquartier der Stasi, einem kommunistischen Mordor aus brutalistischen Büroblocks und ausladenden grauen Innenhöfen. Den zentralen Teil mit seinem liebevoll erhaltenen alten Dekor hatte man zu einem Museum gemacht, ein Traum an Fünfzigerjahre-Raumausstattung mit orangefarbenen Lampen, olivgrünen Sesseln, weißen Bakelit-Telefonen, braunen Glaslüstern und dunklem Parkettboden. Aus der Perspektive des einundzwanzigsten Jahrhunderts sah alles recht schlicht aus - einfach und dezent -, kein Vergleich mit dem Marmor und den vergoldeten Wasserhähnen anderer Diktaturen. Sogar der fleckige Speiseplan fürs Frühstück von Stasichef Mielke, sorgfältig getippt von einer fleißigen Sekretärin, die bloß nichts vergessen wollte, zeugte mehr von Zielstrebigkeit und Disziplin als von Genuss: zwei Tassen Kaffee, ein Fünfminutenei, zwei Schrippen mit Butter und das frisch gedruckte Neue Deutschland.
Aarons Büro befand sich in einem anderen Gebäudeteil, aus dem sämtliches Altmobiliar entfernt worden war. Mit Ausnahme einiger alter Schreibmaschinen im Keller, die gebraucht wurden, um Schrifttypen zu vergleichen und ab und zu mal ein Ausstellungsplakat zu entwerfen, waren die Räume neu und hell ausgestattet. Wie ein leeres Blatt Papier oder, wie seine Kollegen in der Kantine lästerten, wie reingewaschen. Ein Tisch, ein Regal, zwei Stühle, ein Aktenschrank und ein paar geöffnete Säcke voller Papierschnipsel. Rechts von ihm hatte Bernd sein Büro. Auf der linken Seite lag das überraschend bescheidene Zimmer des Direktors, ein gewichtiger, schwerfälliger Mann namens Herr Dr. Licht, der stets etwas mitgenommen wirkte. Darin sah es aus wie in Aarons Londoner Arbeitszimmer, klein und vollgestellt, aber tatsächlich sah er Dr. Licht dort nie. Immer war er im Dokumentenkeller verschwunden, auf Reisen oder sprach in irgendeinem Ministerium wegen der Finanzierung vor.
Von seinem Fenster konnte Aaron einen weiteren Innenhof, eine befahrene Straße und die trostlosen Plattenbauten dahinter sehen. Oft dachte er an den Stasibeamten, der hier gesessen und seine Berichte getippt, aus diesem Fenster auf die Plattenbauten gestarrt und vielleicht von einer vorübergehenden Versetzung nach Moskau oder wenigstens einem außerplanmäßigen Wochenende in Bulgarien geträumt hatte. Und dann, als die wütende Menge das Gelände gestürmt und sich Zugang zum Gebäude verschafft hatte, verbarrikadierte sich dieser Mann mithilfe des Schreibtisches in seinem Zimmer und begann, alle Akten durch den Reißwolf zu jagen. Vielleicht war er aber auch über den Flur zu seinem Chef gerannt, um sich Anweisungen zu holen, was nun zu tun sei, wobei seine Stimme gegen den Krach von zerbrechendem Glas anschreien musste. Oder die Aktenvernichter waren da bereits heiß gelaufen, und er musste seine Papiere per Hand zerfetzen und fertig zum Verbrennen in Papiersäcke stopfen. Allerdings war es für all das zu spät: Die Menge war bereits auf dem Weg zu ihm nach oben, und der Mann aus dem Bürozimmer ließ alles stehen und liegen und floh über den Notausgang nach draußen. Zurück blieben Säcke voll zerschnittener Akten, die Aaron Jahrzehnte später zusammenbasteln würde.
Aaron wühlte durch die Schnipsel, bis er das nächste Teilchen fand:
-zirksverwaltungen.
»Bingo!« Er legte die beiden Streifen am oberen Ende seines Schreibtischs nebeneinander und pfiff fröhlich vor sich hin. Nebenan kam das Summen wieder zum Stillstand. Aaron hörte einen neuerlichen Fluchanfall. Sie hatten einen Wettkampf am Laufen, wer pro Tag mehr Seiten rekonstruieren könnte, Bernd nebenan mit seinen Scannern und seinen Algorithmen oder Aaron mit seinen Augen und Händen. Es sah gut aus für ihn: Die zerhäckselte Seite setzte sich auf seinem Schreibtisch recht zügig zusammen. Streifen für Streifen löste sich das aus Papierfetzen bestehende Knäuel auf, zertrennte Wörter und Zeilen fanden zueinander, ein verw- wurde mit einem -eigern wiedervereinigt, und die untere Hälfte von Karl-Marx-Stadt fand die obere. Menschen und Gebäude kamen zum Vorschein, die anschwellenden Rufe einer Menschenmenge, das Geräusch schneller Schritte auf einem Flur, splitterndes Glas, eingetretene Türen. Das Klappern der Schreibmaschinen, mit denen die Spione ihren eigenen Untergang dokumentierten:
7. 12. 1989
Aktuelle Sachlage in den Bezirksverwaltungen:
Bezirk Suhl: Personal entlassen; 2-3 leitende Beamte werden dringend benötigt.
Bezirk Erfurt: Demonstration mit 40 000 Teilnehmern nähert sich dem Gebäude; Wachposten verweigern den Schutz des Personals.
Bezirk Karl-Marx-Stadt: Verwaltungsleiter krankgemeldet. Kein Ersatz verfügbar.
Bezirk Schwerin: Verwaltungsdirektor von seinen Pflichten entlassen und unter Hausarrest gestellt; Stellvertretung nicht erreichbar.
Bezirk Leipzig: Verwaltung eingenommen.
»Verwaltung eingenommen«. Aaron seufzte. Diese Berichte der Stasi über ihren Niedergang hatten etwas Erbärmliches. Sie waren voller Fehler und leerer Zeilen, und aus ihnen tropfte die verängstigte Resignation von Leuten, die wussten, dass alles vorbei war, und die dennoch nicht aufhören konnten, in ihre Schreibmaschinen zu hämmern.
Aaron ergänzte die letzten Teile. Ganz am Schluss wandte sich der Text gegen sich selbst und ordnete seine eigene Vernichtung an:
Zur Geheimhaltung von Einzelhei- und Aufgaben empfehlen wir die vollstän- Vernichtung operativer Protoko- und Akten.
»Fertig!« Mit einem kräftigen Ruck stieß Aaron sich von seinem Tisch weg, rollte quer durchs Zimmer und vollführte eine kleine Drehung mit seinem Stuhl. Er stellte den Bericht in die Datenbank ein. Bei einer Personenakte lohnte es sich immer nachzusehen, ob...
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